Zum Begriff des Transzendentalen – 7. Teil, Schluss

Wird vom Transzendental der Idee des Guten und einer überdisjunktiven Wahrheit ausgegangen, so gibt es keine Ausflüchte für einen möglichen Skeptizismus, der gut und gern behauptet,  weil unsere Erkenntnis notwendig eine einzugestehende Zwei-Einheit von Identität ausmacht, somit endlich ist,  könne keine definite Wahrheitsbestimmung und Wahrheitserkenntnis gemacht werden. Das ist performativer Selbstwiderspruch, denn auch dieser Zweifel des Skeptizismus (an einer wahren und wahrhaften Identitätsbestimmung) ist nur dank einer vorlaufenden, apriorischen Einheitsbestimmung von Wahrheit möglich. Nur dank der notwendig disjunktionslosen Identität der Wahrheit als Abgrenzungsbedingung ist ein möglicher Irrtum und Zweifel denkbar. Die benötigte reine Identität liegt jeder bloßen Reflexionsidentität apriorisch voraus und vollzieht sich allaugenblicklich und existentiell in jedem individuellen Skeptizismus – und Wissensvollzug.

FICHTE spielte oft die Möglichkeit des Skeptizismus durch,  dass einem das Fürchten kommen müsse, wollte man seine Zweifel nachvollziehen, wie er einmal sinngemäß sagt, und weist den Skeptizismus als vornehme Anmaßung zurück. Der Skeptizismus bedient sich in seinem behaupteten Nicht-Wissen-Können genau dieser reflexiven Identitätsbestimmungen, die aus der disjunktionslosen Wahrheit kommen, aber respektiert sie nicht. Er nimmt Wahrheit in einem primärreflexiven Denkakt in Anspruch, um sie sekundärreflexiv zu verwerfen.   

KANT behauptet, etwas pauschal von mir gesagt, sowohl synthetisch durch die sich wissende Apperzeption, als auch analytisch durch die Referenz auf die sinnliche  Erfahrung,  die apriorischen Erkenntnisbedingungen in ihrem Geltungsanspruch.  
In diesem theoretischen (leider nicht explizit praktischen) Bezugsrahmen der Gegenstände sinnlicher Erfahrung wird dem Geltungsanspruch einer sicheren Erkenntnis, einer „synthetischen Erkenntnis a priori“ nach seinem Befinden  Genüge getan.
Die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis sind auch die der Gegenstände selbst – so die Behauptung. So die antike Tradition der Homologie von Denken und Sein. 
Diese Bedingungen bleiben aber auf die sinnliche Erfahrung beschränkt, wodurch ihm der Begriff der sinnlichen Natur zu einem Absoluten gerät, wie FICHTE einmal
sagen wird. (WL 1804/2) 

Im praktischen Bereich beansprucht Kant  zwar eine kategorische Forderung der Pflicht und eine unbedingte sittliche Idee, wodurch ihm aber wiederum die sinnliche Welt entschwindet. Schließlich deutet er in der dritten Kritik (KdU)  die gemeinschaftliche Wurzel von theoretischer und praktischer Vernunft an, ohne diese Einheit aber apriorisch in der Vernunft erkennen und rechtfertigen zu können.1

Wenn es in der Philosophie um Erkenntnis des Prinzipiellen gehen soll, oder, mit anderen Worten, um die Erkenntnis des Transzendentalen  und zugleich um Entfaltung und Realisierung dieses Prinzipiellen (Transzendentalen) in allen Bereichen des Wissens, so muss in diesen materialen Entfaltungen und Realisierungen des Wissens dieses Licht mit-eingehen und enthalten sein. Die implikationslogische Grund-Folge-Bestimmungen  und die  appositionellen Synthesen, worin alle aposteriorische Erfahrung teilabsolut angesiedelt ist,  ergeben ein zugleich geschlossenes wie offenes System des Wissens: geschlossen und endlich sind die prinzipiellen Wissensformen der Erkenntnis, offen ist die unableitbare, aposteriorische sinnliche, interpersonale, moralische und religiöse  Erfahrung. Andernfalls wäre auch Freiheit nicht denkbar.

M. a. W. : Für die Philosophie stellt sich die Frage, wenn sie die Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen erkennen will, dass sie a) nicht nur die alles bestimmende Grundbestimmung erkennen und bestimmen können muss, d. h. die Geltungsform eines Sich-Bildens in reflexiver Form,   sondern b) ebenso die Frage nach dem Verhältnis der einen Grundbestimmung zu den weiteren Folgebestimmungen und deren Verhältnis zueinander in einem System  klären muss. 
Der Zusammenhang aller ihrer Aussagen und Sätze ist dadurch gegeben, dass alle Bestimmungen in der einen Grundbestimmung übereinstimmend und in ihr als Weiterbestimmungen verschieden gesetzt sind. Wären sie nicht übereinstimmend gesetzt, so könnten sie in einem Bewusstsein nicht aufeinander bezogen werden; gäbe es umgekehrt keine Weiterbestimmungen – die eine von FICHTE erst gefundene eigenständige Reflexionsidentität (oder appositionelle Identität) verlangt -, könnte auch die Grundbestimmung als solche nicht diskursiv und selbstbewusst dargelegt und bewährt werden. Eine Frage, die FICHTE oft an SPINOZA stellte und ihn deshalb kritisierte. 2

Wenn alle Erkenntnisinhalte in einer Grundbestimmung zusammenhängen, so ergibt das erkenntniskritisch mithin eine geschlossene Totalität von Wissensformen, die als Prinzipiengefüge allem Wirklichen zugrundeliegt.3  

KANT hat diese Aufgabe der Philosophie als Entfaltung in einem System schon klar gesehen und öfter eingemahnt. Als vollständiges System des Wissens in seinen Grundprinzipien, auch über DESCARTES hinausgehend, hat es aber erst FICHTE ausgeführt. 4

(c) Franz Strasser, 29. 10. 2015

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1„In der Kritik der reinen Vernunft war ihm die sinnliche Erfahrung das Absolute (…) bei folgerechter Durchführung der dort aufgestellten Principien, (musste) die übersinnliche Welt durchaus verschwinden mußte, und als einziges Noumen lediglich das in der Empirie zu realisirende ist übrig (bleiben), in der „ Kritik der praktischen Vernunft“ (..) zeigte sich durch den inwohnenden kategorischen Begriff das Ich, als etwas Ansich, (…) über der zuletzt aufgestellten moralischen Welt, als der Einen Welt an sich, (dabei ging) die empirische verloren. (…) und es erschien die Kritik der Urtheilskraft, und in der Einleitung dazu, dem Allerbedeutendsten an diesem sehr bedeutenden Buche, das Bekenntniß, daß die | übersinnliche und sinnliche Welt denn doch in einer gemeinschaftlichen, aber völlig unerforschlichen Wurzel, zusammenhängen müßten, (….) Daß ich nun die W.-L. an diesem historischen Punkte, von welchem denn auch allerdings meine von Kant ganz unabhängige Spekulation ehemals ausgegangen, charakterisire: — eben in der Erforschung der für Kant unerforschlichen Wurzel, in welcher die sinnliche und die übersinnliche Welt zusammenhängt, dann in der wirklichen und begreiflichen Ableitung beider Welten aus Einem Princip, besteht ihr Wesen. (…) . Ihre eigene Maxime ist, schlechthin nichts Unbegreifliches zuzugeben, und Nichts unbegriffen zu lassen;“ (WL 1804, 2. Vortrag, SW X, 103.104)

2R. LAUTH, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, ebd. S 42.

3 Dieses Prinzipiengefüge entspricht, eher nebenbei gesagt, einem Kriteriumskatalog der heutigen Wissenschaftstheorie: Das Wissen muss reproduzierbar, intersubjektiv kontrollierbar und vollständig sein in seinen Prinzipien.

4Es gäbe hier mehrere Belege bei KANT, siehe z. B.: „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird. Der scientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben congruirt. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Theile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen, macht, daß ein jeder Theil bei der Kenntniß der übrigen vermißt |werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmte Grenzen habe, stattfindet. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intussusceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein thierischer Körper, dessen Wachsthum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der Proportion ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.“ (KrV A 833. B 860.861)

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser