1) Es ist wohl historisch und psychologisch bemerkens- wie bedauernswert, dass SCHOPENHAUER sich bewusst von FICHTE absetzen wollte. 1
Wenn von einem „Transzendentalismus“ bei SCH gesprochen werden soll, wie R. MALTER die Metaphysik SCH’s bezeichnet (nicht Transzendentalphilosophie!), so kann die Frage nur sein, was ist die transzendental notwendige Bedingung der Wissbarkeit, dass ich sagen kann, die Welt ist meine Vorstellung und die Welt ist Wille? Finden sich bei SCH Ableitungsketten? Er hat die Schriften KANTS und die Schriften FICHTES gekannt, und nimmt daraus eklektizistisch heraus, was er für seine Theorie brauchen kann. Durch seine Belesenheit und exzellente Stilistik wird ein ansehnliches Werk daraus, nur sind die Begriffe halt falsch gesetzt.
Wenn er, was meiner historischen Kenntnis hier entgeht, die GWL Fichtes von 1794 wirklich aufmerksam gelesen hätte, würde er bemerkt haben, dass die Vorstellung nicht einzig und allein Produkt des Willens ist, sondern die erklärte Anschauung von Anschauendem und Angeschauten.
Die Vorstellung ist der Funktion nach eine ideale Tätigkeit und eine bereits aufgehaltene, reale Tätigkeit, sie ist mithin von einer praktisch-werthaften Seite der Konstitution der Welt bedingt, aber damit nicht rein ideell oder rein materiell abzuleiten. Umgekehrt ist der praktische Wille des endlichen Vernunftwesens nicht die über alles triumphierende, metaphysische Kraft, sondern selbst ein Produkt der Einbildungskraft, ein Mittel, ein Vermögen zwecks Erfassung von Bestimmbarkeit – und immer durch das Denken hindurch gesehen. Das theoretische Zweckentwerfen und Projizieren und das praktische Wollen mit einem gedachten Gewollten, sie müssen auf die Erscheinungsebene zurückgenommen werden und sind in Einheit zu sehen: Das Ich oder das Selbstbewusstsein sind ursprünglich nicht in der Zeit, es entsteht erst im Denken meiner selbst in der Zeit – durch Vorstellen und Wollen.
Ich verweise hier auf ein äußerst prägnante Ausführung bei Peter Baumanns:
a) Das Selbstbewusstsein als reiner Wille – nochmals zu unterscheiden vom göttlichen, durch sich selbst bestimmten reinen Willen – wenn es dank der analysierend-synthetisierenden Produktivität wirklich entsteht, gewinnt unter dem Aspekt der realen Tätigkeit die Form der sinnlichen Kraft, und hieran schließt sich der Leib als Zentrum der Kraftäußerung und von ihm her die gesamte Sinnenwelt an.
b) Das Selbstbewusstsein als reiner Wille dank der synthetisierend-analysierenden Produktivität unter dem Aspekt der idealen Tätigkeit gesehen erscheint als Vermögen der Zweckbegriffe, und hier schließt sich das empirische Bewusstsein der Geistigkeit an. 2 Von einem transzendentalen Standpunkt ist SCH durch seinen dogmatischen Realismus im Denken der Vorstellung bzw. im Denken eines reinen Willens weit entfernt.
Er gibt sich den Anschein eines „Naturphilosophen“. Aber selbst von diesem Standpunkt einer angeschauten, sinnlichen Natur her können seine metaphysische Behauptungen nicht bestätigt werden: Wir haben seit den ersten Naturphilosophen bis zur modernen Quantenphysik nie andere Erkenntnismittel als die Anschauung und den Verstand. Wir können das „Ding an sich“ nicht erkennen. SCH prätendiert allerdings, es erkennen zu können.
Wenn SCH die Welt einmal als Vorstellung, dann als Wille sieht, so müsste dieses Sehen auf die Bedingungen der Wissbarkeit hin abgeleitet werden können. SCH, der ein äußerst gespanntes Verhältnis zu Fichte hatte, sei mit seinem Philosophieprofessor hier konfrontiert: Wie macht es FICHTE?
2) FICHTE leitet die Vorstellung der Welt, sei es die Vorstellung der anschaulichen, sinnlichen Welt, oder sei es die Vorstellung der geistige Welt der idealen Selbstbestimmung (wozu auch die Erscheinung des Willens gehört) in ihrer Bestimmbarkeit und Denkbarkeit als Substrat der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft ab. 3
Diese Darstellungskraft der Einbildungskraft ist aber ihrerseits höher bedingt: Das alles begründende Prinzip ist die Geltungseinheit der Wahrheit, erscheinend im Sich-Setzen und Bilden des Wissens bzw. im universalen Ich. Diese Geltungseinheit oder dieses Sich-Setzen wird nicht dogmatisch vorausgesetzt, sondern bildet eine im Sich-Bilden des Wissens einsichtige, in nachvollziehbaren Schritten zu explizierende, begründende und rechtfertigende Wissenseinheit.
FICHTE, nicht SCHOPENHAUER, entdeckt den Setzungsakt der Teilbarkeit und damit den Satz des Grundes in den EIGENEN MEDITATIONEN (1793) und führte ihn vor allem im 3. Grundsatz der GWL weiter. Im „synthetischen Verfahren“ erkennt er: Es wäre keine Negation und Entgegensetzung möglich, wenn nicht in der Einheit des Ichs eine neuer Setzungsakt gesetzt werden könnte – und damit ist die Frage nach dem Grunde erst verständlich. Dieser Setzungsakt ist zurückbezogen auf einen ursprünglichen Setzungsakt im absoluten Ich, ist relativ absolut, was die darin liegenden Freiheit der Synthesis betrifft, aber nicht absolut, was den Inhalt seiner Setzungsglieder betrifft.
Das Denken des Prinzipiierens setzt a) einen implikativen Grund, d. h. einen disjunktiven Grund voraus, damit frei prinzipiiert werden kann; und umgekehrt setzt die logische Denkform b) fakultative (appositionelle) Folgen aus verzeiteten Vorstellungen voraus. FICHTE beschrieb dieses Ineinander von Anschauungsformen, Kategorien und Reflexionsformen als Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft in theoretischer wie praktischer Funktion.
Das höchste, verursachende Prinzip muss mehr als ein bloß logisch-vorausgesetzter Grund sein, muss ein substantivierter Grund als „efficiens et totaliter causa“ (als totale Wirkursache) sein. Erst durch freie Verursachung kann die implikative Möglichkeit gedacht und aufgebaut und in die Wirklichkeit gehoben werden, andernfalls überhaupt kein Denken eines Grundes im strengen Sinne möglich wäre. Der gesuchte Grund ist damit eine geistige Substanz, die sich bereits im Denken als Denken des Prinzipierens apriorisch–positiv offenbart. Das Denken dieses qualitativ Totalitätsallgemeinen (Platon, Anselm) und generell das Denken eines Zusammenhangs von implikativen Geltungs-Grund und appositioneller Geltungs-Erhebung in einem genetischen Werden des Faktums, ist nach-denkendes, selbstständig frei nach-bildendes Bilden der Erscheinung des Absoluten. (Man kann diese Erscheinung nochmals aufgliedern in apriorische Vernunftoffenbarung und positive Offenbarung als Glieder einer Einheit.)
Ich kann hier nicht länger auf die einzelnen Passagen der EIGNE MEDITATIONEN Fichtes von 1793 eingehen, doch nur zum Anzeigen der Problematik: Bei KANT sind Ursache und Wirkung leider getrennt und spiegeln auf anderer Ebene das einseitige Verhältnis des Grundes zur Folge wider. Ich gehe von einer Wirkung aus, die Wirkung eines Grundes ist, d. h. ich setze gedanklich den Grund hinzu. Dies beschert KANT einige Probleme, weil er hier (ausnahmsweise) begrifflich ungenau ist. Aber noch ungenauer wird dann SCH: Der vorgestellte Grund ist überhaupt als materialistische Ursache vereinnahmt ohne Rückbezug auf eine absolute Idee des Setzens. Obwohl SCH FICHTE noch persönlich hörte (1811/1812) – er kümmerte sich einen Deut in seinem vierfachen (tlw. fünffachen) „Satz vom Grunde“, wie sittlich-praktisch, vorallem wertsetzend, der „Satz vom Grunde“ bei FICHTE in § 3 der GWL verstanden wurde, replikativ notwendig im Ich gesetzt und genetisch verwirklicht.
Nur in der Einheit des Wissens, d. h. der Icheinheit, tauchen Hemmungen oder Aufforderungen auf. Die Hemmungen denke ich als Wirkungen einer Ursache und zugleich baue ich eine implikative Ordnung auf, um die appositionelle Reihe der Freiheit gleichzeitig weiterführen zu können. Mit der implikativen Ordnung ist aber keine metaphysische Grund-Folge-Ordnung gesetzt, aus der beliebig spekulativ – wie bei SCH – abgeleitet werden könnte. Implikative Grund-Folge-Ordnung und appositionelle Ursache-Wirkungsordnung bestimmen vielmehr zugleich! meine Reflexion und mein Vorstellen und Wollen und Handeln, bis ich den höchsten Grund als frei gewählten, durch sich selbst bestimmten reinen Willen (Gottes) gefunden habe.
(c) Franz Strasser, 19. 2. 2016
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1In einer Internetquelle fand ich den dankbaren Hinweis: Quelle: Elisabeth Flucher, Universität Wien, „Die doppelte Erkenntnis des Leibes“ – Internet, abgerufen 14. 2. 2016.
Arthur Hübscher ist der Ansicht, dass „vieles in Schopenhauers Lehre sich in bewußter Abkehr von Fichte entwickelt hat, etwa die Lehre vom abstrakten und intuitiven Denken, […] vieles aber auch in bewußter oder unbewußter Anlehnung, etwa die Entfaltung des Freiheitsbegriffs (der freien Abkehr von der Welt). Vgl. Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß. Herausgegeben von Arthur Hübscher. Zweiter Band. Kritische Auseinandersetzungen (1809-1818). Frankfurt am Main 1967.
(=HN II), S. XV-XVI. Im Herbst 1811 hörte Schopenhauer Fichtes einleitende Vorlesung „Über das Wesen der Philosophie“ sowie Fichtes Kolleg „Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns und die Wissenschaftslehre“. Vgl. Schopenhauer, HN II, S. XIV-XV.
In Schopenhauers Studienheften 1811-1818 finden sich Notizen zu folgenden Werken Fichtes: „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [Tübingen 1802]“, „Grundriß der Wissenschaftslehre [Leipzig 1795]“, „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [Berlin 1806]“, „Die Anweisung zum seligen Leben [Berlin 1806]“, „Sittenlehre [Jena und Leipzig 1798]“, „Naturrecht (Theil 1) [Jena und Leipzig 1796]“, „Zur Kritik aller Offenbarung [2. Auflage. Königsberg 1793]“. Vgl. Schopenhauer, HN II, S. 340-360. Arthur Hübscher datiert Schopenhauer Notizen zu Fichte auf den Zeitraum von „Frühjahr/Sommer 1812“. Vgl. Schopenhauer, HN II, S. XXIX. –
2Peter Baumanns, Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes Wissenschaftslehre, S 171 – 187, in: Der Transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hrsg. v. Klaus Hammacher, Meiner-Verlag, Hamburg 1981.
3R. LAUTH, Der systematische Ort von Fichtes Geschichtskonzeption in seinem System. Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie – Societas Hegeliana, Band 1 (1983), 100- 105. „Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre ist so angelegt, dass sie (im 1.Teil des § 4) die scheinbaren Möglichkeiten, das Außending widerspruchsfrei zu denken, erschöpft, um daraufhin zu zeigen, daß durch ein anderes Vermögen der Vernunft als der Verstand, durch die ursprünglich produzierende Einbildungskraft, das für den reinen Verstand sich Widersprechende als Objekt, besser: als dessen Substrat, realisiert wird. In höherer Funktion bestimmt die Einbildungskraft dieses ihr Produkt in Anschauungs- und Verstandesformen.“