Zur Deduktion der Zeit – WLnm 4. Teil

Der Stoff für den freien Willen bzw. das Objekt der Entwerfung des Zweckbegriffs war dem tätigen Ich bis Ende des § 12 vorgegeben in den Begriffen des Gefühls (§ 5; S 62) bzw. im Begriff des Triebes (S 64).
Dem Gefühl bzw. Trieb musste
notwendig ein ganzes System der Sensibilität und des Leibes zugrunde gelegt werden, damit ein einzelnes Gefühl (bzw. ein einzelner Trieb) als solches (als solcher) bestimmt werden konnte (S 66).

Es ergab sich für die praktische Wirksamkeit des Ichs die Notwendigkeit, ein eigenes Prinzip zu denken, das bereits in § 7 postuliert wurde, aber durch den REINEN WILLEN in § 12 seine eigentliche Begründung und Rechtfertigung erfahren hat: Dieses Prinzip ist der Begriff der „Kraft“.

Es muß also schon in unserer Natur ein (/) Princip der Veränderung liegen – wie zb. bey den Pflanzen – Thieren – an welchen auch Veränderungen vorgehen. – Ehe ich also mich mit Selbstbestimmung verändern kann, muß ich schon verändert worden seyn.
Es müßte also ein Mittelding, das wir Natur nennen, geben, eine Krafft, Princip thätig zu seyn, dadurch ich mich unabhängig vom meiner Freyheit, ohne Bewußtseyn meiner Selbstbestimmung (sc. konstitutiv) veränderte.“ (§ 7, S 81)

(Diktat von FICHTE: Unser Streben oder unsere Kraftanstrengung ist der Maaßstab für alle Raumbestimmung. Innere oder reine KRAFT ist die unmittelbar u. also intellektuell angeschaute Wirksamkeit des Willens, durch welche das ganze freie Vermögen des Ich sich auf einen Punkt richtet.“ (§ 12, S 123)

Die letzte synthetische Einheit von idealer Tätigkeit (durch den Zweckbegriff immer präsent) und realer Tätigkeit (durch das Wollen oder durch den formal freien Willen präsent) war der reine Wille, der als einsichtiger Grund des Übergehens und des Wollens weder bloß idealistisch entworfen noch bloß realistisch vorausgesetzt werden kann, sondern allem Bewusstsein transzendent! („prädeliberativ“) vorhergehen muss, damit er wahrhaft selbstbegründender Grund und Folge einer anderen faktischen Einheit –  des Bewusst-Seins – sein kann.

Die Synthesis des reinen Willens ist selber keine reflexive Synthesis mehr, sondern alle Synthesis des Denkens und Wollens erst ermöglichende Thesis.

Um nur ein Zitat zum REINEN WILLEN zu bringen, Ende des § 12:

[Wlnm §12, 134. 135] „[es gibt kein Übergehen mehr vom Bestimmbaren zum Bestimmten], sondern ein reines wollen […], das die Erkenntniß seines Objekt[s] nicht erst voraussezt sondern gleich bey sich führt, dem kein Objekt gegeben ist, sondern das es sich selbst giebt, das auf keine Berathschlagung [/] sich gründet, sondern das ursprünglich u. reines wollen ist – u. ohne alles zuthun als empirischen Wesen [,] bestimmte[s] wollen, es ist ein Fodern – aus diesem wollen geht alles empirische wollen erst hervor.“.

In der WLnm mag vielleicht über lange Passagen der Eindruck erweckt werden, dass es gar nicht um diese eine formale und materiale Synthesis des Willens geht: Das Ich wird zwar definiert als „in sich zurückgehende Thätigkeit“ (ebd., 33), als Reflexionseinheit. Unmittelbar wird schon in § 1 der WLnm zur Wechselbestimmung von Ich und Nicht-Ich übergegangen; das Ich wird apriorisch aus der Tätigkeit bestimmt, das Nicht-Ich apriorisch aus der Ruhe dieser Tätigkeit bzw. der Sphäre der Bestimmbarkeit (ebd. 36). Das Ich muss sich in seiner Tätigkeit dabei in intellektueller Anschauung anschauen und erfassen können, das Nicht-Ich trägt den apriorischen Charakter der Bestimmbarkeit und des Seins an sich.

In § 2 (GA IV, 2, 40) beginnt dann endgültig die Wechselbestimmung und das Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit und der ganze Subjekt-Objekt Gegensatz wird aufgebaut. Aber keineswegs wird von der Wechselbestimmung selbst ausgegangen. Die sie ermöglichende absolute Einheit begründet alle weitere disjunktive Einheit von Bestimmung und Selbstbestimmung. 1

Es muss dem Gefühl und dem Gefühlten (synthetisch vereinigt) ein intelligibles Gefühl zugrunde liegen (§ 11, S 118), wodurch die Kausalität des Willens in eine stete Reihe und in eine Reihe der Veränderung der Gefühle gleichzeitig! treten kann.

Rein reduktiv gesehen darf die Mannigfaltigkeit der Gefühle die Einheit des Bewusstseins nicht diskretionieren und aufheben. Es muss (umgekehrt) die Einheit des Bewusstseins gerade auch in der vorgegebenen Mannigfaltigkeit der Gefühle erhalten bleiben – und trotzdem sollen die verschiedenen, mannigfaltigen Gefühle als solche vorgegeben bleiben. Es muss eine Kontinuität in und zwischen die Gefühle hineinkommen – bei gleichzeitiger Erhaltung der Mannigfaltigkeit der Gefühle. Wie wird diese Kontinuität erreicht bei Beibehaltung von Verschiedenen?

1) Die Gefühle diskretionieren das Ich und zwingen es hinein eine Apposition, in eine Form des Neben-Einander-Stellens in der Einheit des Bewusstseins. Das Bewusstsein wird appositioniert (einerseits).

2) Aber es bleibt trotzdem in der Einheit und eine Einheit. Die Erhaltung der Einheit des Bewusstseins ist das Prinzip der Kontinuität in der Position der Gefühle aufeinander (andererseits).

Das Bewusstsein muss dabei eine substantielle, apriorische und appositionelle Synthesis sein, damit die Verschiedenheit der Position der Gefühle kontinuierlich aufgefasst werden kann.

Wie kann die Möglichkeit der Kontinuität eingesehen werden, dass

a) eine Reihe von Gefühlen einen stetigen Fluss ergibt, eine stetiges Fortgehen von A zu B zu C usw?

Aber auch b) dass diese appositionelle Synthesis selbst ein Fließen und Übergehen ist und selbst diesen stetigen Fluss konstituiert?

Mit guten Willen könnte man noch sagen, dass die erstere Form (a, das stetige Fortgehen) in der transzendentalen Apperzeption des „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten können muss, festgehalten ist, aber das ist bloß abstrakt gedacht.

FICHTE wird die Frage KANTS, „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“, tiefergehend beantworten: Es muss sich (im praktischen Hinausgehen und Wollen) die Einheit des Bewusstseins über diese Appositionsreihe selbst verteilen und über die Mannigfaltigkeit der Gefühle hinweg ein Nacheinander setzen.

Die Mannigfaltigkeit der Gefühle – nicht bloß die ideale Form des Fortgehens – wird durch die Appositionfähigkeit des Bewusstseins als zusammenhängend gedacht, als reale Reihe der Dependenz (§ 11, S 119).

Es folgen dann die großartigen Ableitungen zur Zeit (§ 12). Es ist nicht die produzierende Einbildungskraft alleine, die die transzendentale Apperzeption eines „Ich denke“, um an KANT anzuknüpfen, in die Zeit hinein dauernd setzt. Die Einbildungskraft macht einerseits die Apperzeption zur dauernden Apperzeption, andererseits substantialisiert sie notwendig die in den Objektbereich fallenden Hemmungen (oder interpersonalen Aufrufe) zur realen Erscheinungszeit. Erscheinungssubjektiv und erscheinungsobjektiv liegt der Zeit eine empfindende! Materie zugrunde, weil ja auf der Ebene der Gefühle und ihrer Verknüpfung gehandelt wird.

Also ist die Zeit sowohl ideal wie real anzusetzen, zumindest in diesem Zusammenhang eines empirischen Bewusstseins. (Wie es in der Notwendigkeit des Denkens einer absoluten Zeit und eines absoluten Raums aussieht, inwieweit sie ideale Schematisierungen der objektivierenden Selbstreflexion sind – das müsste weiter anhand der Wlnm untersucht werden.)

Im Konkreten des fühlenden und gefühlten Ichs entstehen Zeit- und Raum- und Materieerfahrung in einer realen Dependenz und in der Form des übergehenden Willens und der schematisierenden Einbildungskraft.

(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015

——————–

1„Ich soll Grund meines Willens sein, Grund dessen, was ich will, aber das Was und Ist dieses reflexiven Seins, die essentia und die existentia, sind im endlichen Wesen nicht in Einheit, sondern sind hier auseinander. Formaler und materialer Wille sind aber wiederum notwendig in Synthesis. Ein bloßes Auseinander beider gibt es nicht. Diese Synthesis ist hier nun praktisch zu denken, nicht bloß theoretisch! Sie ist nicht faktische Synthesis, sondern eine dynamische, d.h. ein Sich-Formieren des Willens aus beiden Momenten“ – R. LAUTH, Ontologie-Vorlesung.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser