Die Natur des Menschen in der Tiefenpsychologie bei S. Freud – 1. Teil

Die herkömmlichen Deutungen S. Freuds verlaufen etwa in diese Richtung: a) Der Mensch sei in seiner psychischen Natur determiniert durch die Versagungen in der frühen Kindheit; b) weiters sei er durch ein biologistisches Libidokonzept bestimmt. Wo der Trieb und die im letzten sexuelle Lust keine Befriedigung finden, wirken sie destruktiv; c) die menschlichen Krankheiten seien Regressionen und weisen kein Potential einer positiven, lebensbejahenden Kraft auf.

Unser ganzes Verhalten und Denken, unsere Kultur und unsere Sublimierungen, sie sind letztlich rein auf bio-physische und evolutionäre und historische Grundprozesse zurückzuführen.

Alfred Adler und Carl Gustav Jung haben S. FREUD bereits zu Lebzeiten widersprochen, weil sie andere Teile des Trieblebens vermissten. Interessant ist, dass selbst S. FREUD durchaus andere Interpretationen zulässt, wie W. Pieringer zu meinem Erstaunen ausgeführt hat.
Interpretierte ich zu Unrecht S. Freuds Psychoanalyse nur reduktionistisch d. h. seine ganze Theorie vom Unbewussten (und Bewussten) zurückbezogen und begründet auf naturale Erklärungen biophysischer und biochemischer Vorgänge und Reize?

Ich beziehe mich zuerst auf einen Artikel von Prof. Primarius Walter Pieringer, Die Natur des Menschen in der Tiefenpsychologie, in: Dimensionen der Psyche. Bewusstes und Unbewusstes, Hrsg. v. R. Kögerler und H. G. Zapatocky, Forum St. Stephan Wien 1990, 91 – 104.

1) S. FREUD geht – so die Charakteristik v. W. Pieringer – von einem dualistischen Konzept einer Leib-Seele-Trennung aus, doch ist damit lange nicht gesagt, dass das Ich des Menschen den physiologisch-biologischen Mechanismen und evolutionären Entwicklungsgesetzen machtlos und determiniert gegenüberstehen müsse. W. Pieringer bringt Zitate von S. Freud, in denen dieser durchblicken lässt, dass er neben reduktionistischen Erklärungen z. B. von Zwangshandlungen, auch symbolische, die  physiologischen und biologischen Abläufe transzendierende Erklärungen, zulässt. S. FREUD verfalle zwar gut und gerne einem Reduktionismus in der letzten Erklärung psychischer Phänomene, d. h. dass alles Bewusste und Unbewusste naturalistischen Ursprungs ist, aber manchmal ist eine teleologische, den naturkausalen Ablauf transzendierende Sinn- und Zweckerklärung nicht zu übersehen! (Genauere Belege siehe dort bei W. Pieringer). Ein Triebverzicht z. B. sei nicht nur negativ zu bestimmen, als übe er nur einen Zwang aus gegen das biologische Streben des Menschen, sondern hat durchaus eine transzendierende, konstitutive Bedeutung für Geist und Kultur und vielfältige lebenserhaltende Resultate.  

Das Thema des Ödipuskomplexes muss nicht auf die negative Bewertung der Mordtat beschränkt bleiben, es kann durchaus ein sinnvolles Opfer geben.

Ebenso hat das Phänomen der „Wiederholungen“ durchaus lebensfördernde Ziele. Sie sind notwendige Grundlagen des Einlernens und Behaltens. Die Begriffe wie Aggression, Liebe und Ethik im Aufsatz „Unbehagen an der Kultur“ müssen nicht alles naturkausal verstanden werden, als sei überall nur Triebunterdrückung der Aggression und der Sexualität im Spiele, sondern durchaus können diese Triebkräfte eine weiterführende, über die sinnliche Natur hinausgehende Funktion und teleologische Zweckhaftigkeit haben. Der Triebverzicht im „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ lässt ebenfalls eine frei sich bestimmende Reflexion des Ichs zu, sodass keineswegs die Triebregungen aus dem „Unbewussten“ und die Vorschriften des Über-Ichs die Religion erzeugen und deren Kompensationen.

2) W. Pieringer zeichnet im Anschluss und in Parallele zur Tiefenpsychologie S. FREUDS eine, ich möchte sagen, vernunftorientierte, transzendierende Naturkonzeption nach,  die nach einer, das ganze Wesen des Menschen umfassenden Realisation von Sinn- und Werterfahrung strebt. Er beruft sich dabei auf Erkenntnisse der modernen Physik, der modernen Biologie, der Kreativitätsforschung, und kommt  so zu einem hierarchischen Ordnungsmodell der Natur des Menschen, das  geradezu diametral entgegengesetzt zu den reduktionistischen Deutungen einer Tiefenpsychologie S. Freuds liegt.  W. Pieringer orientiert sich dabei an „natürlichen Kräften“ nach F. Preuß, der Aufbau des Menschen, 1987.
Dieser unterscheidet zwischen:  a) material-energetischer Dingweltstufe
b) einer vital-energetischen Lebensweltstufe und
c) einer mental-energetischen Geistesweltstufe. (Siehe b. W. Pieringer, S 97)

Dieses Kräfte-Modell ist durchaus mit freudscher Tiefenpsychologie zu verbinden. Im Sinne einer „Rhythmusfolge“ bedingen sich ältere und jüngere Stufe. Das ergibt nach W. Pieringer vier „Modalitäten“ (Wesen des Seins):
a) die ästhetische Natur des Menschen
b) die ethische Natur des Menschen
c) die ökonomische Natur des Menschen
d) die kultische Natur des Menschen.

Er benennt dann vier Temperamente und die vier primären Entwicklungsstufen der frühen Kindheit, analog zur Tiefenpsychologie S. Freuds.
a) Der ästhetischen Natur entspricht die narzisstische Phase,
b) der ethischen Natur die oral-aggressive Phase,
c) der ökonomischen Natur die anale,
d) und der kultischen Natur die früh-genitale Phase.

Summa summarum ergibt sich aber damit nicht ein kausal-mechanistisches, durch biologische Determinanten und  historisch-gesellschaftliche Triebunterdrückung geprägtes Menschenbild, sondern ein auf die Triebkräfte und Triebregungen aufbauendes Menschenbild, das vielfältige Transzendenzerfahrungen zulässt. Dies ist keineswegs jetzt eine Deutung viel späterer Zeit, sondern längst vor S. FREUD ging ja die Diskussion darum, wieweit die Triebe und die Sinnlichkeit selbst transzendentale Bedingungen a priori möglicher Erfahrung sind, also bereits über Determination hinführen zur Freiheit einer Intentionalität. (Siehe z. B. bei Jacobi, Fichte, Wilhelm v. Humboldt u. a.) 

3) Ob Walter Pieringer die Trieblehre von FICHTE kennt, weil er eingangs kurz die Transzendentalphilosophie anspricht?  Die Phänomene, die von S. FREUD beschrieben worden sind, müssen nicht naturalistisch (biologistisch) interpretiert werden – wozu durchaus bei S. FREUD selbst Ansätze zu finden sind. Vom transzendental-kritischen Gesichspunkt aus können sie gar nicht nur empiristisch verstanden werden, denn das Begehren im Trieb wie der Triebverzicht stehen apriorisch vor aller Erfahrung und  wirken in ihrer Erwartung wie Befürchtung über die augenblickliche Befriedigung stets hinaus. 
Die Sicht des „Ich“ gegen die Triebbestrebungen des „Es“ in einer Gesamtkonzeption bei S. FREUD weist ausdrücklich darauf hin, dass eine Selbstbestimmung gesucht wird, sei es im sinnlich-naturalen wie im kulturell-ideellen Bereich des Menschseins.

Mir scheint, dass in diesem von vielen divergierenden Geistesströmen bewegten Wien um 1900 ein einheitliches Gesamtkonzept von Natur und Geist fehlte? M. E. war S. FREUD offensichtlich a) von den naturwissenschaftlich-induktiven Messungen der körperlichen Natur des Menschen stark angetan; ferner dürfte er b) das transzendentalkritische Erkennen nach  Kant und Fichte nicht kennen gelernt haben (umso schlimmer für die Philosophie dieser Tage in Wien); c) die sich bietenden Alternativen von Schopenhauer und Schelling, die er gelesen hat, waren allesamt bloß unbegründete, spekulative  und letztlich deterministische Annahmen. Die aus der Intelligenz auf die sinnliche Natur übertragenen Zwecksetzungen, wie sie Fichte deduziert hat, wurden objektivistisch-empiristisch angenommen und wurden als solche nicht mehr durchschaut. 
Schließlich dürfte die d) gesellschaftliche Wirklichkeit des ausgehenden Jahrhunderts in Wien (oder anderen Städten; es dürfte in Berlin ähnlich gewesen sein)  wirklich psychisch krankmachend und triebunterdrückend gewesen sein. (Ich kenne hier nur ein wenig die Literatur von Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig.)  Das Bild des Menschen – in den wissenschaftlichen Kreisen? – war letztlich naturphilosophisch axiomatisiert und relationiert, dass alles auf eine biophysische Systemeinheit hingeordnet war – und aus dieser naturalen Einheit wurde ein prinzipieller Ansatz des Erkennens gesucht. (Ob alle so dachten, weiß ich nicht?) 
Dass aber die Triebregungen selbst Anlass und Grundlage einer Freiheitsverwirklichung und höheren Sinnverwirklichung sein könnten, wie Jacobi, Humboldt, Fichte das gesehen haben, oder  hier z. B.  W. Pieringer oder F. Preuß, dazu fehlte offensichtlich schon der transzendentale Zusammenhang. (Siehe auch Anm. 1)  

Die von W. Pieringer angedeuteten Phänomene als vier „Modalitäten des Seins“ sind  eine Art reflexiver Durchdringung der Phänomene der menschlichen Natur im Sinne einer transzendentalkritischen Erklärung, d. h. dass die Phänomene nur aus einem Akt-Charakter einer höheren Zweckbestimmung verstanden werden können, also aus einem Tatzusammenhang heraus, nicht aus einem empirischen Begriff. 

4) Natürlich habe ich nur manche berühmte Schriften S. FREUDS gelesen. Diese meine folgende Interpretation mag deshalb etwas dürftig ausfallen. Wenn ich nur ein Zitat von S. Freud bringe: „Sehen Sie nicht, dass die Vielheit dieser Triebe auf die Vielheit der Organe zurückgeht, die alle erogen sind….? Brief von Freud an Oskar Pfister vom 9. Okt. 1918.  Das ist eine totale Hinordnung auf eine bio-physische Erklärungsquelle. 

5) Ich möchte erkenntniskritische Fragen stellen:
Nach S. Freud ist die Quelle eines Triebes ein Art körperlicher Reiz, eine Art bio- physischer, chemischer Spannungszustand. Der Trieb setzt eine reale Verursachung voraus, kann sie aber nicht selber herbeiführen. Ist die konstante, sinnliche Reizanflutung, denen der Organismus nicht ausweichen kann, die  Triebfeder für das Funktionieren des psychischen und physischen Apparates, dann wäre der Mensch (das Vernunftwesen) bio-chemisch und sinnlich determiniert.  Frage aber, der Erwartungsdruck im Trieb oder eine freiwillige Triebunterdrückung, wie kann so etwas überhaupt gedacht und stets erneuert werden, wenn alles nach biophysischen oder organischen Gesetzen der Selbsterhaltung und Selbstzwecklichkeit abläuft? Es wäre doch richtig, alles auf eine naturkausale Erklärung zurückzuführen. Der Mensch (philosophisch, das Vernunftwesen) ist ein „automaton spirituale“, ein  physisch-psychischer Automat bis die Kräfte der Selbsterhaltung irgendwie aufgezehrt oder erschlafft sind.  Wenn es nicht eine andere Quelle über den sinnlichen Reizaufbau und Reizabbau hinaus gäbe, die einen anderen Zweck voraussetzt, wodurch der Spannungszustand wieder erzeugt wird, wozu dieses sinnlose Spiel? Wozu diese erstrebte Befriedigung (Essen, Trinken, Sexualität) ad infinitum bis zum Nichtsein des Todes?  Aber da läuft doch ein apriorischer Gedanken mit!? Was ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Weiterbestehens des Triebes, wenn es nicht die sinnliche Quelle allein sein kann, die einen neuen Gegenstand der Lust erzeugt? Die Trieblehre müsste doch umgeschrieben werden in einen mechanisch-physischen Prozess, in einen teleonomischen Prozess ohne Zweck und Ziel. Aber denken wir so uns selber oder denken wir so das Leben oder so den Sinn eines Triebes? 

Ein rein biophysischer und chemischer Vorgang kennt keinen intelligenten Zweckbegriff und keine Zeit und verlangt (kennt) im Grunde keinen Reizaufbau oder Reizabbau und keine Trieb-“befriedigung“, denn was sollen diese Begriffe noch heißen?  Was soll „Befriedigung“  heißen, Stillung des Schmerzes, neuer Wunsch und Wille nach neuem Zweck oder „Befriedigung“, wenn es nur mechanischer, biophysischer Ablauf ist? 

Der  „Trieb“  –  so jetzt die fichteschen Erkärung –  ist keine kausal-mechanische Erklärungsart, sondern eine hochabstrakte, transzendentale Erklärungsart der Möglichkeit nach, wie es  der Wirklichkeit nach Sinnesempfindungen und Gefühle und interpersonale Affekte  und höhere geistige Freuden geben kann. Siehe dazu bereits die dialektische Ableitung des sinnlichen Triebes und des geistigen Triebes in der OFFENBARUNGSCRITIK 1793: Durch den Triebbegriff wird erst eine  Erfahrung überhaupt möglich, eine Bestimmung von Empfindung, Gefühl  – und weitergehend eine Affekt in der Seele und im Geiste. Der Triebbegriff ist ein Begriff höchster Abstraktion und alles andere als eine bloß  kausal-biophysischen Erklärungsart für Reizaufbau und Reizabbau. Siehe dazu Blog zu den Affekten  

Da S. FREUD eine Letzterklärung anstrebt, was ja an sich transzendentales Denken will!, muss er nolens volens mangels transzendentaler Ableitung – von Schelling u. a. nicht erfahrbar –  den Begriff „Trieb“ reduktionistisch auf sinnliche Reizmessungen und Beobachtungen hin auslegen. Die ganz andere Herleitung des Triebes aus Wollen und Handeln bleibt ihm verschlossen, wird zum Schein erklärt, ist peripheres Naturphänomen – das ihm natürlich ebenfalls vertraut war, sonst hätte er nicht so klassisch schreiben können. 

Nochmals anders gesagt: Könnte tatsächlich der Zirkel eines psycho-somatischen Kreislaufes von Reizaufbau und Reizabbau nie verlassen werden, wäre eine mechanistisch-funktionale Auflösung des Triebes konsequent, d. h. der Triebbegriff fiele überhaupt weg. Das Wort „Reiz“ als Begriff wäre nicht mehr verstehbar. Das „Leben“ als Begriff würde eine funktionale Metapher, aber ohne telelogischen Sinn und Zweck. (Kant hat  in der KdU bekanntlich die Begriffe fein säuberlich aufgestellt, ohne aber zu einer letzten Sinnerklärung der Teleologie zu finden.) 
Aber viele Begriffe bei S. FREUDE verlieren ebenfalls ihre Bedeutung: Ein  „Selbsterhaltungstrieb“ im Denken des Libido ist nur mehr dichterischer Ausdruck für ein Phänomen, das im Grunde funktional aufgelöst werden müsste. 

6) Fichte leitet den Triebbegriff ab: Woher das theoretische und praktische Interesse des Erkennens? Woher das Vermögen und das triebhafte! Vorstellen? Woher und warum das Wollen und deren vielfältigen zweckhaften Mittel, woher und warum dieser in der kleinsten Lebenszelle bis zum Lebewesen „Mensch“ anzutreffende Selbsterhaltungstrieb? Woher die Gefühle und die gesellschaftlichen Affekte? Woher Hungertrieb, Durst, Sexualität? Ein äußerlich zu beschreibendes, bio-physisches Geschehen kann diese Zweckgerichtetheit gar nicht erkennen und ablesen, wären es nicht aus der Intelligenz auf die sinnliche Natur übertragene Relationen und Reflexionsidee. 

Die sinnliche Empfindung und Qualität ist die basalste, erste Form der triebhaften Wahrnehmung. Diese sinnlichen Empfindungen  auf die Bedingungen der Wissbarkeit hinterfragt, setzt  eine theoretisch wie praktisch feststellbare Sinn-Realisierung des Lebens, d. h. eine erste Vor-Form bewusster Reflexibilität und Selbstbestimmung, voraus. Das Leben, wenn ich diesen Begriff epistemisch korrekt verwende, muss sich selbstzwecklich (d. h. organisch) bestimmen können, was aber wiederum auf einen über den sinnlichen Selbstzweck hinausgehenden Sinn-Zweck und teleologischen Zweck hinausweist.   Eine bloß  naturalistische Erklärung eines Qualitätsmomentes von Reiz/Lust als  angenehm/unangenehm, oder wie immer die Empfindung dann deskriptiv gefasst wird, oder ein bloßer „Informationsaustausch“ mittels Zeichen, setzt die Bedeutung schon voraus, die sie als Erklärung vorgibt.  Es wird biologisch oder chemisch oder digital „bewiesen“, was eigentlich eine die Gefühle und Verhaltensmechanismen und alle epistemische Bedeutung übersteigende transzendierende Erklärung der Bedeutung ist. Nicht die Erfahrung erklärt und begründet die Bedeutung, sondern die apriorischen Wissensbedingungen zusammen mit den Erfahrungsbedingungen erklären die naturalen Empfindungen und personalen Affekte,  bedingen die „Erfahrung“ und das, was wir „Leben“ nennen, also die Bedeutung desselben. 

7) Wenn das konstruierende, hypothetische Verfahren einer philosophischen Prinzipienerklärung  gewählt  werden soll, sind auf einer a) naturalen, empirischen Ebene anscheinend die analytischen Ausgangsbedingungen vorgegeben: Zellen, Zellverbände, deren Stoffwechsel, die lebenserhaltende Produktionen in Zell- und Nervenbereich usw.. Ebenso sind b) analytisch kulturelle, geschichtliche Prägungen vorgegeben.
Die biologischen Mechanismen und die biographische Bedingungen bilden nach S. Freud eine organische Einheit und erzeugen manifeste Triebregungen und Wünsche, Träume und Verdrängungen, Neurosen und Zwangshandlungen usw. 
In transzendentallogischer Konsequenz  kann es aber nicht gänzlich verschiedene und vielerlei Gründe für manifeste Phänomene geben, es muss eine einheitliche Prinzipienerklärung für Natur wie für Geist geben, eine,  die Abläufe innerlich erklärende, transzendierende Zweckhaftigkeit.

Welche Idee der Realisierung der Vorstellungen und des Zweckes schwebte S. FREUD vor? 
Bei meiner geringen historischen Kenntnis seiner Werke, geschahen hier m. E. „Ebenenverwechslungen“ (Aristoteles) und philosophischen Überflüge, sodass der Denkakt, der  S. FREUD zur Ausarbeitung  des „Unbewussten“ logisch-notwendig ausführte, vergessen und objektivistisch angesetzt war. 

Es ist in den Augen S. FREUDS logisch und konsequent, wenn  Unbewusstes und Bewusstes nicht gänzlich verschiedene Welten sind. Es könne  nur ein, singuläres Prinzip disjunktiver Einheit und Spaltung geben, ergo ist die Welt des Bewusstseins selbst eine Form des Unbewussten, die nach den Mustern des Traumes gebildet ist – so Freud. Das ist transzendentalkritisch die Frage nach einer Letztbegründung. Richtig! Das analysierende Konstruktionsverfahren der Traumdeutung ist selbst eine nachträgliche Beschreibung, Rationalisierung, Nach-Konstruktion eines psycho-somatischen Prozesses – so Freud. 
Es ist die analysierende Tiefenpsychologie nicht mit dem Aufdecken der Inhalte der Träume an sich beschäftigt, sondern
die Traumarbeit ist selbst eine Form des Traumes und des Denkens – mit der Aufgabe, den unbewussten Trieben und Verdrängungen und Verschiebungen eine nachträgliche, wie immer zu beurteilende, rationalistische Sinn-Erklärung zu geben.  Das Denken selbst, die ganze Traumarbeit ist Begehren, ist Verdrängung, Verschiebung – und zugleich deren Bewältigung. „Sie (sc. gemeint sind Studenten von ihm) suchen das Wesen des Traums in diesem latenten Inhalt und übersehen dabei den Unterschied zwischen latenten Traumgedanken und Traumarbeit. Der Traum ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese Form herstellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit.“ (GW II/III, Seite 510 f.).

Analog zur „transzendentalen Erkenntnisart“ KANTS gesprochen könnte also gesagt werden, dass die Erkenntnisart  der „Traumarbeit“ und aller damit verbundenen reflexiven Aussageweisen (in den vielen Fachtermini psychologischer Beschreibung)  der Geltung nach von latenten, bio-physischen Triebregungen und Gehirnprozessen kausal bedingt sei. Die Unterscheidung Trauminhalt/Traumarbeit muss selbst in ihrer bestimmten Form auf einen natur-kausalen, wirksamen Inhalt (Ursache) zurückgeführt werden.

8) Das ist aber dialektischer Schein. S. FREUD bedenkt das nicht mehr. 
Die verstandliche Unterscheidung (distinctio rationalis) wird als Spaltung der bio-physischen Einheit selbst verkündet (als distinctio realis), und letztlich gilt nicht diese logische Unterscheidung, sondern die reale Einheit – und die muss dann monistisch, naturalistisch angesetzt werden.  Die bio-physische-somatische Natur des Vernunftwesens „Mensch“ bewirkt den Trauminhalt und alle Formen rationalen und kulturellen Lebens der Traumdeutung, ganz so, wie die distinctio realis verkündet. 

Transzendentalkritisch ist es aber gerade umgekehrt, dass die logische Unterscheidung beibehalten werden muss, wenn vom Sein (hier „Trauminhalt“) im Bilde (hier „Traumarbeit“) gesprochen wird. Die distinctio rationis  muss transzendentalkritisch erst gehoben und gerechtfertigt  werden – ehe von einer realen Trennung  und späterer natural-kausaler Erklärung der Momente von Trauminhalt und Traumarbeit gesprochen werden darf.  Warum die distinctio rationis zugunsten des Trauminhaltes zurückgenommen werden soll und plötzlich zugunsten der Geltung eines naturalen Grundes (besser, einer naturalen Ursache) ausfällt, der (die)  sich angeblich im „Trauminhalt“ phänomenal zeigt, das ist dezionistische Entscheidung und reflektiert nicht mehr diese Behauptung der naturalistische  Erklärung. Der Erkenntnisprozess ist abgebrochen zugunsten einer realen/naturalen Begründung, ohne die Reflexion dieser Begründung ebenfalls als solche zu durchschauen und zu begründen. Das ist Empirie-Glaube. 

Woher „weiß“ FREUD, dass alle Formen des Bewussten wie Unbewussten, alle vernunft- und verstandesmäßigen Begriffe, alle  psychischen und gefühlshaften Phänomene, alle Triebe, Neurosen, Psychosen, Verdrängungen, Verschiebungen etc.   auf bio-physische und chemische Vorgänge zurückgehen? Dann wäre auch sein Wissen nur ein Trauminhalt, eine Verarbeitung eines biologischen und chemischen Vorgangs, der sich  zugegeben in schönen,  literarischer Formen und in Methoden der Gesprächstherapie und psychischen Heilungen äußern kann,  letztlich aber doch kein Sich-Wissen und keine überzeitliche Selbsterkenntnis und objektive Erkenntnis bedeutet!? 

Die Bedingungen der Wissbarkeit der idealen, in psychoanalytischen  Termini verfassten Traumarbeit und der gedeuteten (realen) Traumvorgänge können selbst nicht bio-physische und chemische Vorgänge sein, sonst wären sie wissentlich gar nicht zu erkennen und zu bestimmen. Wie könnte Unbewusstes durch Bewusstes erklärt werden oder umgekehrt, Bewusstes durch Unbewusstes, wenn der materiale Gehalt der Aussagen keine Wissensform, kein Sich-Wissen und Sich-Erkennen sein soll? Wenn das Bild des Seins, das sich FREUD von der Natur des Menschen macht, kein Bild des Bildes von diesem Sein als Wissensform gelten lässt, wie sollte die behauptete Geltung des materialen Gehaltes noch irgendeinen Sinn haben und gewusst werden können? Wie sollte der Geltungsbezug zu einer naturalen Quelle aller Träume vermittelt werden, wenn darin nicht eine andere Wissensform der höheren Geltung (als diese naturalen Quellen) sichtbar würde, eine Geltungsform bedingender Freiheit zugunsten eines über Triebvermittlung hinausgehenden Handelns? Die Freiheit ist einerseits in ihrem Handeln angewiesen auf den Trieb, gerade damit sie angewandt und sich verwirklichen kann,  andererseits geht sie über die Triebvermittlung hinaus: Diese zeigt sich schon allein darin, dass in und durch Freiheit eine mannigfaltige Welt der Trieberfüllung gesetzt ist: Es gibt die mannigfaltigen Erfüllungen des Vorstellungstriebes, den Selbsterhaltungstrieb, den gesellschaftlichen Trieb, den Anerkennungstrieb, den Religionstrieb usw. Die Freiheit äußert sich in einer praktisch unendlichen Teilbarkeit der Triebbefriedigungen und Sinnerfahrungen. 

Nun würde ich wohl S. FREUD großes Unrecht tun, wenn er nicht dieses größere Freiheitsgeschehen und die therapeutische  Zwecksetzung in der Analyse des Unbewussten und der Deutung der Triebe und Träume gesehen hätte. Um der medizinischen Heilung und des Realitätsgewinns willen, mithin um die größere Freiheit willen,  drehte sich ja die ganze Traumarbeit und psychoanalytische Therapie. Ja, aber die philosophische Grundkonzeption wurde zu einem  dogmatisch/realistischen Ansatz ausgearbeitet!? (Wien um die Jahrhundertwende – mein Vorurteil)

Anders gesagt: Wie KANT  von einem vor-entschiedenen, einseitigen Disjunktionsstandpunkt der Trennung von Anschauung und Verstand ausgegangen ist, so ging S. FREUD letztlich ebenfalls von einem  vor-entschiedenen, einseitigen Disjunktionsstandpunkt aus: Das Unbewusste begründet das Bewusste.  Beeindruckt von der Naturwissenschaft um 1900,  verlassen von der Philosophie, fiel seine Entscheidung zugunsten einer bio-physischen, chemischen Einheit und Quelle aus,  aus der alle gesunden  wie kranken Erscheinungen des Leibes wie der Seele kommen. Der Trieb ist dabei das Paradigma der Erklärung, die umfassende Lebenskraft für alles pflanzliche wie tierische und vernünftige Leben, ist Reizaufbau wie Reizabbau,  letztlich fokussiert auf den sexuellen Reiz und die sexuelle Erfüllung bzw. auch fokussiert auf den Tod.

Der Trieb ist zweifellos die begrifflich beste Beschreibung eines naturalen Lebens – der höchste Begriff der sinnlichen Natur – aber kann damit der Trieb aus sich heraus allein auf der naturalen Ebene erklärt werden? Das Bild des Bildes vom Sein kann nicht durch eine faktische, zu beobachtende Seinserklärung erklärt werden.    Die Traumarbeit, wenn ich das Wort von ihm an die Studenten ernst nehme, sozusagen die transzendentale Apperzeption „Traumarbeit“ für Bewusstes und Unbewusstes, wird auf das geschlossene Ganze eines biologisch-chemischer Reiz-Reaktionsmechanismus zurückgeführt. Damit ist die „Traumarbeit“ selbst nur ein naturaler Prozesse. Wie sollte sie einen allgemeingültigen Geltungsanspruch erheben können?

Die von S. Freud herausgearbeitete „transzendentale“ Traumarbeit der logischen Trennung von Unbewusstem und Bewusstem verobjektiviert sich in  eine reale Trennung des Unbewussten  und Bewussten –  und entscheidet sich zugunsten der realistisch-naturalistischen Begründung, dass alle bewussten wie unbewussten Phänomene aus einer bio-physischen Quelle kommen.

Dem unbesonnenen Denken, das dieses Gesetz des Verstandes vollzieht, aber nicht sieht, muss eine (bloß logische) Unterscheidung des Verstandes als (reale) Trennung der Momente, als echte Spaltung der Einheit, d.h. als distinctio realis erscheinen. Das besonnene, mit dem heterothetischen Gesetz des Verstandes vertraute Denken dagegen erkennt und durchschaut eben die logische Unterscheidung als bloße distinctio rationis.“ 2

© Franz Strasser, Jän. 2017

1Ich füge hier jetzt nachträglich einen Hinweis auf eine Ausstellung „Wien 1900“ ein, die das Klima dieser Zeit etwas beschreibt – Ausstellung im Leopold Museum, Herbst 2020. – LinkWien

2M. Gerten, Sein oder Geltung. In: Fichte-Studien, Bd. 47, 2019, S 218.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser