Von wem geht das Recht aus?

Die Legitimation von Recht und HerrschaftsausĂĽbung ist mir schon immer eine Frage gewesen.

Wenn in unserem österreichischen Verfassungsgerichtshof die goldenen Letter prangen: „Österreich ist eine demokratische Republik“ und „Ihr Recht geht vom Volk aus“, so ist darin viel verpackt an Herrschaftsbegründung und Herrschaftsausübung, an Machtbegrenzung des Staates und Schutz des einzelnen.

 

Die österreichische Verfassung ist geradezu Vorbild geworden vieler andere Verfassungen von Staaten. (Siehe diverse Interneteintragungen z. B. unter https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesverfassung_(%C3%96sterreich)

Oder siehe zum Verfassungsgerichtshof https://www.parlament.gv.at/verstehen/kontrolle/verfassungsgerichtshof/index.html

 

Anlässlich 100 Jahre Verfassung (1. Okt. 2020) waren viele Reden und Rezensionen zu lesen, kritische bis wohlwollende Kommentare. Kritisch in die Richtung, dass das Bundesverfassungsgesetz (B-VG) im Laufe der Zeit anscheinend von zu vielen Materien überladen worden sei – siehe z. B. Kommentar zur „verwelkten Schönheit“: https://www.derstandard.at/story/2000120376604/verwelkte-schoenheit)

Ich las aber auch Zustimmungen – z. B. von Ewald Wiederin (siehe unter „Kommentare“ zum obigen Link):
„Beginnen wir zu lesen, in Art. 1: „Ă–sterreich ist eine demokratische Republik.“ Der Akzent liegt auf dem Hauptwort, der Republik; die Demokratie ist eine BeifĂĽgung, die wie selbstverständlich daherkommt. Der zweite Satz, von Hans Kelsen geschrieben, erläutert den ersten: „Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Diesmal steht das Volk im Zentrum und das Recht an der Seite: Rechtsstaatlichkeit wird genauso wenig feierlich proklamiert wie zuvor die Demokratie. Die Pointe liegt freilich in dem, was fehlt, was ĂĽblicherweise in Verfassungen steht und wogegen der Satz sich wendet.
Nicht alle Gewalt geht vom Volk aus, das Recht geht vom Volk aus. Das Volk herrscht zwar, aber durch das Recht und nicht mit Gewalt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind so miteinander verklammert. Herrschaft ist legitim nur durch Recht, Recht ist legitim nur als Produkt demokratischer Verfahren.“ (Hervorhebungen von mir).

1) Diese gegenseitige Interpretation und Ergänzung von Demokratie und Recht nach E. Wiederin ist eine wichtige Klarstellung und Interpretation. Denn je nach Denkakt der Bestimmung fällt die Begrifflichkeit anders aus und wird anders verstanden:

Nimmt man „Demokratie“ als Totalität, als Allgemeinheit des Begriffs, als substantielle Einheit eines bestimmten Denkens von Wert und Würde jedes einzelnen, oder nur als Anschauungsform eines Inbegriffs, als eine Summe von Personen, die z. B. alle fünf Jahre zu einer Wahl gehen dürfen?
NatĂĽrlich, so die Klarstellung im 2. Hauptsatz des B-VG Art. 1, „Ihr Recht geht vom Volk aus“, also fällt das Besondere einer „Demokratie“ unter einen wesentlichen Rechtsbegriff. Wenn nicht das mehrdeutige Wort „Volk“ dazwischen käme! (Vielleicht nur eine Allergie von mir?!)

Das „Volk“ im 2. Hauptsatz der B-VG Art. 1 verstehe ich nämlich zuerst  nur als Inbegriff einer Anschauungsform, nicht als selbst abgeleitete Idee, nicht als wesentlichen Allgemeinbegriff, sowie der Raum Inbegriff aller räumlichen Bestimmungen ist. Zumindest tendiert es fĂĽr mich in diese Richtung – und deshalb ist das „Volk“ fĂĽr mich ein problematischer Begriff. 
E. Wiederin fängt meine BefĂĽrchtungen zwar wieder ein – aber warum kann man sich nicht gleich anders ausdrĂĽcken? „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind so miteinander verklammert. Herrschaft ist legitim nur durch Recht, Recht ist legitim nur als Produkt demokratischer Verfahren“. Völlig einverstanden, aber geht damit das „Recht vom Volk aus“? 

Offensichtlich war es fĂĽr den damalige Sprachgebrauch 1920 – fĂĽr H. Kelsen u. a. Juristen – selbstverständlich, was mit „Republik“, „Demokratie“ und „Volk“ gemeint war, nämlich nicht mehr eine Rechtsgesetzgebung kraft kaiserlicher Verordnungen, bzw. kaiserlich-königlicher Sanktionen, sondern Selbstgesetzgebung und Verwaltung durch das „Volk“.  MĂĽsste jetzt in Zeiten der Demokratie nicht die Begrifflichkeit des „Volkes“ geklärt werden, wenn es auf Wahlplakaten kĂĽrzlich geheiĂźen hat: „Ich seid der Chef. Ich bin euer Werkzeug“, oder „Euer Wille geschehe“? Sind nicht die Wahlen ein ambivalentes Durcheinander geworden  von Rechtsstaatlichkeit und bloĂźer medialer Manipulation und Korruption? (Siehe kĂĽrzlich in der USA am 5. 11. 2024.)

2) Es ist der Denkakt, der die Begriffe formt und festlegt, aber nicht willkürlich, sondern nach festen Gesetzen der in ihr liegenden Evidenz.  In jedem Begriff muss die Wert- und Sinnanschauung eines Inhalts aufleuchten oder einleuchten können, d. h. es muss eine substantielle Einheit, eine Totalität eines Allgemeinbegriffes geben, wie das gemeint ist, das Recht geht vom Volk aus in einer demokratischen Republik. Für die Gesetzgebung 1920 mag das Wort, d. h. der Begriff des „Volkes“, wohl eindeutig und klar gewesen sein, hauptsächlich negativ klar als  Abgrenzungsbedingung gegenüber einer  monarchisch-königlichen oder diktatorischen Gesetzesgebung. Inzwischen sind aber so viele geschichtliche Grauslichkeiten im Namen des Volkes geschehen, dass ich das skeptisieren möchte. (Natürlich hatte man  auch 1920, in größter Armut, keine Zeit für ontologische Spitzfindigkeiten.)  

Praktisch ist es  wohltuend so: Der Verfassungsgerichtshof in Wien prüft  eingehend alle Gesetze auf ihre oberste Verfassungsgemäßheit, d. h. er fungiert selbst als Rechts- und Schutzmacht des einzelnen, sodass gerade nicht vom „Volk“ oder vom Parlament oder einem beliebigen Lokal-Gericht die  Rechtsgesetzgebung und Exekution und Verwaltung ausgegangen wird. Nur manchmal muss er sich der Politik beugen?! 

Wäre es demgegenĂĽber jetzt nicht an der Zeit die goldenen Lettern umzubauen zu: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom einzelnen und seinem Nächsten aus“ – in der Hoffnung größerer Eigenverantwortung jedes einzelnen und zugleich größeren Schutzes durch den Staat?  Das Problem in diesen Begriffen liegt nicht bei den VerfassungsrichterInnen, die das wohl verstehen und den ideellen Begriff „Volk“ wohl auf den einzelnen beziehen, doch die alltägliche Politik reizt mit ihren Themen z. B. Migration, SterbeverfĂĽgungsgesetz etc… die Grundgesetze und Menschenrechte oft aus, oder sie beschlieĂźt z. B. aus der europäischen Menschenrechtskonvention oder vom Pariser Klimaabkommen auszusteigen – und schon ist das Verfassungsgesetz hintergangen. Der Begriff „Volk“ ist nicht das Problem, sondern der Gebrauch davon. Es wird Verantwortung der alltäglichen Politik in diesem Begriff delegiert und der Verfassungsgerichtshof soll entscheiden, was ist (noch) rechtens, was nicht. Das ist liberalistische AusnĂĽtzung, was geht, was nicht.

Deshalb wäre ich hier für eine gewisse begriffliche Genauigkeit: Die Evidenz des Rechts kann gerade nicht  von einem bloßen Inbegriff einer Masse ausgehen. Wer ist das „Volk“? Das Volk deutscher Sprache, das Volk an der Donau und in den Alpen, das Volk, das von gewissen Siegermächten seine Grenzen aufgezwungen bekommen hat ……. das definiert jetzt, welche Rechte und Pflichten zu gelten haben.

Vom Völkerrecht ĂĽber Menschenrechte und Grundrechten bis zu BĂĽrgerrechten kann wohl die Rechts- und HerrschaftsausĂĽbung – alles, was damit zusammenhängt (Legislative, Exekutive, Administrative) – immer wieder nur vom einzelnen und dem gegenĂĽberliegenden Nächsten ausgehen. Aus dem Anerkennungsbegriff als Methode leuchtet die Evidenz der Wahrheit und der Inhalt des Rechtes auf. Die Methode, das ist die tägliche Rechtsfindung, gerichtliche Rechtsschöpfung, Administration, AusĂĽbung und Politik. Die Wahrheit und der Inhalt des Rechts bleibt aber genetisch vom Anerkennungsverhältnis ausgehend – und transzendent geschĂĽtzt.

Analog besteht ein einzelnes Volk selbst nur aus einem freiwilligen Zusammenschluss vieler Völker unter ein „Völkerrecht“ und untersteht der sich so selbst gegebenen Verpflichtung, dieses Völkerrecht zu achten. Hier gibt es dann wieder diese Ausreißer an Diktatoren: Wir reizen das internationale Völkerrecht und den internationalen Menschenrechtsgerichtshof und die UNO, was wird noch toleriert, was nicht.

3) Ich las zufällig etwas zum Begriff „Erlaubnisgesetz“ bei Kant und Fichte. Dort ist der gedankliche Hintergrund vom Recht des einzelnen und Schutz des einzelnen vor dem Staat (oder gar Diktator) – neben kategorischen Grundrechten – ein hypothetisches, eigenständiges Recht. 1

Gesetze können nicht beliebig von oben erlassen werden, als könne sich ein allmächtiger Staat (sei es eine Demokratie oder gar ein Diktator) mit beliebigen Geboten und Verboten ĂĽber das Recht des einzelnen hinwegsetzen, sondern immer nur vom einzelnen ausgehend, in Kompatibilität mit allen anderen und entsprechenden VerallgemeinerungsprĂĽfungen,  können Gesetze, „Erlaubnisgesetze“ oder Verbote, dem einzelnen gewährt (oder verweigert) werden. Das bedingt von vornherein eine gewisse Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit des einzelnen dem anderen gegenĂĽber, als auch eine gewisse Gebundheit  und GĂĽltigkeit  eines Gesetzes auf den einzelnen und den anderen hin. 
Anders gesagt: Ein Erlaubnisgesetz fördert ein Füreinander und gerechteres Miteinander.  

a) Der Staat/die Republik ist das Mittel, das Werkzeug, die notwendige Konsequenz,  das Recht des einzelnen zu schützen und durchzusetzen. Diese Idee gegenseitigen Schutzes kann als „Staatsbürgervertrag“ bezeichnet werden.

Es wäre naiv zu meinen, aus einer bloßen Vertragstheorie der einzelnen untereinander und einer gegenseitigen Anerkennung erwächst schon die Befolgung und Einhaltung des Rechtes und eines friedlichen Miteinanders.

Bei Fichte ist als Folge des Urrechtes des einzelnen (der einzelnen) – in den Grundlagen des Naturrechtes in den §§ 8- 20 – das Zwangsrecht des Staates als komplementäre Größe abgeleitet. Das Zwangsrecht ist selbst zuerst ein Abwehrrecht des einzelnen – und bei Anwendung muss sich das Gemeinwesen fĂĽr sich und fĂĽr jeden einzelnen das notwendige Zwangsrecht verschaffen können.
Damit wird der Begriff des „Staates“ sogar erst als Idee verständlich, vorausgesetzt natürlich, das Recht geht vom einzelnen aus und  sucht sich erst in den Anwendungsbedingungen den Staatsbegriff.
Der Staat ist dann eine deduzierte Idee – und wenn man so sagen will, so wäre ich sogar mit Art. 1 zufrieden – das deduzierte „Volk“ bestimmt sich durch das Recht (als Zwangsrecht, als Schutzrecht) – aber wiederum einschränkend gemeint, es erzeugt und schafft nicht selbst den Geltungsgrund des Rechts, sondern bringt ihn in seiner Geltungsform  zur Anwendung.  

4) Von einem Volk  als solchen, als bloĂźen Inbegriff mehrerer Individuen, als „civitas“, als Allgemeinbegriff eines ĂĽbergeordneten Wesens, kann Unheil ausgehen. Es unterläuft den Diktatoren im Begriff des „Volkes“ oder des „Staates“ leicht eine ungebĂĽhrliche MachtĂĽbertragung. Infolge der notwendigen Repräsentation – selbst in den „Räte-Republiken“ kommt es zu Fehlentwicklungen und grausamen Wirksamkeiten: Die Macht wird delegiert an die Staatsorgane und an die obersten Parteifunktionäre – und fertig ist die Aporie:  
Sieht Blog von mir zum Begriff der „Repräsentation“ – die Stellungnahme von Duso –
Link „Eine Delegation ist per se schon Machtübertrag und ipso facto Machtentzug auf der anderen Seite. Die Aporie ist eröffnet – und  je mächtiger die delegierte Macht ist, umso unkontrollierbarer, gefährlicher ist sie – und umso weniger repräsentativ in der ursprünglichen Absicht des Begriffes.“

Der Staat ist Anwendungsbedingung, Schema fĂĽr die grundsätzlichen Anerkennungs-Rechte, Werkzeug – nach Aristoteles – einer austeilenden (distributiven) und ausgleichenden (kommutativen) Gerechtigkeit, wobei die austeilende der ausgleichenden Gerechtigkeit untersteht.

Artikel 1 der B-VG, in goldenen Lettern verstehe ich geschichtlich, dem Kontext der damaligen Zeit entsprechend und ist so akzeptabel. Wenn ich noch dazu den Begriff „Volk“ als deduzierte Idee eines freiwilligen Gemeinwesens auffasse, habe ich noch weniger dagegen. Aber wäre es jetzt nicht an der Zeit,  um alle Unklarheiten zu den Begriffen „Demokratie“ und Rechtserzeugung zu beseitigen, hinaufzuschreiben: „Das „Recht geht vom einzelnen und seinem Nächsten aus“?

Es ist in der Philosophie oft das gleiche Problem: Wie komme ich von der Theorie zur Praxis – und entspricht die Praxis den Begriffen? „Im Namen des Volkes“ kann stimmen, ist aber gefährlich. „Im Namen des einzelnen und seines Nächsten“, das ist selbstverantworteter, verbindlicher, das schließt einen Staat mit Zwanggesetzlichkeit nicht aus, im Gegenteil, verpflichtet den Staat zum Schutz des einzelnen und zum Schutz eines gerechten Miteinanders. 

© Franz Strasser, 18. 11. 2024

1Literatur: K. Hammacher, Über Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit. In: Transzendentale Theorie und Praxis. Zugänge zu Fichte. Fichte-Studien. Supplementa, Amsterdam-Atlanta, 1996, 117-138. Kant, MdS, Ausgabe Weischedel, Bd. VIII, 19782, 329. „Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig ( indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). Man kann fragen: ob es dergleichen gebe, und, wenn es solche gibt, ob dazu, daß es jemanden freistehe, etwas nach seinem Belieben zu tun oder zu lassen, außer dem Gebotgesetze ( lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotgesetze ( lex prohibitiva, lex vetiti) noch ein Erlaubnisgesetz ( lex permissiva) erforderlich sei. Wenn dieses ist, so würde die Befugnis nicht allemal eine gleichgültige Handlung ( adiaphoron) betreffen; denn zu einer solchen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonderes Gesetz erfordert werden.“

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser