S 416 Zweite Vorlesung
Die Einsicht in das Wahre und Gute und Schöne, „in der Schulsprache die tiefste Metaphysik und Ontologie“ (ebd. S 416) genannt, diese absolute Einheit in der Äußerung des Absoluten, soll in eine systematische Form gebracht werden.
Es gibt eine Pflicht a) die höchste Einheit im Erkennen zu suchen und b) die Pflicht sie weiterzugeben in „einer gegenseitigen Verbindlichkeit“ (ebd. S 421).
„Dieser Vortrag lässt die Wahrheit vor unseren Augen aus einer Welt voll Irrthum werden, und sich erzeugen.“ (ebd. S 422)
Der Anspruch auf absolute Wahrheit hat große Hindernisse vor sich, man fühlt sich „beleidigt“ (ebd. S 423) oder fühlt sich parteiisch eingenommen (vgl. ebd.), man begegnet einem „(…) vornehm tönenden Namen des Skeptizismus“ (ebd. S 424)
„Sodann stellt in diesem Zeitalter unserem Vorhaben sich entgegen das ungeheuer paradoxe, ungewöhnliche und fast unerhörte Aussehen unserer Ansichten, indem dieselben gerade das zur LĂĽge machen, was dem Zeitalter bisher fĂĽr die theuersten HeiligthĂĽmer seiner Cultur und seiner Aufklärung gegolten hat. Nicht, als ob unsere Lehre an sich neu wäre, und paradox. Unter den Griechen ist Plato auf diesem Wege. Der Johanneische Christus sagt ganz dasselbe, was wir lehren und beweisen; und sagt es sogar in derselben Bezeichnung, deren wir uns hier bedienen; (…)“(ebd. S 424)
Fichte spricht dann von verschiedenen Zeitaltern, „(…) die Modernen – wir sind die eigentlichen Nachfolger der Alten“ (ebd. S 425) – spricht allgemein von der Transzendentalphilosophie, wie sie aber auch wieder abgelehnt wurde (vgl. ebd.), als ginge es nur um das „persönliche, sinnliche Wohlseyn“ (ebd.).
Er beschreibt dann den an ihn gerichteten Vorwurf des „Mysticismus“ (ebd. S 427) – wie er ihn aber für den Begriff einer wahren Religion in Anspruch nehmen wird:
„(….) Wir aber sagen: die wahre Religion ist etwas höchst Beseligendes, und dasjenige, was allein dem Menschen, hienie|den und in alle Ewigkeit, Daseyn, Werth und Würde giebt, und es muss aus allen Kräften gearbeitet werden, dass, wo möglich, diese Religion an alle Menschen gelange; dies sehen wir ein mit absoluter Evidenz, und es bleibt daher auch dabei.“ (ebd. S 428.429)
Er erläutert noch weitere GrĂĽnde, warum die Religion abgelehnt wird – vgl. ebd. S 429. Wie könnte den „Taubstummen“ und „Blindgeborenen“ von heute nachgeholfen werden?
S 431 Dritte Vorlesung:
Fichte kommt zur transzendentalen Analyse des menschlichen Geistes, wie Einheit und Mannigfaltigkeit in einem organischen Leben des Bewusstseins, genetisiert in und aus der Erscheinung des Absoluten, hervorgehen und gedacht werden können. Leben, Liebe, Moralität und Religion sind ineinander gebündelt und auseinander hervorgehend.
„Unser Leben ist nur dasjenige, was aus jenem nach dem Gesetze zu Stande gekommenen, von uns mit klarem Bewusstseyn erfasst, und in diesem klaren Bewusstseyn geliebt und genossen wird. Wo die Liebe ist, da ist das individuelle Leben, sagten wir einmal: die Liebe aber ist nur da, wo da ist das klare Bewusstseyn.„ (ebd. S 432)
Fichte bringt Beispiele einer transzendentalen Analyse der Sinneserfahrung – gegen alle seichten Argumente der Sensualisten. Es muss transzendental gegen die Einwände einer religiösen Erfahrung argumentiert werden. Nur dank des sich wissenden Wissens, des Selbstbewusstsein, gibt es sinnliche Erfahrungen. Alle Wahrnehmung ist im Denken begrĂĽndet, ist ein Gedachtes (vgl. ebd. S 433 – 436)
Er legt das oberflächliche „Meinen“ (ebd. S 437) gegenüber dem höheren Denken da. Im wirklichen Denken wird das „allein Mögliche, Wirkliche und Nothwendige“ gedacht. „Die allererste Aufgabe dieses Denkens ist die: das Seyn scharf zu denken; und ich leite zu diesem Denken Sie also. — Ich sage: das eigentliche und wahre Seyn wird nicht, entsteht nicht, geht nicht hervor aus dem Nichtseyn.“ (ebd. S 438)
„Zweitens setze ich hinzu: auch innerhalb dieses Seyns kann nichts neues werden, nichts anders sich gestalten, noch wandeln und wechseln; sondern wie es ist, ist es von aller Ewigkeit her, und bleibt es unveränderlich in alle Ewigkeit. Denn, da es durch sich selbst ist, so ist es ganz, ungetheilt und ohne Abbruch alles, was es durch sich seyn kann und seyn muss.“ (ebd. S 439)
Die Frage taucht jetzt auf, wie vom in sich geschlossenen Sein zur Äußerung dieses Seins zu kommen, zum Begriff des „Daseyns“ (ebd.) „Ich wünschte sehr, dass Sie das gesagte gleich auf der Stelle fassten: und Sie werden es ohne Zweifel, wenn Sie nur den zuerst constituirten Gedanken das Seyns recht scharf gedacht haben; und jetzt sich bewusst werden, was in diesem Gedanken liegt, und was nicht in ihm liegt. „(ebd.)
Sein, inneres und in sich verborgenes Sein – und Dasein werden unterschieden; dies geschieht von selbst in jedem Bilden und Nachbilden eines „Ist“ (ebd. S 440) Es wird beim Nachdenken ĂĽber das Sein das Dasein gemeinhin leicht ĂĽbersprungen.
„Das Bewusstseyn des Seyns, das Ist zu dem Seyn — ist unmittelbar das Daseyn:“(ebd. S 441)
Diese ganze Bewusstseinssetzung und Struktur des Wissens ist von ihm so zusammengefasst:
„Wir haben sonach, welches unser Viertes wäre, im Denken darzuthun, dass das Bewusstseyn des Seyns, die einzigmögliche Form und Weise des Daseyns des Seyns, somit selber ganz unmittelbar, schlechthin und absolut dieses Daseyn des Seyns sey. Wir leiten Sie zu dieser Einsicht auf folgende Weise: Das Seyn — als Seyn, und bleibend Seyn, keinesweges aber etwa aufgebend seinen absoluten Charakter, und mit dem Daseyn sich vermengend und vermischend, soll daseyn. Es muss darum von dem Daseyn unterschieden und demselben entgegengesetzt werden; und zwar, — da ausser dem absoluten Seyn schlechthin nichts anderes ist, als sein Daseyn, — diese Unterscheidung, und diese Entgegensetzung muss — in dem Daseyn selber — vorkommen; welches, deutlicher ausgesprochen, folgendes heissen wird: das Daseyn muss sich selber als blosses Daseyn fassen, erkennen und bilden, und muss, sich selber gegenüber, ein absolutes Seyn setzen und bilden, dessen blosses Daseyn eben es selbst sey: es muss durch sein Seyn, einem anderen absoluten Daseyn gegenüber, sich vernichten; was eben den Charakter des blossen Bildes, der Vorstellung oder des Bewusstseyns des Seyns giebt;“ (ebd. S 441)
M. Gerten beschreibt diese transzendentale Selbstbesinnung wie folgt: „Das Entscheidende an der Thematisierung des Absoluten in der Wissenschaftslehre ist, dass sie in einer »Besonnenheit auf das Wissen« geschieht. Aus der Einsicht, »dass das Wissen das Höchste sei, von dem gewusst werden könne«<, ergibt sich folgerichtig, dass die Wissenschaftslehre nicht in einer »Seinslehre<«<, auch nicht der des absoluten Seins, ›wie es in und an sich selbst ist<, bestehen kann, denn »die einzig mögliche absolute Lehre und Wissenschaft ist Wissenschaft des Wissens«< (Die Wissenschaftslehre 1813), SW X, 3 f.). Wissenschaftslehre bleibt also transzendentale Vernunftkritik, aber sie versteht sich als deren Vollendung, indem sie durch ein vollständiges Verstehen des Wissens zeigt, was das Wissen, die Vernunft, im Innersten ist: Bild des Absoluten, Erscheinung des Absoluten.“ 1
Das vom absoluten Sein unterschiedene Dasein ist ein notwendiger Bewusstseins- oder Begriffsprozess, d. h. Bewusstsein ist logische Folge, notwendiges Sehen im Dasein. Im absoluten FĂĽr-sich-Sein des Bewusstseins und des Begriffes ist das Dasein als dessen Grund da.
„(…) Dies kommt daher, weil, wie schon oben gezeigt, das Daseyn gar nicht seyn kann, ohne sich zu finden, zu fassen und vorauszusetzen, da ja das Sichfassen unabtrennlich ist von seinem Wesen; und so ist ihm denn durch die Absolutheit seines Daseyns, und durch die Gebundenheit an dieses sein Daseyn, alle Möglichkeit, über dasselbe hinauszugehen, und jenseits desselben sich noch zu begreifen und abzuleiten, abgeschnitten.“ (ebd. S 442)
Wie kann es sich das Bewusstsein (oder der Begriff) als Folge des Daseins weiter verstehen? Es kann sich als genetische Folge aus dem Absoluten und als Dasein nicht selbst ableiten: Wenn es sich begreift und fasst, fasst es sich zugleich als Wesen in seinem Dasein.
„Keinesweges aber — welches unser Fünftes wäre, — kann dieses Wissen in ihm selber begreifen und einsehen, wie es selber — entstehe, und wie aus dem innern und in sich selber verborgenen Seyn ein Daseyn, eine Aeusserung und Offenbarung desselben, folgen möge, wie wir denn auch oben, beim Anknüpfen unseres dritten Punctes, ausdrücklich eingesehen, dass eine solche nothwendige Folge für uns nicht vorhanden sey. Dies kommt daher, weil, wie schon oben gezeigt, das Daseyn gar nicht seyn kann, ohne sich zu finden, zu fassen und vorauszusetzen, da ja das Sichfassen unabtrennlich ist von seinem Wesen; und so ist ihm denn durch die Absolutheit seines Daseyns, und durch die Gebundenheit an dieses sein Daseyn, alle Möglichkeit, über dasselbe hinauszugehen, und jenseits desselben sich noch zu begreifen und abzuleiten, abgeschnitten.“ (ebd. S 442)
„Ohnerachtet nun dieses wahrhaft reale Leben des Wissens — sich, in Absicht seiner besonderen Bestimmtheit, — im Wissen nicht erklären lässt, so lässt es sich denn doch in diesem | Wissen im Allgemeinen deuten; und es lässt sich verstehen, und mit absoluter Evidenz einsehen, was es seinem inneren und wahren Wesen nach sey; — welches unser Sechstes wäre. Ich leite Sie zu dieser Einsicht also: was wir oben, als unseren vierten Punct, folgerten, dass das Daseyn nothwendig ein Bewusstseyn sey, und alles andere, was damit zusammenhing, — folgte aus dem blossen Daseyn, als solchem, und seinem Begriffe.“ (ebd. S 442.443)
Das in sich ruhende Dasein ist das obige Leben, das aus der Kraft des Daseins des Absoluten lebt, faktisch, wenn auch nicht einsichtig werden kann, wie es daraus hervorgeht.
„Das reale Leben des Wissens ist daher, in seiner Wurzel, das innere Seyn und Wesen des Absoluten selber, und nichts anderes; und es ist zwischen dem Absoluten oder Gott, und dem Wissen in seiner tiefsten Lebenswurzel, gar keine Trennung, sondern beide gehen völlig ineinander auf.“ (ebd. S 443)
Dasein ist göttliches Dasein, ist Leben, ist Bild und Begriff im Bewusstsein – und wird das richtig gedeutet und in seinem Zusammenhang gesehen, so ist das die Aufgabe des Denkens. „Und so ist denn von allen Seiten erwiesen, dass nur im reinen Denken unsere Vereinigung mit Gott erkannt werden könne.“ (ebd. S 445)
Wie das absolute Sein aber nur in sich geschlossen und eins sein kann, so ist das Bewusstsein trotz seiner mannigfaltigen geistigen Handlungen ebenfalls nur eins, in sich zusammenhängend in seinen Handlungen. Aufgabe des Denkens ist es deshalb, die Mannigfaltigkeit, sei es durch mehrere Subjekte oder durch mannigfaltige Objekte verursacht, zur reinen Einheit des „seligen Lebens“ (ebd. S 445) zurückzuführen. Es gibt das niedere, zerstreute Leben, und das höhere, wahrhaftige Leben – wie in der 1. Vorlesung schon angeklungen.
Wie es zur Mannigfaltigkeit und Veränderung kommen kann, ist jetzt Aufgabe der nächsten Stunden.
(c) Franz Strasser, 25. 7. 2023Â
1Michael Gerten, Das Verhältnis von Wissen, Moralität und Liebe. Zum Philosophiebegriff des späten Fichte. In: Fichte-Studien, Bd. 17., NY 2000, S 299 – 318, ebd. S 308.