Jacques DERRIDAS frühes Denken stand im Kontext des französischen Strukturalismus. Ein Aufsatz dieser Zeit war „Kraft und Bedeutung“ (=KB) (1963)1. Hierin sind aber bereits kritische Anfragen auf den Strukturalismus hin gestellt, denn auch dieser muss eine Metaphysik voraussetzen, wenn er eine „Struktur“ denkt. „Es ist eine von ihren Kräften verlassene Totalität, sogar wenn sie Totalität der Form des Sinns ist, denn es handelt sich nunmehr um die in die Form neu hineingedachten Sinn; und die Struktur wird zur formalen Einheit von Form und Sinn.“ (KB, S 13)
Das strukturalistische Bewusstsein ist für Derrida rückwärtsgewandt, es ist das „Denken der Vergangenheit“, „Reflexion des Vollbrachten“, ein Denken, das von seinem schöpferischen Ursprung entbunden und emanzipiert ist. (ebd., Anm 3, S 12). Aber die Kraft in einem Werk ist als verborgener Ursprung gegenwärtig und muss gesehen werden. Eine bloß strukturalistische Analyse neutralisiert diese Kraft – und setzt statt des im Werk angelegten Sinn einen anderen Sinn. Gerade im Aufdecken der Form oder der Struktur wird der Sinn und die Kraft des Werkes verborgen.
Es müsse „die Kraft, das Andere der Sprache“ ( KB 47) aufgehellt werden, das Vor, der nicht in der Sprache liegende Ursprung.
Es folgte von Derrida in einem Vortrag in Amerika „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“ (abk=SZ)2 die Anbahnung eines eigenen Entwurfes einer zukünftigen Philosophie angesichts der erhobenen Problematik eines nicht-ursprünglichen Ursprungs im Strukturalismus. Dieser Ursprung müsse nochmals durch die Schrift „vorgängig“ gedacht werden. Im Vortrag „Entwurf“ und in „Die Stimme und das Phänomen“ ist dies explizit vorbereitet und in „Grammatologie“ und im Vortrag Ende Jänner 1968 als „la différance“ entfaltet.
DERRIDA bringt im „Entwurf“ ein Art von Neologismen: „différance“, Spur/Ur-Spur und Schrift/Ur-Schrift.
In der „Grammatologie“, 1967 (deutsch 1974) ist die „différance“ so vorbereitet: „In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, dass es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die „Differenz, in welche das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.“ (Derrida, Grammatologie, 12 2013, 114.
„Das heißt, es geht hier um die Frage der Entstehung von „Bedeutung“ (so problematisch dieser Begriff auch ist), ohne einen Ursprung benennen und ohne eine Sinn fixieren zu können.“ 3
Das legitime Anliegen DERRIDAS, so könnte es zusammengefasst werden, ist es, den Sinn einer Dekonstruktion zu zeigen. Es wird oft unkritisch und objektivistisch ein Sinn vorausgesetzt und eine damit verbundene, objektivistische Transzendenz. Ich möchte ihm hier nur zustimmen, weil das Absolute damit nur relativiert und in relative Bezüge des Seins gefasst und herabdegradiert wird.
Wie Derrida seine Kritik schildert – ja das müsste ich jetzt viel mehr würdigen!
Das Absolute im Modus eines vorgestellten Seins zu denken, eines bloßen Begriffes eines unsichtbaren Grundes, das führt zu einem heillosen Zirkel und missversteht die Form und den Sinn des Begriffes: Dass er selber nur Negationsbild a) des absoluten Seins sein kann, und b) als Form schon Resultat einer unbildbaren Genesis. Die Form des Begriffes, oder, was hier das Gleiche sagen soll, die Form einer Negation, kann selbst nicht absolut sein, sondern ist ihrerseits schon Resultat eines bestimmten genetischen Aktes. Der Begriff kann nur an der selbst unbildbaren Einheit des absoluten Grundes auftreten, an der Erscheinung des Absoluten, welche Erscheinung als Ganze a) die negative Differenz zum Absoluten im Denken (im Begriff, im Bilden) erst ermöglicht und b) selbst die Aufforderung ist, in Freiheit die differentielle Erscheinung nachzubilden.
Meine Frage jetzt und mein Verdacht: Ich finde bei DERRIDA nur die immerwährende, skeptisierende Feststellung, dass jeder Begriff nur in „différance“ zur fortlaufenden Genesis der Erscheinung sich zeigt, was von der einen Seite richtig ist, aber von der anderen Seite ein willkürlicher Abbruch der Reflexion darstellt, denn die faktische „différance“ hat ja einen in der Differenzrelation des Absoluten zu seiner Erscheinung gerechtfertigen und ermöglichenden Grund, die Negation selbst als integrierenden Bestandteil einer geschlossenen Lichtform und Bildensform zu sehen. (Dazu später.)
Nach welcher Selbstbestimmung der Freiheit der Negation an und in der Erscheinung geht DERRIDA vor? Hier ist m. E. DERRIDA schlimm verführt vom deutschen Idealismus eines Hegels und vom Seinsdenken eines Heideggers und so bleibt er m. E. selbst dem Strukturalismus verhaftet, den er kritisiert. Der Struktur-Komplex von Begriff und Absolutem ist zugunsten einer einseitigen Negationsform aufzulösen versucht, kann aber nicht gelingen, weil dies die Möglichkeit des Begriffes überfordert.
Gerade die bei DERRIDA immer wieder begegnende Form der Kritik an der (göttlichen) „Präsenz“ verführt ihn ja selbst zu einem einseitigen, metaphysischen Seinsbegriff der Wahrheit. Der Grund der Erscheinung wird nicht in die Argumentationsstruktur der Analyse des Unbegreiflichen positiv einbezogen, sondern nur negativ als unbegreiflich festgestellt. Wenn der Grund aber wirklich nichts wäre, könnte genetisch nie aus ihm etwas hervorgehen oder hervorgegangen sein, auch nicht die Negation des Begriffes.
Hingegen anders die transzendentale Reflexion bei FICHTE: Mittels Negation der durch sich selbst bestimmter Position begreift der Verstand das Unbegreifliche an der absoluten Vernunft. Das Unbegreifliche ist das Mittel, durch das der Verstand den positiven Grund aller Erzeugung auf sein eigenes Begreifen bezieht. (Siehe z. B. WL 1804/2 21. Vortrag zum Begriff des Verstandes; oder siehe J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, a. a. O., zum Begriff der GenesisS 123 – 132.)
Ich respektiere DERRIDAS Kritik am Strukturalismus und seine Kritik an alter, begrifflicher Seinsmetaphysik, respektiere, dass kein Mensch von Zweifel und Skepsis frei ist, aber deshalb ist uns die Philosophie als Hilfsmittel gegeben, gegen diesen Zweifel anzukämpfen.
Ich kann hier im Rahmen eines kurzen Blogs nicht alle mir zweifelhaften Stellen der „Grammatologie“ aufzählen, aber mir scheint auffällig, dass die von DERRIDA entworfenen Begriffe gedachte Abstraktionen bleiben, reflektierte Bilder aus einer distinctio rationis heraus, deren Konkretisierung und evidente Darstellung dem Leser überantwortet bleib. DERRIDA mag sie schon im Kopf gehabt haben, aber für mich Außenstehenden erscheinen die Abstraktionen im Handumdrehen als reale Entitäten. Der Hauptbegriff der „différance“ hat keine genetische Herleitung. Das wird ja ausdrücklich abgelehnt zu erklären, warum es zur faktischen Differenz kommen muss. Sie bleibt deshalb unerklärlich, metaphysisch hingestellt.
Dieses Differenz-Denken ist für ein ästhetisches und analysierendes Verstehen von Kunstwerken oder Texten ein brauchbares Mittel, aber in einem strikt transzendentalphilosophischen Denken müssen alle Begriffe, auch der Begriff der „différance, oder die von DERRIDA darin gesehene „Präsenz“, die „Spur/Schrift/Sprache“, in ihrer Genese durchschaut werden können. Was ist der Sinngehalt der Differenz, die sich gesetzhaft, unwillkürlich im Bilden und begrifflichen Denken einstellt? Ich kann nicht im Zirkel einer Erklärung des Sinns des differenten Seins und mittels eines faktisierenden, zeitlichen Projizieren dieses Sinns bei dem differenten Sein stehen bleiben. Wenn der von DERRIDA gesuchte Ursprung aller Form (des Begriffes, des Bildes, des Schemas, der Existenz, der Präsenz) ein von ihm einerseits kritisiertes, aber dann doch metaphysisch behauptetes Zeichen ist, fehlt die genetische Erklärung, wie es zu diesem bestimmten genetischen Akt einer solchen Negation und neuen Setzung und neuen Begrifflichkeit kommen kann.
Es ist mir jetzt völlig klar, dass sehr diffizil J. DERRIDA den Begriff der „différance“ herausarbeitet. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, weil in zahlreicher Sekundärliteratur und online-Foren dieser Begriff geradezu hochgehoben wird – siehe z.B Anna Babka – Link Uni Wien.
Aber dieser Begriff muss trotzdem erst auf die Bedingungen seiner Wissbarkeit und seines Geltungsanspruches hinterfragt werden. In späteren Vorträgen scheint mir DERRIDA auch den Weg der Dekonstruktion klar auf seine Bedingung der Möglichkeit hin überstiegen zu haben. 4
Die philosophische Frage seit den Griechen, was ist der Grund, muss auch für das Differenzdenken gelten. Diesen Grund werde ich nicht durch bloße Rekursion finden können, ich muss gleichzeitig die Genesis und darstellenden Synthesis dieses Grundes mitbedenken, was daraus folgt. Das Sich-Bilden einer genetischen Erkenntnis muss sich selbst die Grenze setzen und bestimmen können, was das prädizierte Sein ist, und sie nicht ständig vor sich herschieben als „Zuschickung“ (Heidegger), als Sinn des Seins, als Spur, als „differánce“.
© Franz Strasser
Sept. 2017
1Dieser Artikel Derridas wurde in den Band „Die Schrift und die Differenz“ aufgenommen. Ich zitiere (abk.=SD) nach der dt. Übersetzung (1976), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7 2000.
2Ebenfalls aufgenommen in: Die Schrift und die Differenz, ebd., 422-442,
3Fr. Monika Leisch-Kiesl, ZeichenSetzung | Bildwahrnehmung. Toba Khedoor: Gezeichnete Malerei, Verlag für Moderne Kunst, Linz und Basel 2016, findet in diesem Suchen und Denken J. Derridas eine philosophische Deutung, was eine Zeichnung bedeuten kann. (Ebd. S 8).
4Ich verdanke das einer Lektüre eines Aufsatzes von H. MÜNSTER, Derrida mit Fichte lesen. „Im Zentrum von Derridas Denken wirkt somit eine „pure and unconditional affirmation“ (Caputo, 2004, S. 7), die – als Gerechtigkeit – undekonstruierbar ist, weil sich aus ihr jegliche Dekonstruktion überhaupt erst speist bzw. ihren drive erhält, wie Derrida selbst betont:
„Justice, if it has to do with the other, with the infinite distance of the other, is always unequal to the other, is always incalculable. You cannot calculate justice. Levinas says somewhere that the definition of justice – which is very minimal but which I love, which I think is really rigorous – is that justice is the relation to the other. That is all. Once you relate to the other as the other, then something incalculable comes on the scene, something which cannot be reduced to the law or the history of legal structures. That is what gives deconstruction its movement, that is, constantly to suspect, to criticize the given determinations of culture, of institutions, of legal systems, not in order to destroy them or simply to cancel them, but to be just with justice, to respect this relation to the other as justice“ (Derrida 2003, S. 17f.). 1984 hielt Jacques Derrida aus Anlaß des Neunten Internationalen James Joyce Symposiums in Frankfurt am Main einen Vortrag über Joyce’ Roman Ulysses, der den Titel trägt: Ulysse Gramophone: L’Oui-dire de Joyce. Derrida geht es darin um „Joycens Ja-sagen“ (Derrida 1988, S. 57).