Stichworte – zu J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre. Berlin 1806, SW Bd. V, S 397 – 580.
Lektüre und Anfragen: – 1. Teil SW, Bd. V, Vorrede
S 399 Fichte will in „populärer Lehre“ seine wichtigsten Grundlehren zum Grundverhältnis Absolutes und Bewusstsein (Selbstbewusstsein) zusammenfassen.
Er zweifelt schon an der Urteilsfähigkeit eines größeren Publikums zur WL.
Weil er von anderen gedrängt wurde, diese Vorträge herauszugeben, stimmte er einer Veröffentlichung seiner elf Vorlesungen zu.
Für den Erfolg will er nicht mehr garantieren, das gehe auf Kosten der Verantwortung deren, die ihn dazu überredet haben.
S 401 Erste Vorlesung:
Da es zu dieser Schrift sogar eine Inhaltsangabe gibt1, zitiere ich zuerst daraus, weil diese 1. Stunde m. E. gut zusammengefasst ist. (Die übrigen Inhaltsangaben finde ich eher verwirrend.)
„Leben ist Liebe, und daher ist Leben und Seligkeit an und für sich Eins und ebendasselbe. Unterscheidung des wahrhaftigen Lebens vom blossen Scheinleben. — Leben und Seyn ist auch wieder dasselbe. Das wahrhaftige Seyn aber ist ewig mit sich selbst einig und unveränderlich, der Schein hingegen veränderlich.
Das wahrhaftige Leben liebt jenes Eine oder Gott; das Scheinleben das Veränderliche oder die Welt. Der Schein selbst wird nur durch die Sehnsucht nach dem Ewigen getragen und im Daseyn erhalten: diese Sehnsucht wird nun im blossen Scheinleben nie befriedigt, und darum ist dasselbe unselig; dagegen die Liebe des wahrhaftigen Lebens immerfort befriedigt wird, und darum dieses Leben selig ist. Das Element des wahrhaftigen Lebens ist der Gedanke.“ (SW, ebd. S 575)
Es wird explizit gesagt, dass an das Ergebnis aller vorhergehenden WLn und anderen Schriften angeknüpft werden soll, d. h. dass diese Ausführungen keineswegs als minderwertig oder nur „populär“ im pejorativen Sinn eingestuft werden sollen.
Es wird sogleich der absolute Bezugspunkt aller Reflexion und Struktur des Wissens aufgestellt:
„Es ist, ausser Gott, gar nichts wahrhaftig und in der eigentlichen Bedeutung des Wortes da, denn — das Wissen: und dieses Wissen ist das göttliche Daseyn selber, schlechthin und unmittelbar, und inwiefern wir das Wissen sind, sind wir selber in unserer tiefsten Wurzel das göttliche Daseyn. Alles andere, was noch als Daseyn uns erscheint, — die Dinge, die Körper, die Seelen, wir selber, inwiefern wir uns ein selbstständiges und unabhängiges Seyn zuschreiben, — ist gar nicht wahrhaftig und an sich da;“ (ebd. S 410)
Da alles auf absolute Einheit zurückgeführt werden soll, ist das eine Art zirkuläres Verfahren, dass am Ende der Entfaltung der Prinzipien des Wissens der Anfang wieder eingeholt worden sein muss.
Anders gesagt: Der Sehakt des transzendentalen Wissens wird in seiner selbstbestimmenden Bestimmtheit und Bestimmbarkeit in der Liebe zu Gott vollendet, ergo muss dieser Begriff des Möglichen (der Liebe) schon in der Idee am Anfang vorhanden gewesen sein.
Das von der WL erreichbare Wissen steht dabei nicht im Gegensatz zum Glaubens-Wissen des Christentums, es ist vielmehr (nur) der Gedanke, das Denken zum Pendant des Glaubens. Der Anfang des Wissens ist nicht ein intellektualistisches, szientifisches Wissen, sondern praktisches Wissen, ist Liebe – ganz wie der Glaube im Christentum das ausdrückt:
„Auch stellen wir an unserer Behauptung keinesweges eine neue Lehre über das Geisterreich auf, sondern dies ist die alte, von aller Zeit her also vorgetragene Lehre. So macht z.B. das Christenthum den Glauben zur ausschliessenden Bedingung des wahrhaftigen Lebens und der Seligkeit, und verwirft alles ohne Ausnahme, als nichtig und todt, was nicht aus diesem Glauben hervorgehe. Dieser Glaube aber ist ihm ganz dasselbe, was wir den Gedanken genannt haben: die einzig wahre Ansicht unserer selbst und der Welt in dem unveränderlichen göttlichen Wesen.“ (SW V, S 412)
Die WL in ihren mannigfaltigen Ausführungen suchte stets die absolute Einheit des Sich-Wissens – und fand sie als Bild Gottes im Nachvollzug der Erscheinung des Absoluten.
Dazu jetzt aber gleich die Hauptkritik am Anfang: Ich bekam dazu dankenswerterweise einen Aufsatz von A. MUES zugesandt: Christologie (unveröffentlich). Der Begriff der „Religion“ wird als legitime Projektion auf Postulatsbasis anerkannt, aber zugleich muss gegenüber solchem Transzendenzbegriff stets ein Vorbehalt bleiben, insofern die Idee eines personalen Gottes, als geforderte Erfüllung des moralisch auftretenden Sittengesetzes, doch nur anthropomorphes Gottesbild bleibt. „Der Anspruch (sc. es ist ein Gott) ist berechtigt, nicht aber seine Erfüllung. Der unbeugsame Anspruch des Sittengesetzes wird sich ausgestalten in Religionen mit ihren Kulten und eben auch in den herkömmlich sogenannten Offenbarungsreligionen, denn auch das Sittengesetz bedarf eines Angesichtes. Es ist das, wie gesagt, legitime Bedürfnis, praktisch und in Postulatgestalt zu veranschaulichen, was allerdings schon in seiner Unsichtbarkeit vollkommen berechtigt wirkt. Diesem legitimen Bedürfnis verdanken sich die Religionen. Aber aus dieser Bedürftigkeit heraus eine transzendente Wirklichkeit theoretisch und praktisch zu behaupten, ist vorläufig, ad hominem, nicht aber systematisch endgültig erlaubt.“ (A. Mues, Christologie, Anm. 38)
Fichte will in rhetorisch starker Weise, wie auszuführen ist, in den AsL die Idee der Liebe und Seligkeit als Negationsunterscheidung zur objektiven Moralität eigener Selbstgesetzgebung einführen. Diese kraftvolle Idee verlässt aber nicht die theoretische Form der Nachkonstruktion der Gesetzesgenesis der Erscheinung Gottes, sie setzt vielmehr den absoluten Geltungsgrund der Geltungsform des Sich-Wissens (des Ich-Wissens) theoretisch voraus, ohne praktisch diesen Geltungsgrund als positive Offenbarung behaupten zu wollen. (Was positive Offenbarung heißen kann – siehe dazu später ebenfalls nach A. Mues).
In der Liebe zu Gott und dem damit eintretenden Endpunkt objektivierender Reflexion (von Können und Soll), dann „Seligkeit“ genannt, konkretisiert sich die Idee und das Bild höchster Freiheit und Liebe, konkretisiert sich die begriffliche Nachkonstruktion der Gesetzesgenesis der Sich-Erscheinung Gottes – und damit erfüllt sich die Aufgabe des Philosophie und des Denkens, in der bloßen Idealform das Wissen der Sich-Erscheinung Gottes einzuholen: Meine Gegenfrage jetzt und Kritik für die ganzen AsL: Eine andere Form der positiven Offenbarung Gottes kommt nicht mehr in den Blick?
Aus Gründen vernünftiger Schlussweise sucht die Reflexion einen Endpunkt des Wollens und Könnens – und findet ihn in der Liebe zu Gott.
Anders gesagt: Fichte bleibt dem Schema der Deduktion treu, d. h. aus einer neuen Begriffsbestimmung des Möglichen – durch die Idee/das Bild der Liebe – wird die objektivierenden Form der Moralität nochmals reflektiert und zur subjektivierenden Form der Hingabe und Liebe zu Gott beschrieben und bestimmt.
Dieses Schema bleibt aber eine Produktion von Gesetzen und bloßen Idealformen des Denkens von Freiheit und Selbstständigkeit?
Die Transzendenz Gottes wird zwar in dieser transzendentalen Reflexionsform nicht zu überschreiten versucht, es bleibt ein Bedürfnis nach Religion und transzendenter Vorstellung übrig, aber umgekehrt gesehen, ist eine über diese selbst-produzierte Moralität hinausgehende eigenständige, positive Offenbarung Gottes noch notwendig in der Hingabe und Liebe zu Gott, von Fichte „Seligkeit“ genannt?
Seine Liebe zu Gott und Seligkeit ist vernünftig erschlossen – und bedarf nicht mehr einer geschichtlichen Evidenz und einer geschichtlichen Satisfaktion und Restitution in einer positiven Offenbarung – wie es aber das Postulat einer Sinnidee erfordert.
Mit Vorblick auf die „Fünfte Vorlesung“ ist die Religion aus der Reflexion heraus bestimmt – und die positive Offenbarung ist nicht mehr notwendig.
„Die vierte Ansicht der Welt ist die, aus dem Standpunkte der Religion; welche, falls sie hervorgehet aus der dritten so eben beschriebenen Ansicht, und mit ihr vereinigt ist, beschrieben werden müßte, als die klare Erkenntniß, daß jenes Heilige, Gute und Schöne, keinesweges unsre Ausgeburt, oder die Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens, – sondern, daß es die Erscheinung des innern Wesens Gottes, in Uns, als dem Lichte, unmittelbar sey […].” (Die Anweisung …, Akad.-Ausg. I,9, S. 110,11; SW V, S. 470)
Dazu der fundamentale Einwand von A. Mues:
„Aber dieser, Fichtes Standpunkt der Religion, garantiert nur die „klare Erkenntniß” in das praktische Leben des dritten Standes, in seiner moralischen Praxis ist er ununterschieden vom dritten Stand. Religion ist Fichte vollkommene Evidenz in die Moralität und in diesem Sinne Liebe zur Moralität, darin erschöpft sie sich. Das ist ja auch stringent. Und deswegen kann Fichtes neuer Standpunkt der Religion nur einer der Erkenntnis, nicht aber einer des Praktischen sein. Aber eine tiefere Versenkung in den eigenen, den moralischen Stand berechtigt nicht zu einer neuen Weltsicht. Sie wäre auch vom sittlich Heiligen zu erwarten. Und damit hat Fichte den Sinn von Religion verkannt. Denn ihr geht es viel mehr um Schuldabwendung, das ist ihre dringlichste Intention.“ (ebd. Anm. 36)
Es findet sich wohltuend im Unterschied zu vielen anderen Philosophen seiner Zeit zwar höchste Achtung gegenüber der Person Jesu Christi, ebenso höchster Respekt vor der Überlieferung, Kritik an der Hochnäsigkeit der Berliner pantheistischen Szene, aber trotzdem trifft m. E. Fichte hier nicht die Wahrheit, wenn er sagen kann: „ (…) „ob es gleich, wie wir ferner behaupten, wahr ist, daß der Philosoph – so viel er weiß, – ganz unabhängig vom Christenthume, dieselben Wahrheiten findet”. (Anweisung …, Akad.-Ausg. I,9 S. 122,5; SW V, S. 484) ?
A. Mues wendet in seiner Herausarbeitung einer „Christologie“ und Bestimmung einer positiven Offenbarung m. E. berechtigt ein: „Fichte kennt das praktische Ideal der Vergebung nicht: „Jesus ist bei Johannes […] ein Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt […]. Er trägt sie weg: […] Wer aber in Jesum, und dadurch in Gott sich verwandelt, der lebet nun gar nicht mehr, sondern in ihm lebet Gott: aber wie könnte Gott gegen sich selbst sündigen? Den ganzen Wahn demnach von Sünde, und die Scheu vor einer Gottheit, die durch Menschen sich beleidigt finden könnte, hat er weggetragen und ausgetilgt.” (AsL, Akad.-Ausg. I,9, S. 126,24; SW V, S. 490), ebd. Anm. 32.
Wieder Fichte: Das Mannigfaltige der Erscheinungen nicht auf absolute Einheit zurückführen zu können, das führt zur bekannten Zerstreutheit, hingegen „Seligkeit“ bedeutet Sammlung, Ruhe, Einkehr in sich selbst.
„Elend ist Zerstreutseyn über dem Mannigfaltigen und Verschiedenen; sonach ist der Zustand des Seligwerdens die Zurückziehung unserer Liebe aus dem Mannigfaltigen auf das Eine. — Das über das Mannigfaltige Zerstreute ist zerflossen und ausgegossen und umhergegossen, wie Wasser; ob der Lüsternheit, dieses und jenes und gar mancherlei zu lieben, liebt es nichts; und weil es allenthalben zu Hause seyn möchte, ist | es nirgends zu Hause. Diese Zerstreutheit ist unsere eigentliche Natur, und in ihr werden wir geboren. Aus diesem Grunde nun erscheint die Zurückziehung des Gemüthes auf das Eine, welches der natürlichen Ansicht nimmer kommt, sondern mit Anstrengung hervorgebracht werden muss, als Sammlung des Gemüthes und Einkehr desselben in sich selber: und als Ernst, im Gegensatze des scherzenden Spiels, welches das Mannigfaltige des Lebens mit uns treibt, und als Tiefsinn, im Gegensatze des leichten Sinnes, der, indem er vieles zu fassen hat, nichts festiglich fasst.“ (ebd. S 412, 413)
Fichte sieht seine Aufgabe theoretisch und erkenntnismäßig. Die Frage aber bleibt, warum diese Erkenntnis nicht zur positiven Offenbarung einer praktischen Tat überleiten kann?
„(… so) geht der Philosoph, in einsamer Stille und in ungestörter Sammlung des Gemüthes, allein nach dem Guten, Wahren und Schönen; und ihm wird zum Tagewerke, wohin jene nur zur Ruhe und Erquickung einkehren können. Dieses günstige Loos fiel unter andern auch mir, und so trage ich denn Ihnen an, das gemein verständliche, zum Guten und Schönen und Ewigen führende, was bei meinen speculativen Arbeiten abfallen wird, hier Ihnen mitzutheilen, so gut ich es habe und es mitzutheilen verstehe.„ (ebd. S 415)
(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023
1 Generell zum historischen Kontext dieser Schrift AsL, zur unmittelbaren Rezeption derselben u. a. m., siehe das ausführliche Vorwort in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Herausgegeben von Hans Gliwitzky und Reinhard Lauth. Unter Mitwirkung von Josef Beeler, Erich Fuchs, Marco Ivaldo, Ives Radrizzani, Peter K. Schneider und Anna Maria Schurr-Lorusso. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. J. G. FICHTE, GA I, 9: Werke 1806–1807.