Kritische Husserllektüre (1. Teil)

Hier nur ein paar höchst unvollständige und unsystematische Gedanken zu E. HUSSERL. Er bleibt für mich ein verwirrter Kopf, höchst übertrieben in seinem Anspruch, aber absolut unbegründet und dogmatisch. Ich habe mich tagelang aufrichtig und wohlwollend geplagt.

Ich greife hier nur einen kurzen Anfangsteil eines Werk heraus – möchte diesen Kommentar aber nicht isoliert betrachtet sehen. Ich hätte genauso zu den „Cartesianischen Meditationen“ etwas schreiben können, zu Begriffen wie „Korrelationsapriori“, „Noematische Systeme“ oder zu einem anderen Aufsatz  von ihm – siehe Ausgabe Reclam: EDMUND HUSSERL, Die phänomenologische Methode I, Ausgewählte Texte, 1998.

(Die Texte von HUSSERL zitiere ich nach einem Text im Internet (https://www.sdvigpress.org/ – siehe download Ideen ..108528); die Zitate von HUSSERL oder KANT gebe ich in rot wieder; die Seitennummern beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe.)

Ich beschränke mich auf einen ersten Abschnitt aus den IDEEN I.

1)§ 27. Die Welt der natürlichen Einstellung: Ich und meine Umwelt.

Wir beginnen, so auf Vorschlag, mit der „Welt der natürlichen Einstellung: Ich und meine Umwelt“ – wobei für mich gleich fraglich ist, warum die öfter vorkommende „natürliche Einstellung“ unter Anführungszeichen vorkommt. Also wird von vornherein eine Duplizität aufgemacht zwischen einer metaphorischer, allegorischer Rede – die dann die eigentliche Rede und Erkenntnis werden soll – und einer bloß landläufigen, gewöhnlichen, unkritischen Rede, die vorläufig aber zum Ausgangspunkt gewählt werden muss. Man ist gespannt, ob die „natürliche Einstellung“ aufgelöst werden kann zu einer begrifflichen Welterkenntnis, sodass die Anführungsstriche eigentlich wegkommen müssten, damit alles auch ohne Metaphorik gesagt werden kann.

„Was das besagt, machen wir uns in einfachen Meditationen klar, die wir am besten in der Ichrede durchführen. Ich bin mir einer Welt bewußt, endlos ausgebreitet im Raum, endlos werdend und geworden in der Zeit. Ich bin mir ihrer bewußt, das sagt vor allem : ich finde sie unmittelbar anschaulich vor, ich erfahre sie. Durch Sehen, Tasten, Hören usw.,“

Offensichtlich ist hier der Ausgangspunkt die äußere Wahrnehmung, die im Laufe der Meditation und des Raisonnement auf die Bedingungen der Wissbarkeit hin analysiert wird.

Es sei zugestanden, dass E. HUSSERL gleich von einem faktischen Befund in der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, von einer Mannigfaltigkeit von Phänomenen. Diese Wahrnehmung schließt jetzt  vieles mitein: ein zeitliches „Mitgegenwärtigen“ (ebd. S 132), die „SachenweltWertewelt, Güterwelt, praktische Welt…“ (ebd. S 133) Die Frage ist nur, ob ein sehr weit gefasster Begriff der Erfahrung/der Welt  das hergibt, was er ableiten will.

„§ 28. „Das cogito“. Meine natürliche Umwelt und die idealen Umwelten.

Auf diese Welt, die Welt, in der ich mich finde und die zugleich meine Umwelt ist, beziehen sich denn die Komplexe meiner mannigfach wechselnden S p o n t a n e i t ä t e n des Bewußtseins: des forschenden Betrachtens, des Explizierens und Auf-Begriffe-bringens in der Beschreibung, des Vergleichens und Unterscheidens, des Kolligierens und Zählens, des Voraussetzens und Folgerns, kurzum des theoretisierenden Bewußtseins in seinen verschiedenen Formen und Stufen.“ (ebd. S 134)

Seine Erkenntnislehre ist hier klar als von der transzendentalkritischen Tradition herkommend gekennzeichnet, sonst käme der zentrale Begriff der „Spontaneitäten“ nicht vor. Die Welt ist nur innerhalb von Bewusstseinsstrukturen vorgegeben, sie ist phänomenal, Erscheinung.

Dies führt nach ihm zu verschiedene Bewusstseinswelten:

„Die arithmetische Welt ist für mich nur da, wenn und solange ich arithmetisch eingestellt bin. Die natürliche Welt aber, die Welt im gewöhnlichen Wortsinn, ist immerfort für mich da, solange ich natürlich dahinlebe. So-lange das der Fall ist, bin ich “ natürlich eingestellt“, ja beides besagt geradezu dasselbe.“ (ebd. S135)

3) Im nächsten Abschnitt wird die (andere) Personenwelt als zur „natürlichen Einstellung“ hinzukommend vorgestellt. Die Anführungszeichen harren bis jetzt einer klaren kritischen Ableitung. Warum transzendental notwendig, d. h. aus der Selbstbezüglichkeit des Selbstbewusstseins andere Personen zur Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung vorausgesetzt werden müssen, dazu wird hier nichts gesagt. Es wird sozusagen deskriptive Phänomenologie getrieben, aber keine genetische, warum und wie der Grundmodus der Erfahrung und des Wissens verlangt, dass Interpersonalität angesetzt werden muss. 

§ 29. Die „anderen“ Ichsubjekte und die intersubjektive natürliche Umwelt.

Alles, was von mir selbst gilt, gilt auch für alle anderen Menschen, die ich in meiner Umwelt vorhanden finde. Ich nehme andere Personen an als Ich-Subjekte, wie ich selbst eines bin, und als bezogen auf ihre natürliche Umwelt. Sie werden a) als individuelle, wahrnehmende Personen charakterisiert, und b) als kommunikationsfähige Personen untereinander.

Meine Einwände und Anfragen hier: a) Dass die „mittelbare Intentionalität der Fremderfahrung als Appräsentation“ (Cartesianische Meditationen, § 50) von einer übergeordneten Einheit der Vernunft, einer uns alle verbindenden Einheit, zuerst ausgehen müsse, nicht vom subjektiven Ich, davon ist keine Rede. Wie könnte vom eigenen Ich zum anderen Ich übergegangen werden ohne gemeinsamen Erkenntnis- und Seinsgrund eines gleichen Wir?

b) Sprache und Verstehen wird als faktischer und hermeneutischer Zirkel akzeptiert. Aber das ist dogmatisch –  wie die Personengemeinschaft. Es muss eine übergeordnete, überindividuelle Einsicht in das Wesen der Sprache und des Verstehens geben, mithin eine epistemologische Ableitung der Bedeutung der Wörter und Begriffe, damit hinlänglich der Sinn des Sprechens und der Sinn des Verstehens aus höheren genetischen Gründen abgeleitet werden kann.  Die Sprache ist m. E. (siehe andere Blogs)  transzendental notwendiges Mittel und Werkzeug des interpersonalen Austausches, der Absichten und Intentionen, letztlich Form der Begriffe und der Bilder, aber nie bloß relational auf ein einzelnes Subjekt bezogen oder quasi selbsttätig, materiell schon da, um von sich her eine Wechselwirkung zwischen sich und den Subjekten zu initiieren und aufzubauen. Eine sprachliche Wechselwirkung hat und ist noch keine Begründung. Sowohl Intersubjektivität wie Sprachverstehen scheinen mir  objektivistisch vorausgesetzt. Das ist erkenntnistheoretisch und epistemologisch, d. h. als Begründung der Bedeutung, nicht haltbar, das ist bloße, faktische Beschreibung. 

4) § 30 Die „Generalthesis der natürlichen Einstellung“

„(….) – im Sinne der Generalthesis – die immer daseiende Welt ist. Sie umfassender, zuverlässiger, in jeder Hinsicht vollkommener zu erkennen, als es die naive Erfahrungskunde zu leisten vermag, alle auf ihrem Boden sich darbietenden Aufgaben wissenschaftlicher Erkenntnis zu lösen, das ist das Ziel der Wissenschaften der natürlichen Einstellung.“ (ebd. S. 137)

Laut Überschrift dürfte jetzt die bloß metaphorische Rede einer „natürlichen Einstellung“ zur Welt bald in eine klare, begriffliche Rede übergeführt werden, d. h. in eine klare transzendentale Erkenntnis  der Wirklichkeit der daseienden Welt. Der Anspruch der Welterkenntnis wird erhoben, ebenso der Anspruch einer „wissenschaftlichen Erkenntnis“ mittels „natürlicher Einstellung“.  Es sei E. HUSSERL hier noch zugestanden, dass er diese Erkenntnis „phänomenologische“ Wissenschaft nennen will, weil ihm offensichtlich der Weg zu einer echten transzendentalen Erkenntnistheorie der Welt aus der Genese der Vernunft verwehrt erscheint. Aber irgendwann müsste eine transzendentale Begründung und Rechtfertigung folgen, wie es zu einer Phänomenologie, d. h. einer phänomenalen Welterkenntnis im und aus dem  Bewusstsein kommen kann. Die Begrifflichkeit, die er entwickelt, ist teilweise bemerkenswert, aber immer fehlt die oberste Synthesis a) einer intelligierenden Quelle aller Evidenz bzw. eine sich selbst begründende Evidenz, und in weiterer Folge  b) die begriffliche Durchdringung der Phänomene mittels dieser eingesehenen Evidenz.  Solange aber  eine transzendentale Selbsterkenntnis des Wissens und einer daraus abgeleiteten  Seinserkenntnis nicht möglich ist, bleiben Husserls phänomenalen Erkenntnisweisen von gut bis weniger gut getroffen, auf jeden Fall zufällig. Was aus seiner Phänomenologie folgen kann, sehe ich dann in den Konstruktionen eines Heidegger oder im arché-Denken des Differenzierens bei Derrida: Die Phänomene offenbaren nichts oder sind unmaßgebliche, subjektivistische Meinungen. 

HUSSERL  beginnt hier in § 30 wieder mit einer disjunktiv vorausgesetzten,  „daseienden“ Welt, die mit dem Bewusstsein verknüpft ist. Die Frage ist nur über die Behauptung hinausgehend –  wie? Sie soll unter die zu erarbeitenden  „phänomenologischen“ Gesetze gestellt (subsumiert)   und umgekehrt sollen diese Gesetze (Begriffe) auf die (Anschauung) Welt restringiert werden.  Das ist aber ein nicht durchschauter subjektiver Denkakt und ein nicht durchschauter Schematismus. Warum soll sich die Welt nach den zufällig gefundenen logisch-semantischen Strukturen dieses Bewusstseins richten? Warum sollen die von HUSSERL aufgestellten prädikativen und kategorialen Redeweisen die grundlegenden der Welterkenntnis sein? M. a. W., der Reflexionsstandpunkt dieses „phänomenologischen“ Wissens nach HUSSERL kann sich selbst nicht erkenntnismäßig einholen. Wenn aber schon von „wissenschaftlich“ gesprochen wird – so ist das keine wissenschaftliche Erkenntnis im strengen Sinne der Strukturmomente des Wissens, die das wahre Sein gemäß Vernunft entfalten.  Für die Naturwissenschaft mag eine durch das Experiment in den Gegenstand hineingelegte Hypothese insofern legitimiert sein und genügen, als  anschaulich der Gegenstand oder ein Sachverhalt demonstriert werden kann.  Wie sollte aber durch die phänomenologische Methode, bzw., wie er es nennt, durch die „phänomenologische Reduktion“, eine Art Falsifikation oder Verifikation der Phänomene erreicht werden, wie sie in der Naturwissenschaft dann in Wahrscheinlichkeitsgesetzen  akzeptiert wird?  Welche Beweise kann die „phänomenologische Methode“ vorweisen? Es ist doch bestenfalls ein Zirkel – wenn nicht überhaupt leere Begrifflichkeit – der zuvor in die daseiende Welt hineingelegten Bewusstseinsgesetze, die aber nicht die Phänomene als solche, in ihrem transzendentalen und notwendigen Erscheinungs-Status, offenbaren.  

M. a. W., der phänomenologische Zirkel wird nicht aufgelöst, weil der Freiheitsakt im Wissen nicht erkannt ist. Die gesetzliche Struktur des Wissens, die eine notwendige Struktur des Handelns ist, wird nicht mehr erreicht und eingesehen.  Im Grunde ist es die von HUSSERL sonst so verpönte Ansicht der bloßen Beobachtung naturwissenschaftlicher oder intelligibler Phänomene: Es wird angeblich etwas erschaut im  Wissen, da aber für dieses Sehen das Prinzip fehlt, worin und woraus der Wert und der Sinn des Erschauten sich begründet, bleibt das Erschaute ein unauflöslich faktisch Geschautes, so wie eben die Naturwissenschaften das Empirische sehen und daran glauben. 

Meine Ansicht: Es müsste das Gesetz des Wissens als Gesetz der Freiheit und der daraus folgenden Gesetzmäßigkeiten in der Anwendung auf die Erscheinungen  aus einer gnoseologischen Einheit der Vernunft abgeleitet werden, wodurch theoretische, wie  wesentlich sittlich-praktische und transzendentale Erkenntnisbedingungen  einfließen, die ein  Phänomen in ihrem Wert und Sinn erkennen. 1

5) § 3 1. Radikale Änderung der natürlichen Thesis. Die „Ausschaltung“, „Einklammerung“ .

Anstatt nun in dieser Einstellung zu verbleiben, wollen wir sie radikal ändern. Es gilt jetzt, sich von der prinzipiellen Möglichkeit dieser Änderung zu überzeugen.

Die Generalthesis, vermöge deren die reale Umwelt beständig nicht bloß überhaupt auffassungsmäßig bewußt, sondern als daseiende „Wirklichkeit“ bewußt ist, besteht natürlich nicht in einem eigenen Akte, in einem artikulierten Urteil über Existenz. Sie ist ja etwas während der ganzen Dauer der Einstellung, d.i. während des natürlichen wachen Dahinlebens dauernd Bestehendes. (…) (ebd. S 137.138)

Die Thesis der „natürlichen Einstellung“ soll nicht aufgehoben werden, aber der cartesianische Zweifel verlangt es, das „Vorhandene“ der Wirklichkeit zu hinterfragen und in Absicht einer erkenntniskritischen Prüfung der data die Akte des geistigen Handelns zu erforschen.

Hier kommt HUSSERL jetzt zu diesem schillernden Begriff der „Einklammerung“ oder „Ausschaltung“ (ebd. S 140), der „epoché“ (ebd.), worin für ihn einerseits die „unerschütterte“ und „unerschütterliche“ Überzeugung „von der Wahrheit“ erhalten bleibt, aber andererseits eine „Urteilsenthaltung“ , ein „eingeklammertes Urteil“ möglich wird.

„(…) Überlegen wir, was im Wesen eines solchen Aktes liegt. (…)

In Beziehung auf jede Thesis können wir und in voller Freiheit diese eigentümliche epoché üben, eine gewisse Urteilsenthaltung, die sich mit der unerschütterten und ev. unerschütterlichen, weil evidenten Überzeugung von der Wahrheit verträgt. Die Thesis wird „außer Aktion gesetzt“, eingeklammert, sie verwandelt sich in die Modifikation „eingeklammerte Thesis“, das Urteil schlechthin in das „eingeklammerte Urteil“. (ebd. S 140)

Meine skeptische Anfrage: Es ist nicht denkmöglich, eine Aussage zu machen, und trotzdem kein Urteil zu fällen. Jede Aussage nimmt Bezug auf Wahrheit und der Begriff einer „Urteilsenthaltung“ enthält selber wiederum einen Geltungsanspruch von Wahrheit und kann für sich keine Nicht-Aussage und keine „eingeklammerte Thesis“, kein Nicht-Urteil, sein.

Um in der gewissen Absicht seiner „Phänomenologie“ voranzuschreiten, unterzieht HUSSERL den Gegenstandsbereich der „Phänomenologie“ selbst einer „Einklammerung“.

„Es ist ferner anzumerken, daß nichts im Wege steht, korrelativ auch in Ansehung einer zu setzenden Gegenständlichkeit, welcher Region und Kategorie auch immer, von Einklammerung zu sprechen. In diesem Falle ist gemeint, daß jede auf diese Gegenständlichkeit bezogene Thesis auszuschalten und in ihre Einklammerungsmodifikation zu verwandeIn sei. Genau besehen, paßt übrigens das Bild von der Einklammerung von vornherein besser auf die Gegenstandssphäre, ebenso wie die Rede vom Außer-Aktion-setzen besser auf die Akt- bzw. Bewußtseinssphäre paßt.“ (ebd. S. 141)

In geistiger Verwandtschaft zur induktiven Wesenserkenntnis eines ARISTOTELES oder eines THOMAS können die „species intelligibiles“ in der Gegenständlichkeit der Dinge erkannt werden, d. h. aber a) uneingedenk bleibt der eigene Erkenntnisakt, der noch dazu „eingeklammert“ werden soll, und b) uneingedenk bleibt das Schema, wie diese Gegenständlichkeit der Erfahrung erzeugt wird. Egal was erscheint, ob Zahlen, Tiere, Pflanzen, Menschen, Gott – alles ist schon „gegenständlich“ konzipiert.

6) Der nächste Abschnitt scheint mir der dunkelste der ganzen Erörterung des Abschnitts 2 der IDEEN I zu sein. Wenn HUSSERL den einklammernden Akt der Erkenntnis behauptet, zugleich aber alle urteilende Erkenntnis ausschalten will, von welcher Erkenntnis redet er? Gibt es eine „phänomenlogische“ Extra-Erkenntnis? 

7) II. Bewußtsein und natürliche Wirklichkeit.

§ 33. Vordeutung auf das „reine“ oder „transzendentale Bewußtsein“ als das phänomenologische Residuum.

Den Sinn der phänomenologischen Epoché haben wir verstehen gelernt, keineswegs aber ihre mögliche Leistung. Es ist vor allem nicht klar, inwiefern mit der im Vorstehenden gegebenen Begrenzung der Gesamtsphäre der Epoche wirklich eine Einschränkung ihrer Universalität gegeben sei. Was kann denn übrig bleiben, wenn die ganze Welt, eingerechnet uns selbst mit allem cogitare, ausgeschaltet ist? (ebd. S 143)

HUSSERL steuert auf den „Eidos“ der Welt hin – und zuerst auf eine relative Selbstständigkeit des „Bewusstseins“.

(….) Wir gehen in diesen Studien soweit, als es nötig ist, die Einsicht zu vollziehen, auf die wir es abgesehen haben, nämlich die Einsicht, daß Bewußtsein in sich selbst ein Eigensein hat, das in seinem absoluten Eigenwesen durch die phänomenologische Ausschaltung nicht betroffen wird. Somit bleibt es als “ phänomenologisches Residuum“ zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann – der Phänomenologie. (ebd. S. 145)

Im Denken der Substanz „Bewusstsein“ setze ich diese Existenz voraus? Das ist doch entweder ein bloß faktisches Argument, oder ist es als ontologisches Argument gedacht d. h. im Denken der Idee setze ich ihr Dasein voraus. Das widerspricht sowohl KANT, der einen „Paralogismus“ des Denkens und des Seins einer Seele ablehnte, aber selbst wenn man hier nicht mit KANT konform gehen will, so widerspricht es vorallem total DESCARTES, der bekanntlich sein cogito/sum ebenfalls für zweifelhaft behauptete –  wenn es ist nicht durch die „veracitas Dei“ legitimiert sein  sollte.  Was bleibt von den (faktischen) Bewusstseinsakten und deren Phänomene bei HUSSERL zweifelsfrei übrig?

Ich kann wahrscheinlich aus dieser kleinen Stelle nicht den ganzen Bedeutungshorizont seiner beabsichtigten „Phänomenologie“ nachvollziehen, aber wenn ich nur buchstäblich bei KANT bleiben möchte – und irgendwie muss HUSSERL diesen Sprachgebrauch als verbindlich ansehen, wenn er sich verständlich machen will!  – so gewinnt HUSSERLS  Verwendung des Wortes „Phänomen“ eine prekäre Bedeutung. In transzendentaler Verwendung eines damit zu bezeichnenden Gegenstandes hat ihn KANT ziemlich genau definiert: Der Begriff „phaenomena“ hat a) nur als Gegenbegriff zu „noumena“ einen Sinn und b) sonst ist seine Verwendung in einem positiven Sinn abzulehnen. Ich zitiere KrV:

(…) Gleichwohl liegt es doch schon in unserm Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände als Erscheinungen Sinnenwesen (Phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden: daß wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar nicht Objecte unserer Sinne sind, als Gegenstände, bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüber stellen und sie Verstandeswesen (Noumena) nennen. Nun frägt sich: ob unsere reine Verstandesbegriffe nicht in Ansehung dieser letzteren Bedeutung haben und eine Erkenntnißart derselben sein könnten? (KrV B 306)

Es geht im Abschnitt der Unterscheidung „Phaenomena und Noumena“ (KrV B 294 ff) um die Grenzen der Erkenntnis, d. h. hier um die Grenzen der begrifflichen Verstandeserkenntnis. Die Verstandeserkenntnis ist die logos-hafte Erkenntnis – wie sollen dann gerade die „Phänomene“ bei HUSSERL verstanden werden, wenn keine noumenale Abgrenzung geschieht?      HUSSERL überschreitet hier für mich den (kantischen) Erkenntnisbegriff (der Phänomene) und geht transzendierend über die Erkenntnis  der Erscheinungen der Dinge, in ihrem  Gegensatz zu ihrem noumenalen Charakter,  hinaus. Hier das scharfe Verdikt gegen eine Verwechslung von  „Phaenomena“ und „Noumena“  bei KANT. Versteht dann folglich die Erkenntnis der „Phaenomena“ HUSSERL in einem nur psychologischen Sinn?  

Die Eintheilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt kann daher in positiver Bedeutung° gar nicht zugelassen werden, (…) (KrV B 310)

Wir das Wort „transzendental“ bei HUSSERL   psychologisch verstanden  – wie ebenso bei vielen Neukantianern? Hier der mehrdeutige Gebrauch  bei HUSSERL:

Zu unserer Terminologie sei noch folgendes beigefügt. Wichtige in der erkenntnistheoretischen Problematik gründende Motive rechtfertigen es, wenn wir das „reine“ Bewußtsein, von dem soviel die Rede sein wird, auch als transzendentales Bewußtsein bezeichnen, wie auch die Operation, durch welche es gewonnen wird, als transzendentale epoché. (ebd. S 146)

Transzendental wäre die Einheit eines Wissens, die für sich gewiss ist – weil sie im Absoluten begründet und gerechtfertigt ist –  in der und aus der durch die Handlungsart des Geistes das  Denken und Sein (die Anschauung) abgeleitet werden können. Das „reine Bewusstsein“ ist eine fragile, mentale, introspektive Erfahrung, höchst prekär! 
Weil HUSSERL keine transzendentalen Einheit des Sich-Wissens kennt – oder nicht kennen und zugeben will?- ,  kann es natürlich keine Ableitung der Anschauung und der Einheit in der Vorstellung geben: Es bleibt die ständige, synthetisch nicht einholbare Disjunktion zwischen Denken und Anschauung, zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Es wird dementsprechend  zwischen idealistischem und realistischem Reflexionsstandpunkt hin und her gesprungen. Es wird begrifflich bezogen: Das vorausgesetzte „Bewusstsein“  richtet sich auf die Phänomene und die Phänomene richten sich auf das „Bewusstsein“, wodurch das Denken selbst relational wird – und der diese Beziehung reflexiv ermöglichende Erkenntnisgrund und Rechtsgrund muss relational auf eine höhere Relation hin bezogen werden, worin Denken und Objekt vereint sind,  in einem unendlichen Reflexionsregress. M. a. W. Der Grund dieser Beziehung bleibt dunkel und irrational. Das Denken kann sich aber nur auf Vorstellungen beziehen, nicht auf reale Objekte wie die eruierten „Phänomene“. 

Durch diesen infiniten Rekurs erklären sich bei mir die  mannigfaltigen Neuansätze, Einschübe, Verbesserungen, Nacharbeitungen, die sich zuhauf in den Schriften HUSSERLS finden.  Anders ausgedrückt: HUSSERLS Sehen, weil ja seine Phänomenologie stets als besonderes Sehen hochgehalten wird, ist ein blinder relationaler Akt, eine bloß begriffliche Vermittlung, und offenbart weder die „Phänomene“, falls sie im Gegensatz zu den „Noumenen“ konzediert werden sollten, noch den Erkenntnis- und Rechtfertigungsgrund des Bewusstseinsaktes, der diese Relationalität zu den Vorstellungen stiftet.

Ich zitiere nochmals aus diesem Abschnitt „Phaenoma und Noumena“ bei KANT:
Die Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe werden ausdrücklich und rigoros auf die Erscheinungswelt restringiert und sind für sich nicht relational auf einen vermeintlich höheren „phänomenologischen“ Bewusstseinsstrom zurückzuführen.

Daß also der Verstand von allen seinen Grundsätzen a priori, ja von allen seinen Begriffen keinen andern als empirischen, niemals aber einen transscendentalen Gebrauch machen könne, ist ein Satz, der, wenn er mit Überzeugung erkannt werden kann, in wichtige Folgen |hinaussieht. (KrV B 298)

Die Hauptursache des dogmatischen Denkens bei HUSSERL scheint mir in diesen zwei Angelpunkten festzumachen: a) Er kennt weder den primären Vernunftakt (um in einer platonischen Denkform zu sprechen) noch b) den basalen Ansatz in der Wahrnehmung, den ich als Gefühl/Hemmung/Aufruf beschreiben will, aber alle apriorischen Wissensformen schon enthalten muss. Sowohl der apriorische Vernunftakt eines Wollens, als auch die Wahrnehmung, sie müssen als unmittelbare Evidenzen herausgearbeitet werden können, genetisierbar aus einer überdisjunktiven Wahrheit, und können nicht nachträglich, relational durch Denken, bezogen auf die Phänomene – als Dinge an sich behandelt -,  vermittelt sein.

Gerade diese unmittelbare Evidenz und die überdisjunktive Begründung und Rechtfertigung des Wissens aus der Wahrheit vermeidet HUSSERL. Er ist auf faktische „Evidenzen“ in seinem „intentionalen“ Erkenntnisakt angewiesen. Damit wird alles irgendwie psychologisch, wird  dogmatisch,  und er bleibt in einem ständigen Wechsel von Realismus und Idealismus befangen, natürlich stärker zum Idealismus neigend. Denn nehme ich keine unmittelbare Erkenntnis in der Wahrnehmung an (im Gefühl, im Trieb) – und keine genetisierte Erkenntnis des cogito/sum aus der „veracitas Dei“, wie es DESCARTES gemacht hat – gerate ich in eine idealistische Hartnäckigkeit hinein, der natürlich jede Evidenz zu hinterfragen und zur bloßen Erscheinung (Phänomen) einer verborgenen Welt zu degradieren vermag – eben weil, wie KANT sagen täte, der Verstand ständig in transzendenten Vernunftgebrauch umkippt. Der Verstand muss nicht (kraft der formalen Freiheit des Menschen) die Grenze der unmittelbaren Wahrnehmung und den primären Vernunftakt anerkennen, er vermag alles in Phänomenalität eines  vermeintlich „höheren“  Ereignisses/Dinges/der Zeit/der Sprache aufzulösen – aber Wahrheit enthält er damit nicht mehr, weil sich im Verstandes- und Wissensakt die Wahrheit nicht bildend bewähren kann. Eine bloß selbst erdachte, dann „faktisch“ genannte, Phänomenalität der Dinge offenbart für sich keine Wahrheit, verdeckt vielmehr den primären Vernunftakt und verleugnet die unmittelbare Evidenz des Wissens in der qualitativen Wahrnehmung bzw. im Wissensakt einer intelligierten Einsicht. (Haben vielleicht deshalb eine Hl. Edith Stein oder ein Dietrich von Hildebrand den transzendentalen Schwenk von HUSSERL nicht mehr mitgemacht? Eine historische Frage.) 

Nichtsdestotrotz erhebt HUSSERL einen hohen Geltungsanspruch:  

Solange die Möglichkeit der phänomenologischen Einstellung nicht erkannt und die Methode, die mit ihr entspringenden Gegenständlichkeiten zur originären Erfassung zu bringen, nicht ausgebildet war, mußte die phänomenologische Welt eine unbekannte, ja kaum geahnte bleiben. (ebd. S 146)

8) Der (selbst nicht analytisch-kritische) Bewusstseinsakt wird zum „Bewusstseinserlebnis überhaupt“ (ebd. S 147) und zum „Erlebnisstrom“ (ebd. S 148) Es wird Anleihe genommen beim „cogito“ des DESCARTES (ebd. S 147), aber ohne dessen Begründung und Rechtfertigung des „cogito“ aus der „veracitas Dei“ mitzuvollziehen!

Allein schon das Bild des „Stromes“ müsste einen hellhörig machen: Ein ständig sich fließendes Bewusstsein kann keine Einheit des Sich-Wissens erreichen, mithin überhaupt kein Wissen sein.

„Die Bewußtseinserlebnisse betrachten wir i n d e r g a n z e n F ü l l e  d e r  K o n kr e t i o n, mit der sie in ihrem konkreten Zusammenhange – dem E r l e b n i s s t r o m – auftreten, und zu dem sie sich durch ihr eigenes Wesen zusammenschließen. Es wird dann evident, daß jedes Erlebnis des Stromes, das der reflektive Blick zu treffen vermag, e i n  e i g e n e s,  i n t u i t i v zu    e r f a ss en d e s W e s e n hat, einen “ Inhalt “ , der sich in seiner E i g e nh e i t  f ü r s i c h betrachten läßt. Es kommt uns darauf an, diesen Eigengehalt der cogitatio in seiner r e i n e n Eigenheit zu erfassen und allgemein zu charakterisieren, also unter Ausschluß von allem, was nicht in der cogitatio nach dem, was sie in sich selbst ist, liegt.“ (ebd. S 148 )

9) Ein Beispiel von HUSSERL: Er unterscheidet einen beliebigen Gegenstand der Erfahrung (das weiße Papierblatt) als „cogitatum“ von der „cogitatio“, nennt es „Wahrnehmungserlebnis“(ebd. S 149), und findet gerade darin den Ausgangspunkt weiterer Unterscheidungen, ja sogar bewusster Reflexionen: dass selbst so ein x-beliebiger Gegenstand eines Papiers einen „Erfahrungshintergrund“, einen Hof von „Hintergrundanschauung“ (ebd. S 149) hinter sich hat und somit eine „Bewusstseinserlebnis“ bedeutet – das ist aber kein objektiver Ausgang mehr von einer äußeren Wahrnehmung, sondern nur psychologischer Schluss und psychologische Schwärmerei. (ebd. S 149)

Die Bestimmung eines x-beliebigen Gegenstandes, mithin die Bezeichnung einer Anschauung mittels eines Begriffes, wird zum scheinbar abhebbaren Bewusstseinserlebnis selbst. Die „Hintergrundanschauung“ wird abstrahiert und in den Modus aktueller Zuwendung in Bewußtsein im Modus der Inaktualität überführt, und umgekehrt. (ebd. S 150)

Für mich ist hier der Schematismus der Übertragung (Restriktion) von Begriffen auf Anschauungsformen völlig einem freien Spekulieren gewichen, sodass von der Potentialität in die Aktualität übergegangen werden kann und umgekehrt, die Aktualität eines „cogitatio“ in einen höheren Denkakt wieder zurückgenommen werden darf usw., aber alles unbegründet ad infinitum.  M. a. W. der Begriff Gott und die Welt können wechselweise einer „phänomenlogischen“ Betrachtung unterzogen werden, einmal potentiell, einmal aktual gesehen werden, je nachdem, wie das Subjekt gerade gewillt und gestimmt ist.

Im Beispiel eines Blattes Papier würde KANT maximal von einer „empirischer Apprehension“ sprechen, und nicht so übertrieben von „Zuwendung“, vom Akt des „herausfassenden Achtens“ (ebd. S 151), vom „geistigen Blick“ (ebd. S 150). In der kantischen Apprehension wird wenigstens die Wahrnehmung noch festgehalten, bei HUSSERL wird sie überflogen.

HUSSERL nimmt an dieser Stelle in Anspruch, der „Erlebnisstrom“, das „Bewusstsein von etwas“ (ebd. S 151) ist  schon das „cogito“ des DESCARTES, oder eine „modifizierte cogitatio“ (Abschnitt 10, ebd. S 152). Es geschieht eine seltsame Uminterpretation des „cogito“, so als gäbe es in Opposition zum aktualen, existentiellen Bewusstseinsakt noch einen „Inaktualitätsmodus“ (Überschrift, ebd. S 148) des cogito.

(…) der Erlebnisstrom kann nie aus lauter Aktualitäten bestehen. Eben die letzteren bestimmen in der weitesten Verallgemeinerung, die über den Kreis unserer Beispiele hinauszuführen ist, und in der vollzogenen Kontrastierung mit den Inaktualitäten den prägnanten Sinn des Ausdrucks “ cogito“, “ ich habe Bewußtsein von etwas„, “ ich vollziehe einen Bewußtseinsakt“ . Diesen festen Begriff scharf geschieden zu erhalten, werden wir ausschließlich für ihn die Cartesianischen Reden cogito und cogitationes vorbehalten, es sei denn, daß wir ausdrücklich durch einen Beisatz, wie “ inaktuell“ u. dgl., die Modifikation anzeigen. (ebd. S 151)

Sein „Bewusstsein von etwas“ scheint anfangs ein synthetisierendes Apponieren von apriorischen Wissenselementen und aposteriorischen Wahrnehmungselementen zu sein, aber siehe da, bald wird auch diese Ebene einer Rückbindung an sinnliche Anschauungen verlassen zugunsten einer Ebene, die dann „intentionales Erlebnis“ in Abschnitt 10 genannt wird.

10) § 36. „So durchgreifend die Änderung ist, welche die Erlebnisse aktuellen Bewußtseins durch Übergang in die Inaktualität erfahren, es haben die modifizierten Erlebnisse doch noch eine bedeutsame Wesensgemeinschaft mit den ursprünglichen. Allgemein gehört es zum Wesen jedes aktuellen cogito, Bewußtsein von etwas zu sein. In ihrer Weise ist aber, nach dem vorhin Ausgeführten, die modifizierte cogitatio ebenfalls Bewußtsein, und von demselben wie die entsprechende unmodifizierte.“ (ebd. S 152)

Das „cogito“ oder die „modifizierte cogitatio“ (ebd.) ist eine allgemeine Wesenseigenschaft, ein Wesensgesetz des Bewusstsein, und wird zusätzlich mit einem praktischen Wesenszug des „intentionalen Erlebnisses“ (ebd.) ausgezeichnet.

„Die allgemeine Wesenseigenschaft des Bewußtseins bleibt also in der Modifikation erhalten. Alle Erlebnisse, die diese Wesenseigenschaften gemein haben, heißen auch “ intentionale Erlebnisse“ (Akte in dem weitesten Sinne der „Logischen Untersuchungen“); sofern sie Bewußtsein von etwas sind, heißen sie auf dieses Etwas “ intentional bezogen. (ebd. S 152)

Woher jetzt diese Auszeichnung und dieses Wissen um eine intentionale Bezogenheit des Bewussteins? Das ist gut erfunden und gut getroffen, aber nach bisherigen Analysen müsste die Intention und die Intentionalität des Bewusstseins im „Erlebnisstrom“ und „Bewusstseinsstrom“ zu finden sein? Also ist diese „transzendentale“ Erkenntnis doch nicht nur psychologisch? Woher hat er die Intention hergeholt und wohin eingeschoben?

Die Einführung des  Intentionalen sei hier von mir einmal zugestanden,  weil ich um die interpersonale Vermittlung alles Wissens weiß. Aber will es Husserl  auch so verstanden haben?  Wenn das Wesen des Bewusstseins, das „reine Wesen“ (ebd.) ist, „in unbedingter Notwendigkeit beschlossen“ (ebd.), woher kommt dann die Eigenschaft „intentional“? Der Begriff harrt weiterer Aufklärung.

Transzendental würde ich sagen: Mit der Intention ist ein praktisch-sittlicher Wert in Bezug auf eine andere Person oder auf Gott  verbunden, eine Bezogenheit des ganzheitlichen Handelns (des Vorstellens, Wollens, Handelns), das rückbezüglich in Erkenntnis selbst gewusst wird, ansonsten würde das Denken selbst wieder relational.
Ein Wert und eine irgendwie wahrnehmbare Forderung (Sinnforderung) ist in der bisherigen Methode der husserlschen Phänomenologie (Ideen 1. Teil) aber explizit noch nicht angesprochen! Im Gegenteil, nur das Bewusstsein selbst in seiner Eigenständigkeit und die „epoché“ der Ausklammerung aller konkreten Beziehung wurde faktisch angesetzt. In welcher Absicht wird  jetzt die Intentionalität und Gerichtetheit der phänomenologischen Rezeption geführt?

Im weiteren Verlauf des Abschnittes 10 soll die Intentionalität von anderen „Empfindungsdaten“ (ebd. S 153) unterschieden werden, aber das verkompliziert die Sache: Entweder sind alle Empfindungen und Gefühle intentional aufgeladen und besetzt – oder es wird wieder eine spezifische Bedeutung eingeführt – wie ähnlich oben die cartesianischen „cogitationes“ zum Bewusstseinsstrom und Bewusstseinserlebnis ummodifiziert wurden? Das würde dann etwa heißen: Gewisse Eigenschaften des Bewusstseins gelten als intentional, andere sind bloß „Empfindungsdaten“?

„Daß ein Erlebnis Bewußtsein von etwas ist, z.B. eine Fiktion Fiktion des bestimmten Kentauren, aber auch eine Wahrnehmung Wahrnehmung ihres „wirklichen“ Gegenstandes, ein Urteil Urteil seines Sachverhaltes usw., das geht nicht das Erlebnisfaktum in der Welt, speziell im faktischen psychologischen Zusammenhange an, sondern das reine und in der Ideation als pure Idee erfaßte Wesen. Im Wesen des Erlebnisses selbst liegt nicht nur, daß es, sondern auch wovon es Bewußtsein ist, und in welchem bestimmten oder unbestimmten Sinne es das ist. Somit liegt es auch im Wesen des inaktuellen Bewußtseins beschlossen, in wie geartete aktuelle cogitationes es durch die oben besprochene Modifikation überzuführen ist, die wir als „Hinwendung des achtenden Blickes auf das vordem Unbeachtete“ bezeichnen.“ (ebd.S 153)

Ich wiederhole meine Argumente von oben: Wie kann eine nachträgliche Bezogenheit und Intentionalität und generell eine vermittelnde „phänomenologische“ Erkenntnisart und Erkenntnisebene eingeführt werden, wenn von vornherein das systematische Prinzip a priori eines zweifelsfreien Wissens, das sich rückbezüglich und interpersonal schon kennt und sich notwendig in eine Mannigfaltigkeit von Phänomenen darzustellen weiß,  fehlt?  Es fehlt mir die transzendentale Einheitsfunktion des Wissens und umgekehrt die daraus ableitbare Erscheinungslehre aller Phänomene – und vermittels der überdisjunktiven Wahrheit und Einheit  die genauere prädikative und kategoriale Redeweise, wie die Phänomene bis zu den empirischen Begriffen  benannt und dargestellt werden. M. a. W., die Begriffe können bei HUSSERL nicht in einem Schematismus der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft bzw. der reproduzierenden Einbildungskraft (der reflektierenden Urteilskraft)  auf die Anschauungsformen Zeit und Raum übertragen werden, weil deren genetisches Prinzip der Erzeugung fehlt.

Die Reflexion des Philosophen auf den ursprünglichen Denk- und Selbstbestimmungsakt des menschlichen Geistes und die damit einhergehende Objektivierung verlangen einen primären Vernunftakt, dem so  getreu wie möglich nachzugehen ist. Wie könnte  aber vom sekundären Vernunftakt der Beobachtung der Phänomene bzw. vom sich psychologisch beobachtenden Denken und „reinen Bewusstsein“, manchmal auch „egologisch“ genannt, nochmals basierend auf einen „Bewusstseinsstrom“ oder „Erlebnisstrom“, zum primären, ursprünglichen Vernunftakt aufgestiegen werden?

Das sekundär-phänomenologische Beobachten erreicht nie a) den ursprünglichen Akt der Einbildungskraft, worin die Anschauungen  erstellt werden, b) erreicht nie die reflektierende Urteilskraft der Kategorien und höheren Relationsbegriffe (die Relationsideen wie den Zweckbegriff), schließlich c) nie die Evidenz der Verstandeserkenntnis und Vernunfterkenntnis, das Sich-Bilden des Wissens, worin der Begriff des Wissens in und durch die Erscheinung des Absoluten begründet und gerechtfertigt werden kann.

M. a. W., das geistige Bilden und die Bewährung einer anschaulichen und begrifflichen Objektivierung kann gerade nicht von einem faktisch eingeführten Bewusstseinsstrom und den faktisch aufgelesenen cogitationes und angeblichen „Intentionalitäten“ ausgehen, sondern umgekehrt geht das Wissen und die Wahrnehmung bereits von einem Gehalt einer überdisjunktiven Wahrheit aus, der Geltungsgrund wie  Geltungsform späterer Differenzierungen ist.

(c) Franz Strasser, 4. 8. 2018

Literatur: J. G. Fichte,  „Thatsachen des Bewusstseyns“ von 1811, Kollegnachschrift Halle, fhs 2 (frommann-holzboog Studientexte) 2003. (=GA IV/4, 125-191).
E. Husserl, Cartesianische Meditationen: eine Einleitung in die Phänomenologie. Hamburg, Meiner, 1995.
Ders., Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II, Reclamausgabe, Stuttgart 1998.
Ders., Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, Reclamausgabe, Stuttgart 1998. 

1Vgl. dazu sehr gut: K. Hammacher, Der Begriff des Wissens bei Fichte, Transzendentale Theorie und Praxis. Zugänge zu Fichte. Amsterdam-Atlanta, 1996, 1 – 27.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser