S 492 – Siebte Vorlesung
Die im genetischen Verstehen der Äußerung und Sich-Erscheinung des Absoluten grundsätzlichen Spaltung in eine objektivierende, projizierende Sehweise eines objektiven und subjektiven Seins hängen in einer Fünffachheit der Projektion und Objektivation zusammen.
Fichte möchte jetzt die Differenzierung der Standpunkte herausarbeiten, wobei sie nie für sich alleine und isoliert existieren können. Durch den Gegensatz (vgl. ebd. S 493) sollen sie aber formal unterschieden und voneinander abgegrenzt und klarer bestimmt werden.
a) Zuerst lenkt Fichte seinen Blick auf den einen, konzentrierenden Sehakt – und im Gegensatz dazu wäre die Scheinwelt des völligen Zerstreutseins zu beschreiben. Diese Sicht- und Lebenweise eines „Zerfliessens“ (ebd. S 494) ist die aller verwerflichste Seh- und Lebensart, noch vor dem spezifischen Standpunkt eines sinnlich-naturalen, oder gesetzhaften Sehens anzusiedeln, geschweige vor dem Standpunkt eines moralischen oder religiösen Lebens.
„Alle innere geistige Energie erscheint im unmittelbaren Bewusstseyn derselben, als ein sich Zusammennehmen, Erfassen und Contrahiren seines ausserdem zerstreuten Geistes in Einen Punct, und als ein sich Festhalten in diesem Einheits|puncte gegen das stets fortdauernde natürliche Bestreben, diese Contraction aufzugeben, und sich wiederum auszudehnen.“ (ebd. S 493.494)
Die Besinnung und Konzentration hingegen führe zur Klarheit; das Gegenteil wäre:
„In dem zweiten Zustande ist keine Kraft: der Geist ist bei der Weltauffassung gar nicht mit dabei und zu Hause, sondern er ist, wie in einer alten Erzählung Baal, über Feld gegangen, oder dichtet oder schläft: wie vermöchte er im Objecte sich zu fühlen, und sich von ihm abzusondern? Er verfliesset sich für sich selbst mit ihm, und so verblasset ihm seine Welt, und er erhält statt des lebendigen Wesens, an welches er sein eigenes Leben setzen, und dieses ihm entgegensetzen müsste, nur einen grauen Schatten und ein Nebelgebilde.“ (ebd. S 494).
Dieser Zustand wäre lebendiges Totsein, es gilt „nichts für wahr und nichts für falsch; sie lieben nichts und hassen nichts. (…)“ (ebd. S 495)“
Fichte beschreibt hier psychologisch sehr gut diesen Narzissmus, diese Bipolarität von Größenwahn und die Abwendung von der Außenwelt Es ist „sündlicher Hochmuth“ (ebd. S 496); „Was diesen Zustand unheilbar macht, und ihn der Anregung zu einem bessern und der Mittheilung von aussen ver|schliesst, ist das mit demselben verbundene, fast totale Unvermögen, etwas über ihre Denkart hinausliegendes auch nur historisch in seinem wahren Sinne zu nehmen.(…)“ (ebd. S 496.497); eine „geistige Nichtexistenz“ (ebd. S 497)
Diese narzistische Selbstverliebtheit und geistige Untätigkeit wird von Fichte als erster Gegensatz zum klaren geistigen Leben herausgestellt.
b) Er kommt dann zu den weiteren vier konkreten Objekten der Konzentration des Sehens. Der systematische Zusammenhang der geistigen Zustände und der kommenden Standpunkte ist so zu fassen:
„Diese Schilderung der geistigen Nichtexistenz, oder mit dem Bilde des Christenthums, des Todtseyns und Begrabenseyns bei lebendigem Leibe, wurde hier gemacht, theils, um | durch den Gegensatz damit das geistige Leben klarer darzustellen, theils aber und zweitens ist sie selbst ein nothwendiger Bestandtheil der Beschreibung des Menschen in Beziehung auf sein Verhältniss zum Wohlseyn; welche Beschreibung wir demnächst zu liefern haben. Zum Leitfaden dieser Beschreibung besitzen wir und bedienen wir uns der oben in der fünften Vorlesung aufgestellten fünf, oder, da der Standpunct der Wissenschaft von populären Vorträgen auszuschliessen ist, der übrigbleibenden vier Standpuncte der Weltansicht, als ebenso vieler Standpuncte des Genusses der Welt und seiner selber. In ihren Zusammenhang gehört nicht einmal der jetzt beschriebene Zustand der geistigen Nichtexistenz; dieser ist überhaupt gar kein mögliches positives Etwas, sondern er ist ein reines Nichts; (…)“ (ebd. S 497. 498)
Der Zustand gegenüber der Klarheit des Sehens und Wollens und Handelns ist nicht einmal „Genuss“ (ebd. S 498), weil selbst „Genuss“ mit Liebe zu tun hat, und Liebe ist das innerste Wesen des Absoluten und seiner Sich-Erscheinung.
„Liebe ist der Affect des Seyns“ (ebd. S 498)
„Offenbar eben ein Gefühl dieses Sichzusammenhaltens, und Sichtragens, also eben einer Liebe zu sich selbst, und wie ich sagte, Affect, Afficirtseyn durch das Seyn, d.i. eben Gefühl des Seyns als Seyns. Setzen Sie ferner, dass dem endlichen, d.i., wie wir es oben beschrieben haben, dem stets im Werden begriffenen Seyn ein Urbild seines wahren und ihm gebührenden Seyns beiwohne, so liebet es eben dieses Urbild; und wenn sein wirkliches, ihm fühlbares Seyn mit diesem Urbilde übereinkommt, so ist seine Liebe befriedigt und ihm ist wohl: stimmt hingegen sein wirkliches Seyn mit jenem | dennoch lebendiggewordenen, und unaustilgbaren und ewig geliebten, Urbilde nicht überein, so ist ihm unwohl, denn ihm mangelt das, was es sich nicht entbrechen kann, doch über alles zu lieben, es sehnet sich und ängstigt sich immerdar nach ihm hin. Wohlseyn ist Vereinigung mit dem Geliebten; Schmerz ist Getrenntheit vom Geliebten.“ (ebd. S 498.499)
Selbst dieses sinnliche LebensgefĂĽhl ist dem vorher geschilderten passiven, lebendigen Totsein, vorzuziehen.
„Auf dem ersten Standpuncte der Weltansicht, wo allein dem Gegenstande des äusseren Sinnes Realität beigemessen wird, ist, in Beziehung auf den Genuss seiner selbst und der Welt, der sinnliche Genuss das herrschende. Auch dieser (was in wissenschaftlicher Absicht, und zur Erläuterung des erst hingestellten Grundsatzes dieser ganzen Materie gesagt wird), auch dieser gründet sich auf den Affect des Seyns, hier, als eines organisirten sinnlichen Lebens, und auf die Liebe zu diesem Seyn, und zu den unmittelbar gefühlten (keinesweges etwa, wie einige sich ausgedacht haben, durch einen geheimen Schluss eingesehenen), befördernden und entwickelten Mitteln dieses Seyns.“ (ebd. S 499)
Der sinnliche Genuss wirkt sich auch in gesellschaftlicher Weise der Affekte aus z. B. als Geiz. (vgl. ebd. S 500)
c) „Der zweite Standpunct der Weltansicht war der der Rechtlichkeit, auf welchem ganz allein Realität beigemessen wird einem das vorhandene ordnenden geistigen Gesetze. Welches ist der Affect dieses Standpunctes, und demzufolge sein Verhältniss zum Wohlseyn?“ (ebd. S 500)
Es ist der Standpunkt Kants von der autonomen Freiheit und dem ihr selbst gegebenen Gesetz eines Kategorischen Imperativs.
Fichte beschreibt öfter diese „niedere Moralität“ (Fünfte Vorlesung, ebd. S 468)1 einer selbstständigen, eher selbstgefällig zu nennenden Gesetzlichkeit. Er will durch „scharfe Consequenz“ „neues Licht“ (ebd. S 500) in diese Form der Moralität bringen.
„Der Mensch auf diesem Standpuncte ist in der tiefsten Wurzel seines Seyns selbst das Gesetz. Dieses Gesetz ist das auf sich selbst ruhende, sich tragende und durchaus keines | anderen ausser sich bedürfende, oder ein solches auch nur annehmen könnende Seyn eines solchen Menschen: Gesetz, schlechthin um des Gesetzes willen, und verschmähend durchaus jeden Zweck ausser ihm selber.“ (ebd. S 500. 501)
Das hier angesprochene Zweckdenken, welches Endzweck-Denken schwebt hier Fichte vor? Ist es das Endzweckdenken eines „höchsten Gutes“ nach Kant? Ein im Gottespostulat Kants zentriertes Zweckdenken von proportionierter Glückseligkeit?
Dieses Denken ist nach Fichte „leer“ und „kalt“, mit „wegwerfender Verachtung“ zu strafen. (ebd. S 501). Da dieses Denken nur aus einem selbstgegebenen Gesetz kommt, bleibt dem Wollen und Handeln wiederum nur das „sinnliche Wohlleben“, selbst „jenseits des Grabes“ (ebd. S 501)
Es ist ein von Affekten der Liebe kaltes Leben – und selbst eine positive Selbstachtung ist ausgeschlossen, weil alles vom Gesetz her befohlen ist, das Urteil der Selbstachtung und die Achtung anderer.
„Der Mensch, auf dem zweiten Standpuncte der Weltansicht, sey selber das Gesetz, sagten wir; ein lebendiges, sich fühlendes, von sich selber afficirtes Gesetz, versteht sich, oder ein Affect des Gesetzes. Der Affect des Gesetzes aber, als Gesetzes und in dieser Form, ist, wie ich Sie auffordere selbst mit mir einzusehen, ein absoluter Befehl, ein unbedingtes Soll, ein kategorischen Imperativ; der gerade durch dieses Kategorische seiner Form alle Liebe und Neigung zu dem Befohlenen durchaus abweist. Es soll seyn, das ist alles: lediglich es soll. Wenn du es wolltest, so brauchte es nicht zu sollen, und das Soll käme zu spät und würde entlassen: umgekehrt, so gewiss du deines Ortes sollst und sollen kannst, willst du nicht, das Wollen wird dir erlassen, und die Neigung und Liebe ausdrücklich abgewiesen.“ (ebd. S 502)
„Des Menschen Interesse für sich selbst ist im Affecte des Gesetzes aufgegangen; dieser Affect aber vernichtet alle Neigung, alle Liebe und alles Bedürfniss. Der Mensch will sich nur nicht verachten müssen, weiter aber will er nichts, und bedarf nichts und kann nichts brauchen. In jenem seinem einzigen Bedürfnisse aber hängt er schlechthin von sich selbst ab, denn ein absolutes Gesetz, in welchem der Mensch aufgeht, stellt ihn nothwendig hin als durchaus frei. Durch diese Denkart wird er nun über alle Liebe und Neigung und Bedürftigkeit, und so über alles, was ausser ihm ist und nicht von ihm | abhängt, hinweggesetzt, (…)“ (ebd. S 503.504)
Ein nur „unbefriedigtes Bedürfnis macht (aber) unglücklich.“ (ebd. S 504); es ist die Denkart und die Lebenseinstellung des „Stoicismus“ (ebd.)
Fichte will diese „durch alle Ehren werthe Denkart“ schlieĂźlich etwas entschuldigen: Es ist nämlich ein falsches Gottesbild damit verbunden, vielleicht auch uneingestanden, dass man dessen Gunst nur durch gesetzmäßiges Betragen erreichen könne, – und dann wiederum nur mit dem Zweck, „sinnliches Wohlleben“ (ebd. S 505) zu erlangen.
„Diesen also gestalteten Gott lässt sie nun mit allem Rechte fallen, er soll fallen, denn er ist nicht Gott; und auch die höhere Ansicht erhält in dieser Gestalt Gott nicht wieder, wie wir dies an seinem Orte klar einsehen werden. Der Stoicismus verwirft nicht das Wahre, sondern nur die Lüge; (…)“ (ebd. S 505)
Es kommt eine eigenartige Missdeutung und WidersprĂĽchlichkeit selbst des sinnlichen Genusses in diesen „Stoizismus“ hinein, „sich auch christlich nennenden Systems“ (ebd.). Der Genuss kann gewollt und fĂĽr gut geheiĂźen werden, zugleich ist er aber durch ein „heiliges Gesetz“ (ebd.,) nicht zu erlauben – während die wahre Religion die Seligkeit „unmittelbar“ darreicht. Die Folge ist: Die sinnliche GlĂĽckseligkeit wird entweder wiederum zur alleinigen GlĂĽckseligkeit – von gewissen „Philosophen“ sogar ausdrĂĽcklich propagiert – oder sie wird wehmĂĽtig verachtet. Ein Widerstreit des Begehrens tritt ein:
„Somit bleibt der Wahn eines gewissen, sich auch christlich nennenden Systems, dass durch das Christenthum die sinnliche Begier heilig gesprochen und einem Gotte ihre Befriedigung aufgetragen und das Geheimniss gefunden werde, gerade dadurch, dass man ihr fröhne, zugleich diesem Gotte zu dienen, ein Irrthum. Die Glückseligkeit, die der sinnliche Mensch sucht, ist von der Seligkeit, welche die Religion nicht — verheisset, sondern unmittelbar darreichet, durch die Kluft der Unterwerfung unter ein heiliges Gesetz, vor dem jede Neigung verstumme, unvereinbar abgetrennt; nicht bloss dem Grade, sondern dem inneren Wesen nach verschieden.“ (ebd. S 505)
Der zweite Standpunkt kann als „Apathie“ (ebd. S 506) zusammengefasst werden.
Die Form des Lebens aus der Äußerung und Sich-Erscheinung des Absoluten wurde genetisch als Form der Sinnlichkeit und der Gesetzlichkeit im 1. und 2. Standpunkt herausgearbeitet; es soll jetzt höher gestiegen werden:
„Wie eine solche Beschreibung des geistigen Lebens zu höheren Stufen hinaufsteigt, wird sie begreiflicherweise für die Majorität eines gesunkenen Zeitalters dunkler und schwerer zu verstehen, weil sie nun eintritt in derselben fremde, weder durch eigene geistige Erfahrung, noch durch Hörensagen |bekannte Regionen. Dies leget dem, der es einmal unternommen über solche Gegenstände zu reden, die Pflicht auf, wenigstens, falls er auch die Hoffnung aufgeben müsste, von allen positiv verstanden zu werden, doch wenigstens vor jedem selbstveranlassten Misverständnisse sich zu verwahren;“ (ebd. S 507.508)
Das Sein ist schlechthin, ist unveränderlich; es ist aber auch da, äußerlich.
Die Grund-Folge-Einheit des genetischen Denkens soll die „Form“ genannt werden (vgl. ebd. S 509). Das wirkliche Da-Sein ist notwendige Form des absoluten Seins und ist durch das absolute Sein bestimmt. „Dieses nun ists, worauf mir alles ankommt; dies der organische Einheitspunct aller Speculation; und wer in diesen eindringt, dem ist das letzte Licht aufgegangen.“ (ebd. S 510)
Das Dasein muss „nothwendig folgen aus dem inneren Wesen (Gottes)“ (ebd.)
Der Johannes-Prolog reflektiert diese identische Aussage. Das Wort, das in Jesus erschienen ist, ist diese Form. „Gott trat in ihr also heraus, wie er in ihm selber ist.“ (ebd. S 510)
Der Übergang der Äußerung Gottes in seine Erscheinung und in den Begriff des „Daseins“, wie oben bereits geschildert, ist dabei nicht einsehbar, nur faktisch feststellbar. Es bleibt das Faktum der Erscheinung.
„Z.B.: Ein Theil der Form war die ins unendliche gehende Fortgestaltung und Charakterisirung des an sich ewig sich gleichbleibenden Seyns = A. Ich stelle, damit Sie hieran sich versuchen, Ihnen die Frage: Was ist denn nun in diesem unendlichen Gestalten und Charakterisiren das realiter und thätig Gestaltende und Charakterisirende selbst? Ist es etwa die Form? Diese ist ja an sich ganz und gar nichts. Nein; das absolut Reale =A ist es, welches — sich gestaltet; sich, sage ich, sich selbst, wie es innerlich ist, — gestaltet, sage ich, nach dem Gesetze einer Unendlichkeit. Es gestaltet sich nicht Nichts, sondern es gestaltet sich das innere göttliche Wesen.“ (ebd. S 510.511)
„Für unsern gegenwärtigen Zweck aber kommt es auf den zweiten Theil der Form an. auf welchen wir den aufgestellten, und hoffentlich nun eingesehenen Grundsatz bestimmend anwenden wollen; wofür ich Ihre Aufmerksamkeit von neuem in Anspruch nehme.“ (ebd. S 511)
Anders gesagt: Werden der Grund (als Anfang) und die Folge (als bestimmtes Ende) im aktualen Seh-Akt objektiviert und als Produkte gezählt, so ergibt sich eine FĂĽnffachheit des Bestimmens: Natur, Recht, Moralität, Religion und die Reflexivität der Ichheit selbst. Es sind zwei Bestimmtheiten, Natur und Recht – und zwei Bestimmbarkeiten, Moralität und Religion, schlieĂźlich die Form der Reflexivität des Ichs.
„Dieser zweite Theil der Form ist eine Spaltung in fünf neben einander liegende, und als herrschende Puncte gegenseitig sich ausschliessende Ansichtspuncte der Realität. Neben einander liegende, als herrschend gegenseitig sich ausschliessende darauf, dass dies im Auge behalten werde, kommt es hier an. Bewiesen ist es übrigens schon oben; auch leuchtet es unmittelbar und auf den ersten Blick ein. Nochmals: was ist es, das in dieser neuen Spaltung sich spaltet? Offenbar das Absolute, wie es in sich selber ist; welches selbige Absolute in | derselben Ungetheiltheit und Einheit der Form sich auch spaltet ins unendliche. Darüber ist kein Zweifel. Aber, wie sind diese Puncte gesetzt: sind sie als wirklich gesetzt, so wie die ganze in der Zeit ablaufende Unendlichkeit? Nein, denn sie schliessen sich gegenseitig als herrschende in einem und demselben Zeitmomente aus: darum sind sie insgesammt, in Beziehung auf Ausfüllung aller Zeitmomente durch einen von ihnen nur als gleich mögliche gesetzt: und das Seyn tritt, in Beziehung auf jeden einzelnen, nicht als nothwendig so zu nehmen, oder als wirklich also genommen, sondern nur als möglicherweise so zu nehmen ein.“ (ebd. S 511 u. 512)
Wie in anderen WLn zwischen Bestimmtheit und Bestimmbarkeit des Daseins unterschieden wird, so ergibt sich fĂĽr letzteren Teil der Bestimmbarkeit eine gewisse, reflexive Form der Freiheit:
„(…) das absolute Seyn stellt in diesem seinem Daseyn sich selbst hin, als diese absolute Freiheit und Selbstständigkeit sich selber zu nehmen, und als diese Unabhängigkeit von seinem eignen innern Seyn; es erschafft nicht etwa eine Freiheit ausser sich, sondern es ist selber, in diesem Theile der Form, diese seine eigne Freiheit ausser ihm selber; und es trennt in dieser Rücksicht allerdings sich in seinem Daseyn — von sich in seinem Seyn, und stösst sich aus von sich selbst, um lebendig wieder einzukehren in sich selbst. (…)“ (ebd. S 512)
Es wird vom Standpunkt der „(…) Selbst|ständigkeit der Reflexionsform“ (ebd. S 512.513) gesprochen – aber sie ist zugleich in einem System conditional-causaler Abhängigkeit vom Absoluten her zu sehen, aus der „ innern Nothwendigkeit des göttlichen Wesens unabtrennlich, so dass sie durch Gott selbst nicht aufgehoben werden kann.“ (ebd. S 513)
Für das Verständnis von Freiheit heißt das:
„1) Freiheit ist gewiss und wahrhaftig da, und sie ist selber die Wurzel des Daseyns: doch ist sie nicht unmittelbar real; denn die Realität geht in ihr nur bis zur Möglichkeit. Die Paradoxie des letzteren Zusatzes wird sich von selbst lösen, so wie unsere Untersuchung fortschreiten wird. 2) Freiheit innerhalb der Zeit, und zu selbstständig zu bestimmender Ausfüllung der Zeit, ist nur in Beziehung auf die angegebenen fünf Standpuncte des geistigen Lebens, und inwiefern sie aus diesen erfolgt; aber sie ist keinesweges jenseits dieser fünffachen Spaltung; denn da ist nur das innerlich bestimmte absolute Wesen in der ebenso unabänderlich bestimmten Form der Unendlichkeit und der durch die Realität selbst unmittelbar ausgefüllten Zeit;“ (ebd. S 513)
„ Nicht im Vorbeigehen, sondern unmittelbar zu unserem Zwecke gehörig, sagen wir folgendes, wozu ich von neuem Ihre Aufmerksamkeit auffordere. 1) Da jene Selbstständigkeit und Freiheit des Ich zum Seyn desselben gehört, jedes Seyn aber im unmittelbaren Bewusstseyn seinen Affect hat, so ist, inwiefern ein solches unmittelbares Bewusstseyn der eignen Freiheit stattfindet, nothwendig auch ein Affect für diese Selbstständigkeit, die Liebe derselben und der daraus folgende Glauben daran vorhanden. — Inwiefern ein solches unmittelbares Bewusstseyn der eignen Freiheit stattfindet, sagte ich: denn 2) welches, als die Hauptsache dieser ganzen Untersuchung und das eigentliche Ziel alles vorausgeschickten, ich Sie wohl zu fassen bitte — denn jene Freiheit und Selbstständigkeit ist ja nichts mehr, denn die blosse Möglichkeit der Standpuncte des Lebens: diese Möglichkeit aber ist ja auf die | angezeigten fünf Weisen an der Zahl beschränkt; so daher jemand die Auffassung nach diesem Schema vollendet, so hat er damit die Möglichkeit vollendet und sie zur Wirklichkeit erhoben;“ (ebd. S 513. u. 514)
Es kommt zu paradoxen und dialektischen Gegensatzbestimmungen, sodass die höchste Form der „weit heiligeren Liebe und einem weit beseligenderen Glauben“ (ebd. S 514) sogar den gefühlshaften „Affekt“ ablöst.
Was damit gemeint sein kann, bleibt m. E. unklar. Als Affekt einer Sinn-Erfüllung wäre alles verständlich, doch scheint mir nur komparativ etwas ausgedrückt zu sein!?
„(…) mit dem Seyn aber verschwindet nothwendig auch der Affect, und die Liebe und der Glaube, ohne Zweifel, um einer weit heiligeren Liebe und einem weit beseligenderen Glauben Platz zu machen. So lange das Ich noch durch ursprüngliche Selbstthätigkeit an seiner Selbsterschaffung zur vollendeten Form der Realität zu arbeiten hat, bleibet in ihm freilich der Trieb zur Selbstthätigkeit und der unbefriedigte Trieb als der heilsam forttreibende Stachel und das innige Selbstbewusstseyn der Freiheit, welches bei dieser Lage der Sachen absolut wahr ist und ohne Täuschung; wie er sich aber vollendet, fällt dieses Bewusstseyn, das nun allerdings trügen würde, hinweg, (…)“ (ebd.)
Der Begriff „Affekt“ und „Sein“ sind für den sinnlichen Teil der Reflexion vorbehalten, und die „Abwesenheit eines Affects, einer Liebe und eines Glaubens“ (ebd. S 514) sind die „Grundpuncte zweier“ „(…) durchaus entgegengesetzter Ansichten und Genussweisen der Welt.“ (ebd.)
Es wird nochmals ein genetischer Zusammenhang in genere geschildert: a) die Reflexionsform des Ich überhaupt; der actuale Sehakt und b) das bereits gebildete, besondere Ich als „eignes und selbstständiges Seyn, (…) “ (ebd. S 515) mit seinem Trieb- und Glückseligkeitsstreben.
a) Das Glückseligkeitsstreben verändert sich dabei, aber immer mit dem Charakter, dass Glückseligkeit von einem Objekt her gedacht wird – was das sinnliche Streben betrifft. Die „Freiheit und Selbstständigkeit auf dieser Stufe ist material“ (ebd. S 515.516)
b) Das Glückseligkeitsstreben „rein, leer und formal“ gefühlt, ist der Standpunkt der Gesetzmäßigkeit. (vgl. ebd. S 516). Dort fällt alle Neigung weg, auch das „Bedürfniss einer Glückseligkeit und eines beglückseligenden Gottes“ (ebd. S 516); die Freiheit wird dabei durch das Gegenteil, dem Gesetz nicht zu gehorchen, genötigt, sich selbst ein Gesetz zu geben.
Das sind aber alles unvollkommene Formen der Freiheit:
„Fassen Sie dies in der Tiefe, und darum in der Fülle der Klarheit also. 1) In die sich gegenseitig ausschliessenden Puncte der Freiheit tritt das göttliche Wesen nicht ganz und ungetheilt, sondern es tritt in diese nur einseitig ein: jenseits dieser Puncte aber tritt es unverdeckt durch irgend eine Hülle, welche nur in diesen Puncten gegründet ist, so wie es in sich selber ist, ein; sich fortgestaltend ins Unendliche: in dieser Form des ewig fortfliessenden Lebens, welche unabtrennlich | ist von seinem an sich einfachen, innern Leben. Dieser ewige Fortfluss des göttlichen Lebens ist nun die eigentliche innerste und tiefste Wurzel des Daseyns, — der oben genannten absolut unauflöslichen Vereinigung des Wesens mit der Form.“ (ebd. S 516 u. 517)
Erst synthetisch, durch die gegensätzlich sich ausschließenden Punkte von sinnlichem und gesetzhaften Denken hindurch, wird der moralische Standpunkt, und nochmals höher, der religiöse Standpunkt erreicht:
„ Offenbar führt nun dieses Seyn des Daseyns, so wie alles Seyn, bei sich seinen Affect; es ist der stehende, ewige und unveränderliche Wille der absoluten Realität, so sich fort zu entwickeln, wie sie nothwendig sich entwickeln muss. (sc. das wäre der Standpunkt der Moralität); 2) So lange nun aber irgend ein Ich noch in irgend einem Puncte der Freiheit steht, hat es noch ein eigenes Seyn, welches ein einseitiges und mangelhaftes Daseyn des göttlichen Daseyns, mithin eigentlich eine Negation des Seyns ist, und ein solches Ich hat auch einen Affect dieses Seyns, und einen dermalen unveränderlichen und stehenden Willen, dieses sein Seyn zu behaupten. Sein immerfort vorhandener Wille ist daher gar nicht Eins mit dem stehenden Affecte und Willen des vollendeten göttlichen Daseyns. (sc. was der Standpunkt der Religion wäre; die Selbst-aufgabe einer egoistischen Freiheit zugunsten einer religiösen Freiheit der Hingabe und und der dann göttlich zu nennenden Liebe.) (ebd. S 517)
Es folgt nochmals eine Darlegung des gesetzhaften Denkens (vgl. ebd. S 517.518) und die Folge des Begriffes einer „Indifferenz“.
Der Glaube an eine juridische Selbstständigkeit des Menschen fällt weg, wenn es zum „höchsten Act der Freiheit“ (ebd. S 518) kommt, dem religiösen Akt:
„So wie durch den höchsten Act der Freiheit und durch die Vollendung derselben dieser Glaube schwindet, fällt das gewesene Ich hinein in das reine göttliche Daseyn, und man kann der Strenge nach nicht einmal sagen: dass der Affect, die Liebe und der Wille dieses göttlichen Daseyns die seinigen würden; indem überhaupt gar nicht mehr Zweie, sondern nur Eins, und nicht mehr zwei Willen, sondern überhaupt nur noch Einer und ebenderselbe Wille Alles in Allem ist. So lange der Mensch noch irgend etwas selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm, denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz und bis in die Wurzel vernichtet, bleibt allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott.“ (ebd. S. 518)
Es sind dies zweifellos mystische Stellen im besten Sinne des Wortes – wie sie teilweise wörtlich bei Meister Eckhart oder anderen Mystiker zu finden wären – , aber trifft das den Gehalt einer Religion, geschweige einer positiven Offenbarung?
Ins Unabsehbare wird die Idealform moralischer Liebe der Möglichkeit nach als religiöse Liebe und Liebe zu Gott erweitert – aber es bleibt eine nur theoretische und faktische Nachkonstruktion der inneren Gesetzesgenesis der Sich-Erscheinung des Absoluten. Die Deduktion ist die einer Idee, die nach Gesetzen der Erweiterung der Möglichkeit des Denkens, hier von Liebe, zahlreiche Beispiele liefern kann, aber es bleibt diese Deduktion unvollendet, weil sie stets unter zeitlichen Bedingungen geschieht. Die Vollendung in concreto, so meine Sicht, mĂĽsste die eines wahren Bildes des wahren Erscheinungsgrundes sein – und muss unmittelbar gegenwärtig und ĂĽberzeugend sein. Das wäre m. E. der Kern von „Vergebung“, wie ihn die christliche Offenbarung lehrt. Diesen Kern  haben Kant und Fichte ihn gesehen?Â
Es wird für mich unerwartet von der bleibenden mystischen Liebe zu Gott in den moralischen Standpunkt zurückgewechselt – mit dem Ausblick, dass in der nächsten Vorlesung der religiöse Standpunkt noch deutlicher herausgearbeitet werden soll:
„Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere, dem niedern, durch das Daseyn eines Selbst bestimmten Leben, durchaus entgegengesetzte Leben; und nach unserer ersten Weise zu zählen, die Besitznehmung vom dritten Standpuncte der Weltansicht; der reinen und höheren Moralität.“ (ebd. S 518)
„Das eigentliche innere Wesen dieser Gesinnung und die im Mittelpuncte dieser Welt einheimische Seligkeit wollen wir in der künftigen Stunde beschreiben. Jetzt wollen wir nur noch die Beziehung derselben auf die niedere und sinnliche Welt angeben.“ (ebd. S 519)
Die sinnliche Welt und die gesetzhafte Welt – sie werden „Mittel für den Zweck, das zu thun, was er selber will und über alles liebt, den in ihm sich offenbarenden Willen Gottes“ (ebd. S 519)
„Es ist schlechthin unmöglich und ein absoluter Widerspruch, dass jemand zweierlei liebe, oder zwei Zwecke habe. Die beschriebene Liebe Gottes tilgt schlechthin die persönliche | Selbstliebe aus. Denn nur durch die Vernichtung der letzteren kommt man zur ersteren. Wiederum, wo die persönliche Selbstliebe da ist, da ist nicht die Liebe Gottes; denn die letztere duldet keine andere Liebe neben sich.“ (ebd. S 519.520)
Die religiöse Liebe unterscheidet sich von der sinnlichen Selbstliebe dadurch, dass „ (…) die Liebe Gottes alle Gestalt des Lebens und alle Objecte nur als Mittel betrachtet, und weiss, dass durchaus alles, was gegeben wird, das rechte und nothwendige Mittel ist; darum durchaus und schlechthin kein auf irgend eine Weise bestimmtes Object will, sondern alle nur nimmt, wie sie kommen.“ (ebd. S 520)
Fichte beschreibt dann ein verwerfliches Vorziehen der irdischen oder himmlischen Glückseligkeit gegenüber der reinen, moralischen Gottesliebe um seiner selbst willen – vgl. ebd. S 520 – 521. Das wäre „thörichter Aberglaube, Irreligiosität und wahrhafte Lästerung des heiligen und beseligenden Willens Gottes.“ (ebd. S 522).
SchlieĂźlich ist die Bejahung des Willens Gottes die höchste moralische und religiöse Tugend. (Fichte formuliert ein Gebet in die Ergebung in den Willen Gottes – vgl. ebd. S 522, 523).
1„Auch wir für unsere Person haben diese Weltansicht, niemals zwar als die höchste, aber als den eine Rechtslehre und eine Sittenlehre begründenden Standpunct in unserer Bearbei|tung dieser beiden Disciplinen angegeben, durchgeführt und, wie wir uns bewusst sind, nicht ohne Energie ausgesprochen: es kann daher in unserem Zeitalter denen, welche für das Gesagte sich näher interessiren, nicht an Exemplaren der beschriebenen zweiten Weltansicht fehlen. Uebrigens gehört die reinmoralische innere Gesinnung, dass lediglich um des Gesetzes willen gehandelt werde, die auch in der Sphäre der niederen Moralität stattfindet, und deren Einschärfung weder von Kant, noch von uns vergessen worden, nicht hierher, wo wir es allein mit den Objecten zu thun haben. (ebd. 467. 468)
(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023Â