Kritische Gadamerlektüre – zur Struktur der Frage

H.-G. GADAMER spricht in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“, Bd. 1, von der logischen Struktur der Frage“ (Gesammelte Werke, Tübingen 1990, Bd. 1, 304) und vom „hermeneutischen Vorrrang der Frage“ (ebd., S 368 – 375), wie sie schon bei Sokrates und in der platonischen Dialektik zu finden sei. Schließlich geht er auf ein Werk von Collingwood ein (Denken), worin jener Autor erweist, dass eine Antwort eigentlich nur durch die vorangestellte Frage als solche verstanden werden kann (ebd. S 375 – 384). Inwiefern der Frage eine so methodisch wichtige Analyseform des Erkennens von Sein zugestanden sein soll – das möchte ich hier kritisch hinterfragen.

Ich möchte zugegeben, dass GADAMER eine sehr einnehmende Art in seinem Vortrag bzw. Schreibstil hat. Ich las ihn gerne, aber machte mir viele Fragezeichen. Irgendwie fühlte ich mich dieser existentialen Hermeneutik geradezu gefährlich ausgeliefert. Hätte ich nicht FICHTE kennengelernt, ich würde ihm wohl Glauben schenken. So aber sehe ich mich zu einer Kritik veranlasst, – und greife nur ein Stichwort unter vielen anderen heraus: Die „Frage“. Denn genau dazu fand ich eine kleine Notiz bei FICHTE, die sich aber ganz anders anhört und die ganze Crux dieser inhaltlichen Art von Dialektik bei GADAMER offenlegt. Anlass für mich war  folgende Stelle in der WISSENSCHAFTSLEHRE nova methodo v. 1796 -1799: Bei der Frage ist die Frage in Beziehung auf meine Antwort ein bestimmbares, aber ist doch an sich auch etwas bestimmtes, indem es dies und nichts anderes fragt.“ (GA IV, 2, 252). Eine Frage lässt sich  transzendental nur in einem Interpersonalverhältnis klären, nicht in Hinblick auf einen „Seinshorizont.“ Eine Frage ist ein freies Vollziehen einer interpersonaler Bestimmung: Es wird sonach nothwendig ein wirkliches freies Wesen auser mir gedacht als der Grund von der in mir vorkommenden Aufforderung, dieses Bestimmende und Bestimmbare ist ein wirklich freies Wesen auser mir“. (ebd. , Nachschrift Halle, 589).1

I) Um den ganzen Komplex bei GADAMER aufzuzeigen, sei kurz seine Position geschildert: Die Kunst des Verstehens von Texten, das Auslegen und die Applikation der Texte auf das Heute, die damit implizite verbundene Selbstauslegung des Lesers und Interpreten, alles berechtigt nach GADAMER zu einem universalen Verständnis von Hermeneutik überhaupt zu kommen, wonach alle wissenschaftliche Erkenntnis und Erfahrung nur in einem gewissen Seinshorizont von Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit transzendental möglich gedacht werden kann. In Anlehnung an Heidegger verweist GADAMER auf eine Vorstruktur des Verstehens, auf die notwendigen „Vorurteile“ im besten Sinne, auf die „logische Struktur der Frage“ (ebd. S 304) und auf das „Prinzip der Wirkungsgeschichte“ (ebd. S 305f); schließlich kommt er auf den für ihn wichtigen Begriff des „Horizonts“ und der „Horizontverschmelzung“ (ebd. 311.312) zu sprechen; alles historische Verstehen steht in einem vorgegebenen ontologischen Bezug des Seins – und umgekehrt kann dieser Seinsbezug nur von den „eigenen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt“ werden (ebd. S 312).

Im 3. Hauptteil seines Bd. I „Wahrheit und Methode“ geht er schießlich auf die Sprache als eigentliches Medium der hermeneutischen Erfahrung ein: „Sprachliche Form und überlieferter Inhalt lassen sich in der hermeneutischen Erfahrung nicht trennen“ (ebd. 445). Alle Seinserkenntnis (Ontologie des Erkennens) ist sprachlich verfasst und alles Menschsein ist ein sprachliches „In-der-Welt-Sein“ (ebd. 447). Der sprachliche Horizont des Verstehens ist unhintergehbar, ja Sprachlichkeit und mit ihr Geschichtlichkeit des Verstehens sind von spekulativer Bedeutung und offenbaren eine Struktur des Seins, die durch die Idee des Schönen bei PLATON schon belegt ist. GADAMER spricht von einem „eigentümlichen Vorzug des Schönen“ (ebd. 484). Die Offenbarkeit des Seins, worauf alles Fragen hinausläuft, vermag sich im Schönen darzustellen und der „Hiat“ zwischen Sinnlichem und Ideellem“ (ebd. 485) ist im Schönen geschlossen. Das höchste Problem des Platonismus, die Teilhabe und Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung, ist durch die Darstellung des Schönen vermittelt. Die Schönheit hat die „Seinsweise des Lichtes“ (ebd. 486). „Auf der Lichtmetaphysik ist also (letztlich) die enge Beziehung begründet, die zwischen dem Vorscheinen des Schönen und dem Einleuchtenden des Verständlichen besteht.“ (ebd.)

GADAMER verweist auch auf AUGUSTINUS und meint bei ihm eine gleichzeitige Rechtfertigung dafür zu finden, dass Lichtmetaphysik und Wortmetaphysik auf das engste zusammenhängen. Bei AUGUSTINUS‘ Genesiskommentar sei der „Vorklang jener spekulativen Deutung der Sprache, die wir in der Strukturanalyse der hermeneutischen Welterfahrung entwickelt haben“ (ebd. 487), bereits zu finden.

Die ganze Analyse der Verstehensbedingungen endet für GADAMER, so verstehe ich das, in der Erscheinung des Schönen und einer damit korrespondierenden Seinsweise des Verstehens, die „an der Unmittelbarkeit teilgewinnt, durch die von jeher die Erfahrung des Schönen wie überhaupt alle Evidenz der Wahrheit ausgezeichnet ist.“ (ebd. 488). Schon die Wortgeschichte deutet darauf hin, dass alles hermeneutische Verstehen einen Sinn mit sich führt und dass das Sinnvolle „einleuchtend“ ist. (ebd.) Hermeneutisches Verstehen ist zu einer „echten“! (ebd. 493) Erfahrung geworden, zu einem „Geschehen“ (ebd. 489), „das Überlieferte bringt sich in seinem Recht zur Geltung, indem es verstanden wird, und verschiebt den Horizont, der uns bis dahin umschloss. (…) Das Ergebnis des Schönen wie das hermeneutische Geschehen, sie setzen beide die Endlichkeit der menschlichen Existenz grundsätzlich voraus.“ (ebd.).

Die ontologische Grundverfassung ist, „dass Sein Sprache ist, d.h. Sichdarstellen, die uns die hermeneutische Seinserfahrung aufgeschlossen hat“ (ebd. 490). In der Sichdarstellung des Schönen kommt ihr Wesensmoment der aletheia, die Wahrheit, zum Vorschein (ebd. 491), auch als „Bild“ (ebd.), aber es mache keinen Unterschied mehr, ob es selbst oder sein Abbild erscheint (ebd.)

Auf dem Weg der Kunstvermittlung (Kritik des Geschmacks bei KANT) und des subjektiv hermeneutischen Verstehens bei SCHLEIERMACHER u. a. Gründervätern der „historischen Kritik“ hat GADAMER den Weg zu einer universalen Hermeneutik des Verstehens bereitet, der in einer „echten Erfahrung, d. h. der Begegnung mit etwas, das sich als Wahrheit geltend macht“ (ebd. 493), endet. Für die Seinserkenntnis gibt es sozusagen ein „universelles Modell“ (ebd.), dass durch das Phänomen der Sprache und der herausgearbeiteten hermeneutischen Verstehensbedingungen zu erfassen ist. Dadurch kann der „Sinn von Wahrheit, der im Verstehen im Spiele ist“ (ebd.), bestimmt werden.

GADAMER verweist nochmals zurück auf den Spielbegriff, „als Leitfaden der ontologischen Explikation“ (ebd. S 307ff), wodurch sich sowohl das hermeneutische Verstehen wie die Erfahrung des Schönen begreifen lässt. „Wenn wir einen Text verstehen, so nimmt das Sinnvolle desselben genau so ein, wie das Schöne für sich einnimmt.“ (ebd. 494.)

II) Was mich jetzt sehr verwirrt ist, dass das Sein des Erkennenden stets geschichtlich und sprachlich auf das Sein des Erkannten im Text (und universal in jedem Gegenstand des Verstehens) bezogen ist, will sagen, davon abhängig ist. Eine rein apriorische, dialektisch zu entdeckende Erkenntnis, unabhängig von der hermeneutischen Erfahrung, gibt es nicht.
GADAMER versucht seinen Erfahrungsbegriff und die Methode der Analyse der Verstehensbedingungen durch den Rückgang auf Sprache und Geschichtlichkeit, schließlich auf einen dialektischen Begriff der Erscheinung des Schönen, zu begründen und zu rechtfertigen. M. E. kann er aber durch diese geschichtliche Vermittlung gerade a) keine unmittelbare Erkenntnis und Einsicht in die Wahrheit finden – und indirekt bestätigt er das, weil er dann sogleich auf  b) auf PLATON wie auf ein autoritäres Argument verweist. Er steuert grammatisch-philologische und psychologische Gründe von PLATON bei, aber bestätigt ihn nicht begrifflich  in der Ansicht, dass durch die Idee des Guten eine Erkenntnis der Wahrheit wie des Erkenntnisvermögens selbst erreicht wird.  Die Einheit des Wissens und der Wahrheit wird nicht in einem Verstandesbegriff affirmiert, sondern uminterpretiert in ein „unabschließbares Sinngeschehen“ (ebd. 476). (?) (Der „absolute“ Verstand, wie es bei FICHTE heißt, ist uminterpretiert in eine Vermittlung der Erscheinung des „Absoluten“. Das ist nach FICHTE nicht  möglich. Es muss ein Hiatus der Differenzgeltung bleiben, aber diese Geltung ist intelligiert im hervortretenden Bild der Vernunft, siehe dann WL 1804 ab 26. Vortrag – 28. Vortrag).

Die überlieferten Verstehensbedingungen eines PLATON, AUGUSTINUS, wer liebt sie nicht!,  aber werden sie durch das „unabschließbare“ Sinngeschehen von den Toten auferweckt? Ich würde  nach GADAMER der von sich her sich offenbarenden Wahrheit gerne zustimmen, achte die hermeneutischen Verstehensbedingungen, aber die transzendentalen Bedingungen des Verstehens reduktiv auf stets  „höhere“ Verstehensbedingungen zurückzuführen oder sie dezisionistisch abzuschließen –  das ist keine Begründung und Rechtfertigung.

Welche „Wahrheit“ ist hier gemeint? Die Wahrheit welcher Erfahrung?  In idealistischer Sprechweise begründet das hermeneutische Denken die Erfahrung des Menschen mit dem Einschluss von Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit des „In-der-Welt-Seins“, und umgekehrt begründet die Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit die „echte“ (ebd. 493) Erfahrung das verstehenden Denkens? In der Einheit des Wortes und der Sprache, ob mehr analytisch zerlegt gedacht oder dialektisch spekulativ wieder eingeholt, geschieht die Erkenntnis von Wahrheit und umgekehrt heißt alle „Wahrheit“ eine Sich-Darstellung des Schönen und Offenbarung eines Sinns des Verstehens.  Welcher Sinn des Verstehens soll da herauskommen und statuiert werden?  

III) Von den ganzen spekulativen Weiterführungen der Sprachlichkeit des Verstehens abgesehen (ebd. S 460 ff ), anscheinend mit einer Rechtfertigung durch den platonischen Begriff des Schönen  begründbar  und einem anscheinend christlichen Verstehensbegriff des WORTES komparativ vergleichbar,  möchte ich den Punkt seiner Analyse der „logischen Struktur der Frage“ (ebd. 304) aus  „Wahrheit und Methode“ herausgreifen: 

1) Es ist nach christlicher Überzeugung wohl richtig, wenn ich so sagen will, dass uns das göttliche WORT zuerst anspricht. So ähnlich beginnt auch GADAMERS Analyse der Frage: „Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, wie schon oben gesagt, dass etwas uns anspricht. Das ist die oberste aller hermeneutischen Bedingungen.“ (ebd. S 304). Wie kann das Ansprechen auf die transzendentallogischen Wissensbedingungen frei gelegt werden?  

Die transzendentale Analyse der Verstehens- und Wissensbedingungen, die die sprachlich höchste spezifische Form einer „Frage“ erst verständlich machen sollen, kann m. E. aber
1.) nicht bei einem unbestimmten Seinshorizont anfangen, ehe nicht die Fragesituation als Interpersonalverhältnis selbst in seiner transzendentalen Bedingung der Möglichkeit der Einsehbarkeit und Wissbarkeit bestimmt ist.

2.) Weiters setzen die äußeren und inneren Bedingungen eines Dialoges bereits ein implizites Wissen vom anderen als Person voraus. Warum kommt GADAMER überhaupt nicht zu einer Problematisierung der Annahme von Interpersonalität?

3.) Wenn nach ihm anscheinend die Sprachlichkeit das grundlegende Medium des Verstehens und des In-der-Welt-Seins ist, warum ist zuerst mittels Sprache die Frage nicht selbst innerhalb der mannigfaltigen Sprachspiele näher spezifiziert? Um eine Aussage als Frage zu wissen und zu erkennen, setzt dies nicht ein implizites Wissen um die verschiedenen Sprachspiele schon voraus, wodurch eine Frage als solche abgegrenzt werden kann? Die Sprachspiele setzen aber wieder ein funktionierendes Kommunikationsgeschehen (Interpersonalgeschehen) voraus. 

4.) Weiters: Setzt die Frage nicht ein implizites Wissen um den Gehalt des Gefragten voraus, nicht einfach eine „unabschließbare Sinnoffenheit“ ? GADAMER verweist mit der Frageform auf SOKRATES, der sie als Methode praktiziert hat, und so die Diskutanten zur Erkenntnis führen wollte. Aber die Methode des Fragens, geschickt an diese und jene Problematik gehalten, soll bei SOKRATES doch wohl nicht die Intuition und die intelligierende Erkenntnis der Ideen und der Wahrheit  ersetzen? Das Hilfsmittel des Fragens dient nur der Freilegung eines impliziten Wissens eines Begriffes z. B. der Tapferkeit, des Guten…….  Sokrates bzw. PLATON wird wohl implizit gewusst haben, was er erfragen wollte – ehe er die Denkweisen (herrlich als Typen von Gesprächspartnern oft vorgestellt, z. B. der „Sophistes“)  befragte und  in einer Aporie führte. 

Wenn nach GADAMER, so scheint mir?, die Sprache aus dem Sein hervorgeht, und umgekehrt das Sein aus der Sprache, so erzeugt das eine kantische Antinomie: die Sprache hat einen zeitlichen Anfang im Sein – oder sie hat keinen Anfang, sie ist ewig.
Die zweite Variante des hermeneutischen Zirkels von Sprache und Sein kommt bei GADAMER in einem halbherzigen Verweis auf den Schöpfungsbegriff: Nach dem Verweis auf die platonische Lichtmetaphysik wechselt er auf das biblische Schöpfungswort über, als müsste dieser Verweis auf die Hl. Schrift bzw. auf einen Kommentar von AUGUSTINUS ebenfalls per auctoritatem seine These von der Einheit von Sprache und Sein bestätigen.

IV) Die ganzen Probleme liegen m. E. a) in einer unkritischen Übernahme der hegelschen Logik und des heideggerschen Seinsdenken und b) in einer Verkennung der interpersonalen Wirklichkeit und c) in einer mangelnden transzendentalen Reflexion auf die Verstehensbedingungen, die bereits auf die Erscheinung des göttlichen WORTES in dialogischer und personaler zurückgehen. Das biblische verbum creans“ mit der platonischen Lichtmetaphysik zu verbinden halte ich für möglich, ja äußerst ergiebig, wenn ich von einem Ruf-Antwortcharakter des menschlichen Seins ausgehe,d. h.  philosophisch vom Begriff der Aufforderung und vom Begriff der vernunftgemäßen Erscheinung des Absoluten. Die Methode kann m. E. aber hier nur dialektisch verlaufen, d. h. in einem synthetisch-analytischen Verfahren, dass in und aus  einer intelligierenden Einsicht die genetischen Bedingungen des Verstehens, Denken und Anschauung, generierend hervorgehen. Ich kann den epistemologischen Zirkel nicht einfach voraussetzen, solange ich genetisch nicht weiß, wie der Begriff in der Einheit des Wissens gebildet wird und was er bedeutet. 

Das analytisch-synthetische Verfahren im Erkennen, Wollen und Handeln   hat FICHTE in allen seine WLn und materialen Disziplinen der  WL durchexerziert: Er trifft sich hier mit allen reflexiven Denkern des Apriori, sei es mit PLATON, PLOTIN, ANSELM, DESCARTES u. v. a., aber auch mit dem Experiment- und Erfahrungsbegriff der Neuzeit, wonach durch genau festgelegte Denkschritte und Denkexperimente eine Erkenntnis erst gewonnen werden kann. Die Methoden der Naturwissenschaften (die Induktion) werden bei GADAMER  am Beginn von „Wahrheit und Methode“ zurecht kritisiert,  weil sie die transzendentalen Wissensbedingungen der empirischen Erfahrung nicht bedenken; ich möchte ihm diesbezüglich nur zustimmen, aber umgekehrt müssen die hermeneutischen Verstehensbedingungen ebenfalls strikten transzendentallogischen Gesetzen gehorchen, d. h. in ihrer Objektivierung durchschaut und empirisch angewandt werden können. 

Die hermeneutische Erfahrung, wenn ich den Referenzpunkt bei GADAMER so bezeichnen darf, müsste m. E. auf  transzendentalreflexive Gesetze des Bildens  hin stets aufgelöst werden können.  
Dies geschieht a) durch ausschließende Negation, aber nur denkerisch, nicht in der Realität an sich, und durch b) disjunktiv aufteilende Negation (§ 3 der GWL) und durch c) den denkerischen Begriff der Lösung einer Aufgabe bzw. in einer Sinnidee, die eher einem Bild einer „Lösungsidee“ gleicht, die dann begrifflich erfasst und praktisch realisiert werden kann.  

FICHTES methodischeser sagt kaum „dialektisches“ – Vorgehen bezieht sich nicht auf einen Gegenstandsbereich des Seins an sich (und dessen inneren Logik), sondern meint Regeln des Unterscheidens und Beziehens in der Form einer transzendentalen Logik, die stets auf die Erfahrung bezogen bleibt, aber in ihrer Begründung und Rechtfertigung  genetisch aus der Sich-Erscheinung des Absoluten sich begründet und ableitet.  Die Erfahrung ist durch Erkennen zu begreifen, in einer gewissen Form des analytisch-synthetischen Denkens (durch die „Dialektik“ des Schwebens der Einbildungskraft), die zu einem ganzen System der Erkenntnis, zur einer „Totalität aller Realität“,  sich schließen können muss. Dieses System des Wissens wird dann ausgeführt in kategorialen Wissensbegriffen wie z. B. Materialität, Körperlichkeit in der Empirie, Rechtsbegriffen, Moralitätsbegriffen u. a.  Das transzendentale Erkennen ist notwendig ein geschlossenes System hinsichtlich der Wissensformen, verzweigt  in fünf grundsätzlichen Dimensionen des Wissensaktes,  entfaltbar aber in unendlich vielen Bildern des Wissens. Es ist geschlossen hinsichtlich der Formen, offen hinsichtlich der Wissensgehalte. 

Die Negation selbst ist ein aus der Erfahrung der Verschiedenheit der Sinneseindrücke entworfene Gegensätzlichkeit und ein geistig (nicht realiter) zu lösender Widerspruch, der als solcher im Bewusstsein zuerst gesetzt wird, um in einem gedanklichen Zusammenhang auch aufgelöst zu werden. M. a. W., es wird transzendentallogisch der Blick auf die Erfahrung – das  erfahrene Bestimmtsein – bestimmbar gehalten mit Bezug auf einen Grund ihres Soseins aus einer übergeordneten Einheit. Das dialektische Unterscheiden und Beziehen geht solange von statten, bis theoretisch und praktisch der Widerspruch in der Einheit eines Begriffes gelöst ist – in der theoretischen Welt durch die Vorstellung („Deduktion der Vorstellung“ heißt deshalb der Abschnitt im § 4 der GWL),  in der praktischen Welt durch einen Begriff einer sittlichen und religiösen Einheit und Vereinigung. 2

Bei FICHTE bleibt die Dialektik ein streng analytisches und synthetisches Verfahren im Bewusstsein, bei GADAMER ist es (in der Spur Hegels) eine Bewegung der Sache selbst, eine unabschließbare Interpretation, ein methodisches Verfahren mit der Annahme eines Realgrundes, der per se nur so weit erkennbar ist, als sich das Sein und der Sinn im Verstehen bzw. das Schöne von sich her zeigt. Das ist für mich aber blinder Glaube und ohne Kriterium, wie weit dieser Realgrund gerechtfertigt werden kann.3

V) Es würde hier viel zu weit führen, die komprimierte Form der Dialektik anhand der drei Grundsätze der GRUNDLAGE von 1794/95 aufzuzeigen. FICHTE geht es um die geistige Ausübung einer Verifikation eines 1. Grundsatzes, worin die „Totalität aller Realität“ gesetzt ist. Warum ich trotzdem verweise: Das transzendental- analysierende Verfahren der hermeneutischen Verstehensbedingungen bei GADAMER und die damit verbundene Sprachlichkeit des Verstehens im Sein erlaubt keine wissbare und experimentell überprüfbare Verifikation und keine ideologische Kritik.  

Bei FICHTE ist die „Dialektik“  ein Vorgehen, ein Verfahren, das in den einzelnen Denkschritten nachvollzogen werden kann, bis die  Synthesis eines einsehbaren, niederen Begriffes von selbst einleuchtet und gefunden ist. Das Wissen des Seins bei GADAMER verliert sich in den uneinholbaren und zeitlich stets vorlaufenden Bedingungen der Geschichtlichkeit des Verstehens und kann eigentlich nie begrifflich gefasst werden bzw. von einem praktischen Soll her kritisiert werden. 

Die modale Relationsform des Urteils im dialektischen Verfahren FICHTES hingegen  ist zuerst ein rein hypothetisches, räsonierendes Verfahren nach den Regeln der Logik; sobald aber – dies ist der Erfahrungshintergrund im transzendental-logischen Vorgehen – aus der Feststellung einer Gegebenheit in die Entschiedenheit und Entscheidung übergegangen werden kann, ist aus dem räsonierenden, zu einem alternativen Schluss fähigen problematischen Urteil, ein assertorisch-gewisses Urteil geworden, worin eine aufteilende, disjunktive Regel des Ausschließens herrscht. Der synthetische Begriff der Vereinigung der Gegensätze wird im Hinblick auf eine allgemeine Idee der „Totalität der Realität“ geregelt, bis letztlich Denken und Sein als wahrhaftes Bild-Sein gesetzt sind. Die Einteilung der Ansprüche von „Ich“ und „Nicht-Ich“ geschieht extensional, in differenzierender Weise, die Einheit im Geltungsgrund ist intensional. 

Verglichen mit GADAMERS „logischer Struktur der Frage“ ist FICHTES Verständnis der Frage bereits eine auf die disjunktive Regel der Einteilung der Gegensätze § 3 der GRUNDLAGE fußende, assertorisch-gewisse, modal-kategoriale Bestimmung, die aber sehr wohl noch eine freie Bestimmbarkeit der gestellten, bestimmten Frage zulässt. Denn der sowohl Fragende wie Befragte ist fähig, die Bestimmtheit der Frage nach seiner Art und Weise frei zu stellen bzw. zu beantworten (oder nicht zu beantworten). Nach GADAMER folgt aber aus der Form der Frage nicht eine freie Bestimmbarkeit, sondern die Frage ist durch die Antwortform schon vorbestimmt und umgekehrt ist die Antwort durch die Frageform vorbestimmt. Die Methode der Dialektik hat hier den Rahmen extensionaler Einteilung von Ansprüchen und Klassen verlassen und ist zu einer idealistischen/realistischen Notwendigkeit a priori mutiert, zu einem inhaltlichen Bestimmtsein. Was Verstehen heißen soll, was der Sinn im Verstehen meint, was hermeneutische Wahrheit heißt, das ist idealistisch/realistisch schon vorgegeben. Alles wird eine Frage der Interpretation. (Thales von Milet). 

VI) HAMMACHER zählt einmal fünf grammatische Abwandlungsformen von „Bestimmen“ bei FICHTE auf: Bestimmbarkeit, Bestimmen, Bestimmung, das Bestimmende, das Bestimmte. Der Begriff Bestimmbarkeit ist der wichtigste, entnommen vor allem den Arbeiten von S. MAIMON. 4

Bei S. MAIMON schaut es so aus, dass der „Satz der Bestimmbarkeit“ die objektive Realität des Begriffes festsetzt; FICHTE folgt ihm hier aber nicht, sondern das im Gegensatz Gesetzte ist  immer nur im Bewusstsein mitgesetzte Ideale.  Die Einbindung der Erfahrung – die objektive Realität nach S. MAIMON – ist eine im erkennenden Subjekt/Objekt gesetzte  (vorgestellte) Realität, nicht eine an sich in der Anschauung abgesetzte Realität, und kann und muss mit dem anderen Teil, dem Denken, synthetisiert werden, damit es begrifflich erkannt werden kann. Nur indem das Denken ein in der Anschauung Gegebenes, d. h. ein schon Vorgestelltes,  als weiter Bestimmbares bestimmt, nämlich gemäß den Erkenntniskategorien, bestimmt, bestimmt es objektive Realität.

Stellen wir hier wiederum die kritische Rückfrage an die „logische Struktur der Frage“ nach GADAMER, so ist seine hermeneutische Logik eine nur scheinbarso paradox das klingen mag – auf Geschichte und Sprache fußende und Rücksicht nehmende Erfahrungslogik. Kein einziger Hinweis  aber auf die interpersonale Wirklichkeit der Frage wird gegeben, keine denkerische Bestimmung eine Wahrnehmung von Anfrage, von Aufforderung, keine Erklärung, wie ein geschichtliches Zeitbewusstsein im Bewusstsein überhaupt gedacht werden kann. 

Es wird zwar von einer Verwandlung und vom Ernst des Anspruchs eines Textes oder eines Kunstwerkes gesprochen, was ich auf meine Art ebenfalls bejahen möchte, aber die Kette der Überlieferung offenbart darin  keinen unwandelbaren Anspruch, der analytisch-synthetisch (dialektisch) gefasst werden könnte, –  und in einem zweiten Sinne, das ist die Berechtigung der Hermeneutik!,  transzendental-hermeneutisch ebenfalls  verstanden und expliziert werden könnte. Es gibt, so scheint mir nach GADAMER, keinen ersten,  überzeitlichen, nicht-relativen Sinn eines zu Verstehenden,  sondern alles ist bereits zeitlich, relativ, veränderbar – aber folglich ist dieses Veränderbare und Wandelbare gerade nicht mehr zeitlich wahrnehmbar. Das ist der interne Widerspruch in der hermeneutischen Seinsauffassung.  Das Zeitliche vermag sich – so meine transzendentale Sicht – nur gegenüber dem Unveränderlichen und Konstanten zu offenbaren, das Konstante aber selbst ist ein Begriff, das Eine. Wenn GADAMER gerade die Wirkungsgeschichte und das Einrücken in den Überlieferungszusammenhang, die Horizontverschmelzung etc. herausarbeitet, worin ich ihm auf der medialen  Weise recht geben würde, so verlangen alle diese zeitlichen Vermittlungen eine genetische Erklärung, wie und warum diese Verstehensbedingungen tatsächlich gelten sollten.  Die zeitlichen Aussagen verlangen gerade eine überzeitliche Erklärung, damit sie als solche, zeitlich und hermeneutisch,  verstanden werden können.  

Die „objektive Realität des Seins“ – bei FICHTE klar als die „Sphäre des Nicht-Ichs“ transzendentallogisch bestimmt – wird bei GADAMER idealistisch unterwandert durch die Kontingenz der Verstehensbedingungen und der Sprachlichkeit des Seinshorizontes. Es wird weder eine echte interpersonale Wirklichkeit denkerisch bestimmt, noch ist die angekündigte Frage auf einen wirklichen und wahren Sinn einer Antwort ausgerichtet. Es wird gar nicht erfahrungsoffen jemand gefragt und nicht erfahrungsoffen nach etwas gefragt, sondern alles ist nur eine begriffliche Negations-Dialektik, die eine letzte, konkrete Lösungsidee gar nicht akzeptieren würde. (?)

VII) Die „Aufforderung zu einem freien Handeln“ – wie es bei FICHTE heißt – worunter das Sprachspiel und die Sprachform der „Frage“ subsumiert werden kann,  weist klar eine interpersonale Struktur auf, ferner eine bestimmbare freie Struktur, indem erst durch Übergang zur Antwort sich das Bild und die Sinnerfahrung einstellen kann. Besonders deutlich ist bei FICHTE der praktische Sinn erkennbar (in der logischer Struktur einer Frage bzw. vorausgehend einer Wahrnehmung von Aufforderung): Das Unerklärliche des „Anstoßes“ des § 2 der GRUNDLAGE bzw. das ganze im ausschließenden Verfahren gesetzte Nicht-Ich,  das ein im Bewusstsein gesetztes, stets anderes Nicht-Ich bleibt, wird charakterisiert und weiter bestimmt als frei zu bestimmende Bestimmbarkeit, was aber nur möglich ist mit Voraussetzung des Anderen als freies Wesen. Zugleich mit dem interpersonal Anderen wird das Andere der sinnlichen Welt kategorial bestimmt und in seinem Sinn abgeleitet. Wird in § 3 der GRUNDLAGE schon die Einteilung der „Totalität der Realität“ als denkerische Regel und als Problem der Lösung einer Aufgabe gesehen – wie in der Mathematik eine Aufgabe mit dem Hintergrundwissen einer möglichen Lösung gestellt wird -, so wird die Frage und die mögliche Antwort im Interpersonalkonnex im Kontext eines sittlichen Geltungsanspruches von Anerkennung und Wahrheit gestellt.  Es kann  durch vorlaufende Anerkennung und folgender Frage und Antwort tatsächlich theoretische Vorstellbarkeit und praktische Neu-Erkenntnis erreicht werden. 

Die Analyse der Frageform ist aber damit nicht eine transzendentale Wissensform a priori, sondern bloß faktisch, feststellbare Form – oder  historisch wird dafür SOKRATES herangezogen -, eine aus der Anrede oder „Aufforderung zu einem freien Handeln“ abgeleitete Form einer zu lösenden Aufgabe in theoretischer wie praktischer Hinsicht.  Nicht in einer empirisch entscheidbaren Realität eines Schlussverfahrens wird eine Anrede oder Aufforderung als Frage identifiziert, sondern transzendentallogisch vorgängig wird der mitgesetzte „Anstoß“ als freie Person abduziert und wahrgenommen, der in weiterer Folge das zu vereinende, interpersonale Wechselverhältnis in eine Frageform zu kleiden vermag. (In weiterer Folge komme ich dann zu Gadamerischen Verstehens- und Sprachbedingungen). 

M. a. W.: Die Bestimmtheit der „logischen Struktur der Frage“ nach GADAMER entbehrt m. E. einer transzendentallogischen Deduktion in der intellektuellen Anschauung eines Interpersonalitätsverhältnisses. Der mediatisierte  Wahrnehmungsbereich, der interpersonale Leer-Raum und Wahrnehmungsraum, wie von Aufforderung und Freiheit zur Anerkennung des anderen und zu einer intentionalen Frageform verobjektiviert übergegangen werden kann, das ist transzendental-reflexive Voraussetzung des späteren , hermeneutischen Verstehens.  
Die oftmalige Rede vom „Sinn“  (bei Gadamer, bei Husserl, bei Luhmann) ist,  mit Verlaub gesagt, nur metaphysisches Gerede, weil ein Sinn a priori eines göttlichen oder interpersonalen Verhältnisses gar nicht zur Voraussetzung gemacht wird.   Der „Sinn“
in einem bloß hermeneutischen Verstehen  ist weder praktisch-sittlich einsehbar, weil die absolute, göttliche Unwandelbarkeit eines durch sich selbst bestimmten Willens fehlt, noch theoretisch in der Idee des Schönen erkennbar, weil die Begriff des Vollkommenen nicht zur Voraussetzung gemacht wird.  Die Sinnidee ist mehr oder minder entleert und das ästhetische Empfinden des „Schönen“, dem sogar ein „Vorzug“ gegenüber der Idee des Guten gegeben wird (vgl., GADAMER (Bd. I, 484), ist nur leere Negationsdialektik ohne Erkenntnis einer Lösungs- und Sinnidee.  

(c) Franz Strasser, 4. 4. 2019

—————

1 Zitiert aus Klaus HAMMACHER, Fichtes praxologische Dialektik. In: Fichte-Studien Bd. 1, 1990, 27.

2Siehe z. B. K. HAMMACHER, Zur transzendentallogischen Begründung der Dialektik bei Fichte, Kant-Studien 79, 1988; ders., Dialektik und Dialog, vornehmlich bei Jacobi und Fichte, Fichte-Studien Bd. 14, 1998, 171ff; ders. Fichtes praxologische Dialektik, Fichte-Studien Bd. 1, 1990; ders., Sein – Reflexion – Freiheit, hrsg. v. C. Asmuth, 1997, 115-142.

3Ich zitiere aus einer m. E. guten Zusammenstellung zur pragmatischen Hermeneutik v. Hans Pühretmayer und Armin Puller, Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien: Eagleton (1992, 39f.) kritisiert an Gadamers Hermeneutik, dass sie mit dem Problem der Ideologie nicht zu Recht kommt und die Verstricktheit von Diskursen in Machtverhältnisse nicht anerkennt. Die Geschichte und die Tradition werden so gut wie nicht als repressive oder auch als befreiende Kräfte wahrgenommen, als von Konflikten und Herrschaft bestimmte Bereiche. Geschichte ist für Gadamer nicht ein Ort des Kampfes, der Diskontinuität und der Ausgrenzung, sondern ein immerwährender Strom. Außerdem gehe Gadamer in seiner traditionalistischen Ausrichtung auf die Klassiker von einer organischen Einheit dieser Werke aus und schließt die Möglichkeit ihrer inneren Widersprüchlichkeit oder Unvollständigkeit aus.

4K. Hammacher, Fichtes praxologische Dialektik, Fichte-Studien Bd. 1, 1990, ebd. S 28.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser