Gen 1, 2: die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. |
1) Es ist nach Gen 1, 2 intuitiv erfasst, wiederum transzendental-deduktiv aus einem geistigen, höchsten Prinzip gefolgert, dass es keine realistische Vorgegebenheit von Zeit und Raum geben kann. Es heißt nur „Erde“ und „Wasser“, und dieses nicht vorstellbar, nur gedacht. Von einer Zeit (einem „ersten“ „Tag“) ist noch keine Rede. Es gibt keine bestimmten Sinnesdaten, keine konkrete Wahrnehmung. Es gibt noch keine Zeit oder Zeit-Linie. Es wird nur metaphorisch eine absolute Raumanschauung beschreiben – und diese ist „wüst und wirr.“ Es gibt darin keine flächige Ausdehnung, keine undurchdringliche Dichte, nur „Finsternis“ und „Wasser“.
Die später ableitbaren Anschauungsformen wie Zeit und Raum als „Formen der Empfindbarkeit“ (FICHTE, EIGNE MEDITATIONEN, 1793), alle sozusagen cartesischen Koordinaten, sie fehlen ausdrücklich. Metaphorisch wird ein Zustand jenseits einer geometrischen oder physikalischen Vorstellung gezeichnet, jenseits von Physik, Quantentheorie, Lichtwelle, Lichtkorpuskel, jenseits von Masse und Energie. Das, was später als aposteriorische Ausgangsbasis menschlicher und praktischer Freiheit dienen wird, die qualia der Sinneswahrnehmungen – wie in anderen mythologischen Schöpfungserzählungen des Vorderen Ostens – das fehlt noch alles. Nicht einmal der abstrakte Begriff des „Nichts“ kann gedacht werden, sollte das „Nichts“ in zeitlicher und räumlicher Weise vorgestellt oder als ein Begriff der Negation einer Position gesehen werden.
Es ist wiederum genial, wie der Genesistext hier zu abstrahieren versteht. Aus „wüst und wirr“, „Finsternis“, „Wasser“ lässt sich keine materielle Substanz und keine atomistische Theorie konstruieren, ebenso wird vermieden, die Materie als Emanation des Geistes zu beschreiben oder umgekehrt, den Geist zu denken als eine Realisation der Materie. Einzig ein „Schweben“ soll sein.
Aus der späteren Perspektive des ausdrücklich eingeführten „Abbildes“ wird hier in Vers 2 die „Materie“ nicht subreptiv-heimlich eingeführt, als kausal-mechanische und materielle Ursache späterer Folgen, sondern ausdrücklich ist nur von einer Art Substrat des Bewusst-Seins die Rede. Es spielt sich alles im Dunkeln ab („Finsternis“), keine anschauliche Orientierung ist gegeben, keine Richtung; es gibt keine Unterscheidung im „Wasser“, kein oben noch unten. Es gibt keine quantitative Messung und keine qualitative Empfindung, keine lokale oder temporäre Selbstbestimmung, keine Substanz und keine Kausalität. Nur an einem Gefühl könnte es geschehen, dass die Spontaneität sich selbst in einer ersten Stufe reflexiv erkennt – aber diese erste Stufe als eingeführte Bedingung kommt erst mit dem Sehen und dem Hören in Vers 3.
2) Das „Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft“ setzt keine feste Grenze (bei FICHTE siehe GRUNDLAGE, § 4, SW I, 216. 217). Dennoch ist Gen 1 und im speziellen Vers 2 nicht aus der Perspektive der Standpunktlosigkeit formuliert, sondern im Gegenteil, der ganze Text (und auch Vers 2) setzt eine bestimmte, existentielle Standpunktreflexion voraus, weil ja das totum der Erscheinung des Absoluten (die Schöpfung) vorausgesetzt wird.
Das „Schweben des Geistes“ wahrt dabei in absoluter Differenz die Abhängigkeit des Begründeten (der Existenz) zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Grund, begrifflich genauer gesagt, die Bedingtheit zu einer absolut außer ihm liegenden Ursache – und zugleich schöpft das intentionale Streben des späteren reflexiven und zeitlichen Bewusstseins die Kraft zur Bestimmung aus dieser implikativen und differentiellen Abhängigkeit seiner selbst aus dem Dasein des „Schwebens“ des Geistes.
(c) Franz Strasser, 15. 10. 2015