Zur Bedeutung der Dialektik – 1. Teil

Zur Bedeutung der Dialektik

HANS POSER hat in in einem sehr instruktiv und verständlich geschriebenen Buch zur Wissenschaftstheorie (Reclam 2001) die Methode der Dialektik als einen möglich Grundansatz wissenschaftlicher Erkenntnis beschrieben (neben der Analytischen Philosophie und der Hermeneutik und der Evolutionstheorie). Prinzipiell kann ich ihm zustimmen, aber leider geht er von einem sehr engen und verworrenen Begriff der Dialektik aus. Es bleibt für POSER nur mehr ein rudimentärer Rest von Dialektik über, charakterisiert als Fragemethode, um Theorien zu falsifizieren (wie bei POPPER) oder bessere Theorien zuzulassen (wie bei FEYERABEND) oder um eine dem hermeneutischen Vorurteil entgegenstehende Meinung besser herauszuarbeiten. Dialektik führt „zwangsläufig auf Elemente des analytischen und des hermeneutischen Ansatzes zurück (….)“ (ebd. S 255).

Die Dialektik hat bei Kant und durch Hegel leider eine schlechte Reputation bekommen.
Nach Hegel stellt ein bestimmter Begriff von sich her eine bestimmte Bereichsnegation dar, welche Negation er aber
materiell in den Dingen selber sieht! Er interpretiert bereits Phänomene, anstatt die Dialektik als Verfahren (Methode) der Synthesis einer ausschließenden Negation (im Begriffe) und des dazugehörigen, zureichenden Grundes in einem Begriffe zu finden. Der zureichende Grund einer Begründung und Rechtfertigung der Erkenntnis in der hegelschen Negationsdialektik bleibt aber völlig im Dunkeln und entbehrt jeder begründeten Ableitung und Einschau, geschweige Moral. Es ist die angebliche Selbstbewegung des Begriffes, die alles bewirkt und sich in der Wirklichkeit schlussendlich zeigt. 
Da alles Mögliche von diese leeren Begriffslogik abgeleitet werden konnte,  hatte es bei den „Linkshegelianer“, so wurden später die Marxisten genannt, die Folge, dass das Bewusstsein selbst Ausdruck einer wie immer wirkenden Materie und eine gewisse Form der Anschauung der   soziologischen, ökonomischen, psychologischen  Umstände sein sollte. Unsäglich viel Leid hat dieses  materialistische Dialektik-Denken in die Welt gebracht, sofern Revolutionäre und Regierungen glaubten, jetzt selbst diese Bewegung des Begriffes nachhelfen zu müssen.

POSER weist diesen materialistischen Begriff von Dialektik natürlich zurück, erfasst ihn aber nur mehr als heuristisches Prinzip ohne methodische Konsequenz und wissenschaftliche Relevanz für die „Fortentwicklung der Wissenschaft“ und als „erklärende Methode für historische Phänomene“ – ebd. S 254.

1) R. LAUTH, K. HAMMACHER und zahlreiche andere kompetente FICHTE-Rezipienten haben darauf hingewiesen, dass gerade FICHTE es war, der den Begriff der Dialektik, wie er bei PARMENIDES und PLATON begonnen und bei ARISTOTELES zu einer Topik transformiert wurde, transzendental wieder neu aufgenommen und als Grundlage der Begründung von thetischen Urteilen und einer transzendentalen Logik methodisch eingesetzt hat.  Dem Worte nach hat FICHTE kaum von „Dialektik“ gesprochen, weil er gerade eine „Dialektik des Scheins“ – ähnlich wie KANT – vermeiden wollte.
Aber natürlich kann man von „Dialektik“ sprechen, wenn man den Begriff in einem exakt transzendentalen Sinne nimmt, als analytisch-synthetische Methode des Setzens und Entgegensetzens.

Etwas vorläufig von mir gesagt, um einsteigen zu können: Die Dialektik ist ein logisches Verfahren der Begriffsbildung (Begriffszergliederung und Begriffsverknüpfung), „ein Gespräch der Seele mit sich selbst“ (PLATON), um das Wissen der Ideen zu erreichen.

PLATON unterscheidet im SIEBTEN BRIEF einmal zwischen Benennung, Erklärung, Abbild – und auf höchster Stufe das Wissen. Der höchste Standpunkt des Wissens, das Wissen der Ideen,  ist dabei durch Dialektik zu erreichen. Könnte ich kein sicheres Wissen erreichen, wären auch die anderen Stufen der Erkenntnis fragwürdig, die Benennung, die Erklärung oder das Abbild.

Über das entscheidende Element der Dialektik sagt er allerdings, es werde von ihm niemals eine schriftliche Äußerung darüber geben:

Denn es lässt sich gar nicht wie andere Einzelerkenntnisse in Worte fassen, sondern aus häufigem Beisammensein, das sich um die Sache selbst zusammenschließt, und aus wirklicher Lebensgemeinschaft wird es im Nu, wie sich aus einem springenden Punkt ein Licht entfacht, in der Seele erzeugt, und siehe da! schon nährt es sich aus sich selbst“ (Platon, Siebenter Brief, 341c-d.)

Das ist ein schönes Wort – und deshalb ist eine Definition von „Dialektik“ gar nicht so einfach. Offensichtlich, aber so viel kann bei PLATON wohl herausgelesen werden, gelingt die dialektische Einsicht ins Allgemeine und Besondere „aus wirklicher Lebensgemeinschaft“, d. h. aus Erfahrungswissen und praktischer Bestimmbarkeit.  

2) Bei KANT ist die Dialektik eine „Dialektik des Scheins“, weil die Vernunft zwar die unbedingten Erklärungsgründe für die Welt, die Seele und Gott notwendig sucht, aber der endliche Verstand an die sinnliche Anschauung gebunden bleibt, sodass über diese Dinge nichts Sicheres gesagt werden kann. Das ergibt nach Kant eine Unvermeidlichkeit eines transzendentalen Scheins, der uns unumgänglich anhängt (KrV A 298, 339; B 354, 397), aber das führt bestenfalls nur zu „regulativen“ Ideen. Diese Ideen benennen einen „regulativen“ Vernunftgebrauch als „heuristisches“ Prinzip und dienen zur „Regel möglicher Erfahrung“ (KrV A 663, B 691).

Es ist bei Kant ein Schwanken zwischen Verstand und Vernunft festzustellen. Trotz der Kritik und der Abwehr des Gebrauches der Verstandesformen zur Bildung unbedingter Ideen, bejaht er, wenn er es braucht,  doch wieder eine „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ solcher synthetischer Sätze eines  unbedingten Gehaltes im praktischen Teil seiner Philosophie. Er bejaht das Unbedingte einer Freiheit, einer Unsterblichkeit der Seele und einer Existenz Gottes, weil das notwendig aus Gründen des moralischen Handelns gefolgert werden muss.   

Fichte wird diese Fragen nach dem Unbedingten von allem Anfang an in seiner WL aufgreifen, weil es nicht sein kann, dass die Vernunft mit sich selbst im „Missverstand“ (KrV A 663, B 691) ist – und die „praktische Vernunft“ etwas anderes sei als die „theoretische Vernunft“.  Er hält sich einerseits ebenfalls an die logischen Urteilsformen des Verstandes, vor allem an das logische Widerspruchsprinzip, aber die Kategorien des Verstandes und die daraus folgenden Grundsätze des Verstandes sind andererseits von höheren Reflexionsideen abgeleitet und letztlich von transzendentalen Wissensprinzipien geschaffen, die in der Einheit einer, universalen, zeitlosen, objektiv-subjektiven Vernunft liegen. 

Jeder Widerspruch, der durch verschiedene Erklärungsweisen der Gegenstände oder der praktischen Erfahrung entsteht, muss dialektisch im Schweben der Einbildungskraft und im Prinzip auflösbar sein, nicht nur der Erscheinung nach.  Die Vernunft kann ja nicht mit sich selbst im Streite liegen.

3) K. HAMMACHER hat in mehreren Artikeln den „Dialektik“-Begriff bei FICHTE herausgearbeitet:
FICHTE macht in seiner Dialektik
nicht die Anschauung selbst zum logischen Grund der Unterscheidung, sondern die konträr gesetzten Entgegensetzungen bleiben in der Anschauung und Erfahrung auf einen Denkakt zurückbezogen. Es ist damit der Anspruch einer Logifizierung der Anschauung gestellt, aber die Anschauungsebene wird deshalb nicht verlassen oder idealistisch/realistisch überschritten, sondern mittels der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft werden die Gegensätze in einer intellektuellen Anschauung vereint. .

Anders gesagt: Im Anschluss an S. MAIMON bestimmt FICHTE die intellektuelle Anschauung neu und erkennt die Absolutheit der Position des „Setzens“ in der Einheit des Ichs (der Ichheit). Die Position des Setzens generiert sowohl eine ideale wie reale Reihe des Denkens in der Form einer Begrenzung. Die „reellen Folgen“ (MAIMON) bestehen dann darin, wenn dieses Setzen weiter analysiert werden soll, dass – wiederum nach Maimons Regel – „wenn überhaupt etwas gesetzt wird, etwas anderes auch überhaupt gesetzt werden muss“. (K. Hammacher, Zur transzendentallogischen Begründung der Dialektik, Kant-Studien Bd. 79, 1988, ebd. S 470.471)

FICHTE hat aus dieser Regel des Mit-Setzens (nach Maimon) im Gegensetzen (Entgegensetzen) seine, wie er es nennt, analytisch-synthetische Methode entwickelt. Die Gegensetzung, wenn sie auch logisch Negation ist, setzt dennoch Realität und Negation als gemeinschaftliche Korrelate mit. Nach S. Maimon: „Die Setzung des einen ist nicht bloß die Hebung des anderen, sondern eine von derselben verschiedene Setzung“ (MAIMON, Versuch, S 115):

Die Methode und auch Kunst der Dialektik (oder der analytisch-synthetischen Methode)  wird es deshalb sein, die Gegensätze einer Aussage aufzusuchen und sie im Geiste,  d. h. in der Einsicht eines Begriffes, durch das Vermögen der Einbildungskraft und das Denken wieder zu vereinigen.

Dieses analytisch-synthetische Verfahren oder diese dialektische Denkform wird bei C. L. REINHOLD Abstraktion und Reflexion genannt. Bei Fichte heißt es dann ähnlich, dass man in jedem synthetischen Urteil von dem Unterscheidenden abstrahiert – und auf die Beziehungen zugleich reflektiert. Z. B. wird der synthetische Satz „Der Vogel ist ein Tier“ nur begriffen, weil von dem Unterscheidenden der einzelnen Tierarten abstrahiert wird und zugleich positiv synthetisch der Begriff „Tier“  auf das neue Merkmal „geflügeltes, zweibeiniges Wesen“ bezogen (reflektiert) wird.

C. L. REINHOLD erkennt ferner, dass diese Akte des Denkens von Reflexion und  Abstraktion Begründungsakte sind. Der Satz vom Grunde ist doppelt, ist Unterscheidungs- und Beziehungsgrund.

K. HAMMACHER (ebd. S. 472) geht dann auf den Unterschied zwischen KANT und FICHTE ein, dass KANT die konträren Gegensätze (z. B. die Körper ziehen einander an und Körper stoßen einander ab) nur auf der Erscheinungsebene vereinigt,  FICHTE  sie hingegen logisch und der Sache nach vereinigt. Wenn es disjunktive Urteile von einer Erscheinung gibt, so muss der Grund der Disjunktion im Denken selbst gesucht werden, nicht auf der Erscheinungsebene.  Die disjunktiven Urteile haben einen gemeinsamen Denkakt, der aufgedeckt werden kann.  FICHTE nennt ihn den „Satz der Teilbarkeit“ (3. Grundsatz der GRUNDLAGE von 1794): Wir unterscheiden (analysieren) und beziehen (synthetisieren). Das sind  formale Denkformen, Denkformen im Bewusstsein  – nicht in der Realität der Dinge selbst.   

Die Einteilung nach Denkformen besagt, dass alle Sätze, die aus dem ersten und zweiten Grundsatz, dem absoluten Ich und dem teilabsoluten Nicht-Ich, gewonnen werden, die Sphäre der Erkenntnis disjunktiv ausschließend teilen. Sie bilden eine  Totalität, die eingeschränkt und bestimmt werden kann.„Dasjenige, welches ein anderes von der Totalität ausschließt, ist, insofern es ausschließt, die Totalität“ (GWL, GA I, 2, 344)

Das Ganze der Totalität ist immer ein aus Spontaneität handelndes Ich, das aber deshalb auch das Vermögen besitzt, dieses Totalität ins Unendliche zu begrenzen.  (ebd. S 473)

Anders gesagt: Die Spontaneität des Ichs ist eine unwandelbare Wandelbarkeit, eine geschlossene Totalität von Bewusstseinsformen, die in den Anschauungsformen („Empfindungsformen“)  von Zeit und Raum und mittels Kategorien und Reflexionsideen, mit einem Wort, mittels Denken, den Wandel bestimmt, indem sie die Gegensätze im Schweben der Einbildungskraft zu vereinen weiß.
M. a. W., die Spontaneität ist Akteinheit und zugleich Quellpunkt einer Disjunktion von Denken und Sein, ist Vermögen, eine Einheit zu bilden und ins Unendliche zu teilen und zu begrenzen. 

Mit den Worten HAMMACHERS ausgedrückt: FICHTE entdeckt das logische Grundgesetz der Totalitätsbildung durch Beschränkung.
Die Beschränkung (Begrenzung) geschieht dabei mittels Denkrelationen wie Substantialität, Kausalität, Wechselwirkung, Identität, Satz vom Widerspruch, die sich als konstituierende Denkakte durch die Erfahrung und durch ein Experiment verifizieren lassen.  „Das Experiment besteht nun darin, dass – modern ausgedrückt – die Genese eines Klassenkalküls nachvollzogen wird. (…) Es wird also die quantitative Bestimmung in der extensionalen Deutung vollzogen.“ (ebd. S 474) – und zugleich ein wissenschaftstheoretisches Argument geliefert, warum denn ein Experiment zwecks Beweissicherung überhaupt  als solches angesehen und angenommen werden kann.

M. a. W. mit der GRUNDLAGE § 4 gesprochen: Durch Einbildungskraft wird ein Unterscheidungsgrund in der Anschauung mittels logischer Vorzeichnung geschaffen, der zugleich Reflexionsgrund ist der logischen Bestimmbarkeit der Anschauung. Die Einbildungskraft in ihrem Schweben schafft  die analytische und zugleich logisch-synthetische Bestimmbarkeit, indem sie die Gegensätze zu einer Anschauung vereint. 

Es wird die Unterscheidung nicht in der Anschauung selbst gesucht, als hätte man einen Einblick in die Dinge, vielmehr werden konträre Gegensätze in der (sinnlichen und intellektuellen) Anschauung auf eine logische Einteilung in der Einbildungskraft zurückgeführt – und wiederum können umgekehrt die synthetisch vereinten Gegensätze experimentell auf die Anschauung bezogen werden. Deshalb auch die Affinität der Dialektik zur Erfahrungslogik (in der Antike und dann bei Fichte). Die Einbildungskraft schwebt in der Vereinigung der Gegensätze zwischen den gegensätzlichen Gliedern Ich und Nicht-Ich (griechisch „dia-legein“), baut so die Anschauung auf, und ermöglicht das experimentelle Überprüfen der Anschauung in der Erfahrung. 

Die Methode einer begrifflichen Erkenntnissicherung der alltäglichen Erfahrung – wie die Fragestellung eines Sokrates begonnen wurde – ist durch FICHTE zu einer nach festen Regeln des Vorgehens entwickelten Denkform geworden. (H. Poser nennt sie „heuristische“ Methode des Erkenntnisgewinns). 

Die Denkformen werden bezogen auf die real-konkreten  Hemmungen und Aufforderungen (nach Platon, auf die „Benennungen, Erklärungen, Abbilder“)  und je nach Gesichtspunkt des Erkenntnisaktes werden diese Gegenstände der Erfahrung (der Natur, der Interpersonalität, der Moralität, der Religion, der Geschichte)  theoretisch und praktisch durch Begriffe und Ideen (durch das „Wissen“, nach Platon)  bestimmt. (vgl. K. Hammacher, ebd. S 475)

© Franz Strasser, Mai 2015

 

 

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser