Das Seiende und das Eins, Sophistes 240d – 245e 2. Teil

Der Sophist ist bis jetzt schwer zu fassen gewesen, weil in der Einheit des Seins, wenn diese allgemeine Voraussetzung des klassischen PARMENIDES anerkannt werden soll, keine Bestimmung angetroffen werden kann, die auch das Nicht-Seiende in einer gewissen Weise umfasst. Also hat der Sophist doch einen Beweis für das Nicht-Seiende? Platon wird ihn jetzt trotzdem als  Schein- und Trugkünstler entlarven: Denn jede Bestimmung im Sein und am Sein ist  selbst ein neuer Begriff des Seins, nicht des Nicht-Seienden, von dem der Sophist auszugehen behauptet. Wenn aber das Nicht-Seiende selbst etwas Seiendes ist, worin liegt dann der Schein, den der Sophist aufbaut? 

Mit derzeitigem Stand der Diskussion sagt Platon: Auch das Nicht-Seiende ist ein bestimmtes Seiendes und generell kann Vielheit, Bildsein, aber auch Täuschung, Trug und Schein, wenn die Vorstellung davon ist, angenommen werden.

S240d FREMDER: Wenn wir nun sagen, er täusche mit Trugbildern und seine Kunst sei eine täuschende, sagen wir dann, unsere Seele stelle falsches vor vermittelst seiner Kunst? Oder was sagen wir?

THEAITETOS: Dieses, denn was sollten wir anderes sagen?

FREMDER: Falsche Vorstellung ist aber, die das Entgegengesetzte von dem, was ist, vorstellt? Oder wie?

THEAITETOS: Das Entgegengesetzte.

FREMDER: Also sagst du, die falsche Vorstellung stelle Nichtseiendes vor?

THEAITETOS: Notwendig.

S240e FREMDER: Etwa, daß das Nichtseiende nicht sei, stellt sie vor, oder daß das auf keine Weise Seiende doch irgendwie sei?

THEAITETOS: Notwendig doch wohl, daß das Nichtseiende irgendwie sei, wenn sich doch einer auch nur im geringsten täuschen soll.

Wir sind genötigt, das Nicht-Seiende mit dem Seienden zu verbinden, obwohl das zuerst als unmöglich behauptet wurde. (241a)

(…) THEAITETOS: Wie sollten wir nicht verstehen, daß er sagen wird, wir behaupten das Gegenteil von dem vorigen, //III254// wenn wir wagten zu sagen, Falsches sei

S241b in Vorstellungen und Reden? Denn wir würden dadurch gar vielfältig genötiget, mit dem Nichtseienden das Seiende zu verknüpfen, nachdem wir nun eben eingestanden, dies sei das allerunmöglichste. (…)

(241d) FREMDER: Weil wir den Satz des Vater Parmenides notwendig, wenn wir uns verteidigen wollen, prüfen und erzwingen müssen, daß sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht ist, als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht ist.

THEAITETOS: Es leuchtet ein, daß dies muß durchgefochten werden in unsern Reden.

Um in der Problemlage der Aufdeckung des Sophisten voranzukommen, muss jetzt PLATON, wie schon im 1. Teil angesprochen, den Satz der PARMENIDES kritisieren. (242a) Bei PARMENIDES kann man ja die Frage aufwerfen, wenn alles nur im Sein sein kann, wie kommt es überhaupt zu einer Scheinvorstellung? Der Gegensatz kann nicht einfach zwischen Sein und Schein verlaufen, sondern zwischen Sein und Erscheinung und Schein. Die Erscheinung kommt offensichtlich bei PARMENIDES nicht vor!? (242b – 243c)

M. a. W., es geht PLATON um die Rettung dessen, was wir in unserer räumlichen und zeitlichen Welt und einschließlich unserer selbst vor uns haben. Wie kommt es zur Erscheinung, wie kann Erscheinungs-Sein  zum wahren Sein hinzugefügt werden?

S244a FREMDER: Aber, ihr Lieben, wollen wir dann sagen, auch so würdet ihr ganz deutlich sagen, daß die zwei eins sind.

THEAITETOS: Ganz richtig gesprochen.

FREMDER: Da nun wir keinen Rat wissen, so macht doch ihr selbst uns recht anschaulich, was ihr doch andeuten wollt, wenn ihr Seiendes sagt. Denn offenbar wißt ihr doch dies schon lange, wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt aber stehen wir ratlos. Lehret uns also zuerst dieses, damit wir uns nicht einbilden zu verstehen, //III258// was ihr saget, indes

S244b uns ganz das Gegenteil hievon widerfährt. Wenn wir so sprechen und das von diesen sowohl als allen andern fordern, welche sagen, das all sei mehr als eins, werden wir dann wohl großes Unrecht begehen, Kind?

Wie kann man es philosophisch rechtfertigen, neben der Einheit des Seins (des klassischen Parmenides) eine 2. Position anzusetzen, hier ein „all“, das mehr sein soll als eins?

THEAITETOS: Gewiß gar nicht.

FREMDER: Wie nun, sollen wir von denen, welche das All als eins angeben, etwa nicht nach Vermögen erforschen, was sie wohl sagen von dem Seienden?

THEAITETOS: Unbedenklich.

FREMDER: Dies also mögen sie uns beantworten. Ihr sagt, es sei nur eins? — Das sagen wir, werden sie sagen. — Nicht wahr?

THEAITETOS: Ja.

FREMDER: Und wie, Seiendes nennt ihr etwas?

THEAITETOS: Ja.

S244c FREMDER: Dasselbe was eins? Und bedient euch für dasselbe zweier Benennungen? Oder wie?

PLATON bestimmt hier das Anderssein als ein bestimmtes Sein innerhalb der Einheit des Seins. Es ist zwar anderes Sein, aber nicht total anderes Sein, weil es in der Bestimmung seines Seins noch Sein ist. In der Form der Prädikation („zweier Benennungen“) geschieht eine Einschränkung des einen Seins zugunsten einer Weiterbestimmung des Seins. Es gibt dann zwar anderes Sein, aber nicht total anderes Sein, was das endliche Sein betrifft.

Es tut sich in der reflexiven Bestimmung des Seienden jetzt aber eine Ungleichheit auf gegenüber dem Sein selbst. Wie soll noch von der Einheit des Seins gesprochen werden, von der PARMENIDES ausgegangen ist?

THEAITETOS: Was sollen sie nun wohl hierauf, o Fremdling, antworten?

FREMDER: Offenbar, o Theaitetos, ist es dem von dieser Voraussetzung ausgehenden gar nicht leicht, auf das jetzt gefragte und auf jegliches andere irgend zu antworten.

THEAITETOS: Wieso?

FREMDER: Zu gestehen, es gebe zwei Namen, wenn man nichts gesetzt hat als eins, ist doch ganz lächerlich.

THEAITETOS: Wie sollte es nicht?

FREMDER: Ja überall es sich gefallen zu lassen, wenn man sagt,

S244d es gebe einen Namen, der ja doch keine Erklärung zuließe.

THEAITETOS: Weshalb?

FREMDER: Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei.

THEAITETOS: Ja.

Die Sache selbst, das ist die Einheit des Seins, – und diese folgenden Differenzierungen PLATONS unterscheiden sich jetzt zunehmend vom klassischen Parmenides – muss als radikale Bestimmung des Eins gefasst werden, nicht nur als bloße Eigenschaft des Seins.

Das Eins des Seins muss als absolute Bestimmung nochmals von der reflexiven Einheitsbestimmung des Seins (negativ) abgesetzt werden. Es kommt zur absoluten Gegensatzlosigkeit der Eins, der nichts entgegengesetzt werden kann und nichts entgegengesetzt werden darf, weil a) sowohl die Absolutheit gewahrt bleiben muss und ein Pantheismus vermieden werden soll, als auch b) eine Selbstständigkeit des endlichen Seins gerettet werden soll.

Die Radikalität der Standpunktreflexion wird bis zur Spitze getrieben, weil die Bedingungen der Wissbarkeit des endlichen Seins durch die lebendige Teilhabe am wahren Sein der Ideen (siehe dann 3. Folge) bewiesen werden können. Es wird deshalb einer Art transzendentale Analyse der Wissensbedingungen folgen, insofern im Vermögen des Tuns und Leidens die Teilhabe an den Ideen eingesehen wird.  Der Sophist muss dann Farbe bekennen, wie wahrhaft seine Rede vom Erkennen gemeint war.  

Die Form der Reflexivität und des Bildens überhaupt ist damit einerseits durch Teilhabe am höchsten Sein der Ideen (und letztlich wieder durch Teilhabe am EINS) möglich, andererseits erlaubt die differenzierenden Teilhabe in einem eingeschränkten, negativen Sinn,  von einer relativen Selbstständigkeit und Quantitiertheit des endlichen Seins zu sprechen, die das behauptete, anscheinend nicht existierende NIcht-Seiende des Sophisten, widerlegt.  

Es folgt zuerst der Aufsteig zum radikalen Eins, d. h. ein Aufstieg in Form einer Negation alles anderen Seins und aller Form der Prädikation, wodurch das Eine aber als nicht zu leugnendes Sein affirmiert wird.

(Fortsetzung wieder in pdf-Format – siehe downloadSophistes 2. Teil Fortsetzung

(c) Franz Strasser, 21. 4. 2017.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser