Es fließen formale wie materiale Bestimmungen in jeden Erkenntnisprozess, der besonders geprägt und getragen ist von einem interpersonalen Erkennen, mit ein:
Bejahung oder Verneinung, Erbarmen, Ermunterung, Anerkennung, Dank, Erwartung oder Verachtung, Neid, Missgunst usw. Dieser Dialog (oder das Misslingen desselben) bleibt für das Ich und Du bezogen auf einen das Ich und das Du bindenden, kategorisch bestimmten Wert von Wahrheit und Materialität dieser Wahrheit.
Das unmittelbar und spontan einfließende Beurteilen verweist auf einen Grund, der sagt: Ich soll so sein und du sollst so sein, oder ich soll nicht so sein und du sollst nicht so sein, je nachdem, ob und wie der gegenseitigen Ansprüche auf Wahrheit gerechtfertigt oder ungerechtfertigt erhoben werden. Das Dasein als Miteinandersein von Ich und Du ist immer schon eine bestimmte Art und Weise des Zueinanders und Miteinanders und ist als solches immer eine Selbstbehauptung aus der Wahrheit, die prätentiert ist und affirmiert werden will.1
Die durch die Selbstaufgabe des reinen Willens geschaffene und entlassene Freigabe im Interpersonalnexus ist als substantielle, disjunktive Ich-Einheit oder Person-Einheit gegenüber der Selbstbeschränkung (oder Selbstaufgabe) des reinen Willens abgegrenzt; gleichfalls wird ein Du abgegrenzt. Beide Ich-Einheiten behaupten und erkennen sich in ihrer Freigabe und Gabe füreinander durch eine Aufgabe aus ihrem Anspruch auf einen gemeinsamen Bezug von Wahrheit als Selbst-Behauptung aus dieser Wahrheit. Das Ich behauptet sich gegenüber dem Du und das Du gegenüber dem Ich und konstituieren sich somit im Horizont der absoluten Gefordertheit der Wahrheit. In der Selbstbehauptung jeder Person und ihrer gegenseitigen Ansprüche liegt gerade der trans-immanente Grund, der das Miteinandersein der Selbstbehauptung und ihrer Ansprüche begründet und rechtfertigt und zur Verwirklichung bringen möchte – im freien, konstitutiven Mitvollzug.
Der Grund des Miteinanders ist nicht bloß postuliert und abstrahiert, vielmehr vollzieht sich das Miteinander in seinen Ansprüchen bereits aus und durch die Wahrheit und durch einen intellektuell eingesehenes Sein des Miteinanders. Der gemeinsame Grund, der das Miteinandersein begründet und rechtfertigt, muss als Begründung und Rechtfertigung des Miteinanderseins seinerseits selbst-begründend und sich selbst-rechtfertigend sein. Der Grund des Miteinanderseins muss nicht nur sein, sondern auch so sein sollen und sein eigenes Seinsollen als Sollsein durch sich selbst bewähren. 2
Deshalb geschah ja die ganze Selbstaufgabe und Selbstbeschränkung, damit die reflexive Ich-Du-Einheit nicht nur ermöglicht sei, sondern damit sie so erscheinen kann, wie sie sein soll, und so sein soll, wie sie erscheint. Das Sollsein ist rechtfertigende Bedingung, sodass die Selbstaufgabe und Selbstbeschränkung (gegenüber einem Ich, einem Du, einem Wir) und der ganze Prozess der eröffneten Ich-Du-Erkenntnis als gerechtfertigt besteht.3
Das Sollsein ist die erste und höchste gnoseologische Einschränkungsbedingung der daraus abgeleiteten und intellektuell angeschauten Totalität der Bestimmtheit der Vernunft, wie sie virtuell in der Ich-Du-Wir Beziehung als Ideal schon begriffen ist und vorausgesetzt werden muss.
Setzen wir für den trans-immanenten Grund den reinen Willen der WLnm ein, wie wir es methodisch tun dürfen nach der Genetisierung der Interpersonalität aus dem absoluten Ich, so ist dieser Grund ein durch sich selbst bestimmter Wille, ein reflexiv sich wissender Wille, der sich als sich bejahender, sich erkennender und sich wollender (liebender) Wille im Ich-Du-Wir Verhältnis verwirklichen will – zu eigenen Bedingungen des Selbstvollzugs der Vernunft.
Das personale Sein des reinen Willens ist somit primär und wesentlich ein Miteinandersein, ein dialogisches Geschehen von Ich und Du in reflexiv bewusster Weise eines Wir. Der reine Wille, wenn er denn erscheint, verlangt in weiterer Folge das Ideal der zu realisierenden Bewährung, was als Grundsein des Miteinanders von Wahrheit angesetzt ist. Die Idee zu diesem Ideal wird in jedem interpersonalen Vollzug schon real vorausgesetzt, sonst könnte ein grundsätzliches Verstehen der Aufforderung, der Freigabe, Gabe und Aufgabe nicht möglich sein. Wenigstens ein Minimum an Erkenntnis dieses Grundseins von Ich und Du im Wir muss vorausgesetzt werden, und dies in unbedingter, kategorisch bestimmter Weise des Verstehens, sonst könnte reflexiv von überhaupt keinem Verstehen und Wissen gesprochen werden. Ich bezeichne die allem Vollzug der Vernunft vorauszusetzende reale Idee die Sinnidee – siehe diverse Blogs dazu – , die als synthetisches Urteil a priori allem Vorstellen und Wollen-in-actu vorhergeht.
Der trans-immanente Grund der Wahrheit begründet nicht nur die Möglichkeit des Miteinanders, sondern will das Miteinander in dieser Eigenart von selbstständigen Ichen mit ihren individuellen und universellen vermittelten Geltungsansprüchen begründen und erfüllen. Er will die vollkommene Interpersonalität in der gemeinsamen Bezugnahme auf Wahrheit und Gutsein zur Verwirklichung bringen, d.h. die sittlich-personale Anschauung von Wahrheit und Liebe im Miteinander. Der Grund des Miteinanders begründet nicht bloß, wie das Dasein als Miteinander möglich denkbar ist, sondern warum es wirklich sein soll, weil er es begründet und rechtfertigt. Wenn Ich und Du unter dem Anspruch der Wahrheit vollkommen aufeinander eingehen und sich so im Anspruch der Wahrheit zutiefst entsprechen und in Freiheit liebend übereignen und sich hingeben, kann die Einheit dieser Wirklichkeit intelligierend eingesehen werden. Ich deute das mit E. SIMONS hier nur an: Er spricht von der „Innigkeit dieser Lichtung“, vom Licht der Wahrheit, vom Sein der Wahrheit als Gutsein, vom „lichten Wille-sein oder Leben“.4 Das Licht der Wahrheit und des Gutseins ist in der Ich-Du-Erkenntnis und im Miteinanderdasein transzendental stets vorausgesetzt und ist gemäß WLnm als reiner Wille sein eigenes Wollen als Sollen und sein eigenes Sollen als Wollen, in sich selbst begründet und gerechtfertigt. Wenn Ich und Du einander begegnen und sich willentlich entsprechen in ihren Ansprüchen, so vollziehen sie, was sie im Grunde immer schon sind und sein sollen; sie vollziehen ein Sich-Schematisieren und Sich-Versinnlichen dieses Willens bzw. verhindern dieses Sich-Schematisieren und Sich-Versinnlichen im Widerspruch. Erfüllen sie ihre beiderseitigen Ansprüche, sodass sie damit zugleich den Anspruch der Wahrheit selbst erfüllen, d. h. letztlich den unbedingt sein sollenden, über alles Nein und bösen Willen erhabenen Anspruch der Wahrheit, dann ist ihr gegenseitiges Ansprechen und Entsprechen nichts anderes als diese – sinnlich vielleicht nicht eindeutig wahrnehmbare, aber doch auch emotional! -, innerlich und vernünftig (logoshaft), deutlich wahrnehmbare Medialität einer Einheit mit dem trans-immanenten Grund der Wahrheit und des Gutseins.
Auf die Medialität des WORTES, in einem zweifachen Sinn eines göttlichen und eines menschlich gebildeten Wissensbild vom wahren Sein, übertragen, heißt das: Im WORT ist ein absolut erfüllender Sinn vorausgesetzt, eine personale Selbst-Mitteilung einer intendierten Willens-Einigung von Gott und Mensch und Mensch zu Mensch. Die intendierte Willens-Einigung ist präformiert und angehoben vorausgesetzt, und zu eigenen Bedingungen der Freiheit kann sie affirmiert und zu deutlicher Evidenz erhoben werden.
Es handelt sich aber um eine Dialektik, die FICHTE in verschiedenster Art und Weise oft beschrieben hat: Im Augenblick der Geltungserhebung wird eine Nichtdifferenz zwischen dem präformierten WORT und der Einsicht in dessen Geforderheit gesetzt (behauptet), die aber im nächsten Augenblick zugunsten einer Wahlfreiheit, sie auch anders ansetzen zu können, wieder suspendiert wird.
Die im Aussagevollzug aufleuchtende Einheit von Wissensbild und transphänomenalen Sein (des WORTES) wird in eine Notwendigkeit des Performierens geführt, die, solange die Vernunft eine Reflexions-Einheit ist, perennierend gesetzt ist. Nichtdifferenz in der Erkenntnis des WORTES und Differenz zwischen dem im Wissensbild gebildetem Sein und wahren Sein sind dialektisch in der Einheit des Wissens gegeneinander gesetzt. Nur im energischen Nachvollzug des wahren Seins kann die ergreifende Evidenz des WORTES zum Leuchten und zur Erkenntnis gebracht werden – und muss als prinzipielle Erkenntnis möglich sein, sonst könnte auch die Dialektik zwischen Nichtdifferenz und Differenz im Wissen nicht gedacht werden.5
Das WORT kann durch die Daseinsanalyse und dem Vollzug im interpersonalen Dialog weiter bestimmt werden: Es ist a) ein prinzipielles WORT überhaupt,6 das urbildlich allen sittlich-doxischen und dialogischen Handlungen der Vernunft vorausliegt, aber immer auch b) zugleich ein konkretes WORT, wie es z. B. in den Reden oder Sprüchen der Propheten vorkommt oder in den Reden des Logos selbst und in desse konkreten sittlich-doxischen Handlungen und Akten.
Ich kann hier alles nur in notwendiger Kürze und im Vorblick auf spätere Erklärungen zusammendrängen: Dieses WORT, den trans-immanenten Grund vermittelnde, und zugleich durch den eigenen Erkenntnisvollzug vermittelte WORT, muss aufgrund der notwendigen personalen und leiblichen Form von Ich und Du im Wir ebenfalls a) personale und leibliche Form annehmen, damit es zwischen dem trans-immanenten Grund der Wahrheit und der endlichen Vernunft im Miteinander wahrgenommen werden kann 7 und es muss
b) auch als schöpferisches Prinzip durch die Zeit und Geschichte hin, mithin durch den HEILIGEN GEIST und mannigfaltige Sinn-Bildungen, wahrgenommen und sich bewähren können, damit es von einem Ich und Du und wechselweise im Wir nachvollzogen und verstanden werden kann.
c) Dieses WORT bildet eigentlich erst die Zeitreihe und Geschichte und Geschichtsdenken der Bedingung der Möglichkeit nach, weil es allem Sich-Bestimmen und Bestimmtwerden in einer zeitlichen Reihe und Geschichtsauffassung als totalisierende Sinnidee vorausgeht und zugrundeliegt.8 Das WORT wäre völlig missverstanden, wenn es mithin nur ein verbalistisch verstandenes, faktisches Wort sein soll, ein bloßer nominaler Ausdruck, objektivistisch weiterzugeben; es ist ein inspirierendes, durch die Zeiten hin und die Zeiten zusammenfassendes, zeitlos sich bewährendes, lebendiges WORT.
© Franz Strasser, Dez. 2010
1Vgl. E. SIMONS, Philosophie der Offenbarung, 119.
2Vgl. E. SIMONS, Philosophie der Offenbarung, 121.
3Warum es überhaupt zu diesem Hervorgehen des Sollseins kommt, beantwortet PLOTIN mit der Aussage von der Überfülle des vollkommenen EINEN. „Es ist gleichsam übergeflossen und Seine Überfülle hat ein Anderes hervorgebracht.“ (Enneade V 2, 1, 3 – 9; V 1, 7, 18f.) Ähnlich wie das Miteinandersein auf den transimmanenten Grund der Wahrheit und des Gutseins bezogen ist, beschreibt PLOTIN die Beziehung des Geistes auf das EINE – vgl. J. HALFWASSEN, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 86f.
4Vgl. E. SIMONS, Philosophie der Offenbarung, 124. Im Dialog und in der interpersonalen Selbstbehauptung aus der Wahrheit ereignet sich nicht eine äußerlich, wahrnehmbare Realität, sondern eine Wirklichkeit mit höchstem Sinn-Anspruch und Sinn-Erfahrung. Das Sein dieses interpersonalen Austausches ist zugleich immer verbunden mit einem Soll-Sein. In der Verbindung von Sein und Sollen kommen wir zur Konstitution von dem, was wir als Wirklichkeit erfahren und auf der Erscheinungsebenen als Sinn interpretieren. Wir sagen, etwas hat einen Sinn, weil es ist, wie es sein soll, und umgekehrt.
Die höchste Einsicht kann nicht diskursiv erfasst, sondern muss intuiert und intelligiert werden. Es fänden sich hier wieder Parallelen zu PLOTIN: der Intuition entspräche die „Schau“ des Einen, (Enneade VI, 9, 4, 1 – 10); der intelligierenden Einsicht das „Heraustreten aus sich selbst“, die „Ekstasis“, das radikale Einfachwerden und sich selbst Hingeben. (Enneade VI 9, 11, 23)
5In einem objektivierten Resultat des Aktes erscheint die Evidenz des WORTES nicht mehr unmittelbar auf; es erscheint nur mehr eine Synthese zwischen einem Bild dieses Seins und dem vorausgesetzten wahren Sein, folglich kann sie idealistisch unterlaufen und bezweifelt werden. Im energischen Nachvollzug dieses wahren Seins kann aber das universelle Bezweifeln nicht mehr bezweifelt werden, sondern kategorisch wird eine Wahrheit behauptet. Zum universellen Zweifel siehe R. LAUTH, Theorie des philosophischen Arguments. Der Ausgangspunkt und seine Bedingungen, Berlin, New York 1979, S 133ff.
6FICHTE hat sich in der späteren Schrift der ANWEISUNGEN von 1806 bzw. in der STAATSLEHRE von 1813 sehr ausführlich mit dem Logos des Johannes-Evangelium beschäftigt. Er hat in höchster Ehrfurcht von diesem WORT gesprochen. Man soll nicht über das „Wort“ (den Logos) „vernünfteln“ (ANWEISUNGEN, SW V, 480), es irgendwie zerlegen, sondern es als ganzes sehen, so wie es da steht: „Gott selbst war es. (….) Nachdem, ausser Gottes innerem und in sich verborgenem Seyn, das wir zu denken vermögen, er auch noch überdies da ist, was wir bloss factisch erfassen können, so ist er nothwendig durch sein inneres und absolutes Wesen da: (….) dieses Daseyn ist ursprünglich, vor aller Zeit und ohne alle Zeit, bei dem Seyn, unabtrennlich von dem Seyn, und selber das Seyn“(ebd. 480.
7E. SIMONS schreibt sehr schön: „Wer diese Mittlerperson ist, den „Namen“ dieser Person, erfährt das Ich, wenn es in der Wahrheitsgenesis seinen eigenen Namen erfährt.“ (ebd., S 163).
8Es muss ja einen transzendentalen Grund haben, warum in der Hl. Schrift die Generationenketten und Geschichtsreihen so bedeutend sind! Weil es um die Erfassung einer Sinnidee geht.