Was heißt visuelles Denken – Dieter Mersch. Ein Kommentar meinerseits.

Dieter Mersch, Sichtbarkeit/Sichtbarmachung: Was heißt ›Denken im Visuellen‹? Platonismus als Herausforderung, 2013 siehe Internet: www.dieter-mersch.de

Ich hörte zufällig Prof. Dieter Mersch in einem Vortrag in Linz und war sehr angetan! Daraufhin sah ich im Internet nach und fand viele Aufsätze von ihm. Da ich in tiefster Provinz lebe, möchte ich  herzlich danken, dass er seine Vorträge und Meinungen zur Lektüre und Diskussion ins Internet stellt. Ich fand obigen Artikel auf seiner Homepage. 

Ich zitiere am Anfang einige Auszüge, um dann meine unmaßgebliche Meinung zu bringen, d. h. Kritik an dieser Differenzphilosophie zu üben – nicht ad personam.

1) Die Frage ist: „(…) wie Bilder ein Sichtbares hervorbringen, wie sie eine Sicht aufrichten und hinstellen oder aufgrund welcher Bedingungen etwas als Sichtbares erscheint oder es aus dem Unsichtbaren herkommt und in es wieder mündet.“ (ebd. S 1)

Es  geht um „(…) die genannte Differenz zwischen ›Sichtbarkeit‹ und ›Sichtbarmachung‹ (….) das im Bild jeweils Sichtbargemachte einerseits, dem die Darstellung entspricht, sowie die Prozesse der Sichtbarmachung andererseits, die noch nicht oder nicht notwendig auf ein Dargestelltes, eine ›Ab-bildung‹ zielen.“ (ebd. S 1)

(Gleich Frage von mir: Wie möchte D. Mersch auf einen Prozess vor dem Sichtbarmachen und jeder Bildlichkeit rekurrieren, ohne wieder diesen Prozess sichtbar zu machen?)

D. Mersch: „Gibt es Bedingungen, durch die im Bildlichen mit den Mitteln der Bildlichkeit ein Sichtbares als Sichtbares zum Vorschein gelangt? Das Durch – griechisch dia, lateinisch per – bezeichnet dabei die spezifische Performativität des Medialen; sie präzisiert den bekannten, von Paul Klee entliehenen Ausdruck der »Sichtbarmachung«. Der Unterschied von ›Sichtbarkeit‹ und ›Sichtbarmachung‹ setzt dann eine mehrfache Differenzialität voraus, einmal als Unterschied zwischen Prozess und Resultat, zum anderen als beiderseitige Unterschiedenheit von einem ›Unsichtbaren‹, das im Bild wiederum auf mindestens vierfache Weise mitanwesend ist, und zwar so sehr, dass man sagen muss, dass sich das Bildliche überhaupt der Differenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verdankt.“ (ebd. S 2./3)

Nächste Frage meinerseits: Das „dia“ wird von D. Mersch als „Performativität des Medialen“ nur blumig umschrieben, aber es käme auf die genetische Möglichkeit eines „Durch“ an. D. Mersch setzt mir in weiterer Folge seines Artikels und mathematischer und geometrischer Begriffe das „dia“ („Durch“) realistisch/idealistisch voraus, ohne dessen transzendentale Evidenz zu begründen. 1

 

D. Mersch will sich von einer Art „Abbildtheorie“ Platons abgrenzen. „Platon verfehlt also von Anbeginn an die Medialität des Ikonischen und seine Negativität, stattdessen erblickt er im Bild nur eine doppelte Fälschung: Entfremdung von der Welt und ihrer ousia, wie gleichermaßen von der Wahrnehmung und ihren Sinnen.“ (ebd.S 6)

 

D. Mersch blickt also a) auf den Unterschied zwischen Prozess und Resultat und b) auf eine Unterschiedenheit des Sichtbaren und der Sichtbarmachung eines „Unsichtbaren“, das im Bild auf mindestens vierfache Weise mit anwesend ist. Das Bildliche verdankt sich geradezu einer Differenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. (Das ist, wie ich unten gleich anführen werde, grundfalsch! Es ist gerade andersherum!)

Als mindestens vierfach erweist sich diese Vorgängigkeit insofern, als das Bild selbst einerseits schon eine Grenze markiert, die gleichsam sein Dargestelltes oder Szenisches allererst einräumt, um es gegenüber seinem Anderen als einem wörtlich ›ob-skenen‹ abzuscheiden: Kein Bild kommt ohne diese Trennung zwischen Innen und Außen, dem, was seine eigentliche Rahmung ausmacht, aus – wir werden noch darauf zurückkommen. Ihr eignet selbst wiederum eine Negativität, denn die Differenz konstituiert das Bildliche, ohne selbst Teil dessen zu sein, was durch (dia) seine Rahmung sowie durch (dia) die spezifischen Strategien oder Techniken (technē) der Sichtbarmachung jeweils sichtbar wird. Zum Zweiten entzieht sich das, was man das Mediale oder besser: die medialen Praktiken nennen könnte, durch (dia) die ein Sichtbares instituiert und ›aufgestellt‹ wird, um etwas als etwas zur Darstellung zu bringen. Entsprechend zeigt sich das Bild als ein buchstäblich ›Durch-Sichtiges‹ (dia-phanes), das aber als solches undurchsichtig bleibt: Es verweigert sich seiner eigenen Sichtbarkeit im Bild. ›Durch-Sichtigkeit‹ ist in diesem Zusammenhang aktivisch zu verstehen: nicht als passive Transparenz, sondern als etwas, durch (dia) das eine Sicht oder ›Sichtigkeit‹ allererst hervorkommt und in die Welt gebracht wird. Dabei bildet das Sichtbare oder das, was ein Bild vorstellig macht und zur Schau stellt, immer Anderes als das, was diese Sichtbarkeit erzeugt, sodass die Mittel, die medialen Bedingungen als Bedingungen im Bild durchweg verhüllt bleiben. Man könnte hier von einer Verweigerung oder Negativität des Ikonischen sprechen –(…)“ (ebd. S 3)

3) Fichte würde sagen: Aus dem differentiellen Setzen kann nicht herausgegangen werden, das ist richtig, aber die Differenz ist nicht unendlich und unbestimmt, sondern bereits bestimmte! Differenz, und das Bildliche verdankt sich keineswegs einem garstigen Graben zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, sondern im Gegenteil ist bestimmte Differenz und ist nichts anderes als ein Sich-Sehen, eine genetische Sichtbarkeit freier Selbsttätigkeit. 2

Es kommt a) auf das Denken einer reinen Disjunktionseinheit an, die im Begriff der Genesis gefasst werden muss, 

und b) in Folge auf das Denken einer aus der Disjunktionseinheit hervorgehenden reflexiven (genetischen) Einheit und Mannigfaltigkeit.

Beides geschieht nur mittels wirklichem Sehen und in der bereits sich wissenden und sich sehenden Einheit des Sich-Bildens.

3. 1. ad a) Das Denken einer reinen Disjunktionseinheit kann ich hier nicht begründen, das würde jeden Rahmen sprengen, aber wenigstens den Begriff der „Genesis“ will ich beleuchten: Der Seh-Akt, der das einzige Mittel ist, womit die Philosophie operieren und denken kann, kann in Grund und Folge zerlegt werden, aber Grund und Folge sind nicht separiert voneinander, sondern durch einen lebendigen Nexus verbunden. Ich zitiere J. Widmann, Die Grundstruktur transzendentalen Wissens (WL 1804-II): „Der Nexus ist (…) keine bloße „Indifferenz“ von Grund und Folge. Er ist vielmehr des „Gründen“ der Folge in ihrem Grund und zugleich das „Folgen“ aus dem Grund. (…) Die eigentümliche Denkschwierigkeit in der Erörterung der transzendentalen Struktur des Genesisbegriffs stammt aus einer besonderen Konsequenz seiner Eigenart: er ist Disjunktionseinheit von conditio und causa. (…)“ 3

Zwischen Grund und Folge liegt nicht eine beliebige Indifferenz, sondern jeweils eine genau gemessene und gewertete Differenz eines Verhältnisses.

3. 2. ad b ) Die Mannigfaltigkeit kann nicht blind vorausgesetzt werden, sondern alles Mannigfaltige ist gesetzt im wirklichen Sehen, ist notwendige aus der Disjunktion hervorgehende Mannigfaltigkeit zwecks Sichtbarkeit der Selbstbestimmung.

Vom empirischen Standpunkt aus gesehen könnte faktisch gesagt werden: Es ist richtig, dass im Seh-Akt zugleich und notwendig ein mannigfaltiges Sehen liegt, mithin mannigfaltiges Bilden und Rahmung etc., weil fakultativ gewählt werden muss bzw. frei gewählt werden können soll, aber zugleich ist der wirkliche Seh-Akt absolut bezogen auf eine Reflexivität in der Geltungsform Ich und auf einen  absoluten, unwandelbaren Geltungsgrund eines „absoluten Ich“, wodurch jede visuelle Bildung und logische Grenzziehung erst ermöglicht, charakterisiert und bewährt und als bestimmte Differenz gesetzt werden kann. Siehe oben Anm. 2 – ich zitierte nur eine Stelle aus Diarium III, es könnte das ganze Diarum III auf diese Frage hin gelesen werden: „(…) Zuförderst durch die Freiheit sezt es (sc. die Geltungsform Ich) sich in Fluß, um das erst gebundene anschaubar zu machen: die Bindung, oder das Gesez. NB. És ist dann faktisch Bild seines Thuns. intelligibel Bild seines ursprünglichen, u. gesezlichen Seyns, weil es nicht anders thun kann, als es ist.“

Ein Bild oder mannigfaltige Bilder strömen nicht determiniert oder indeterminiert  aus der Unsichtbarkeit auf uns zu, sozusagen von außen auf das Sehen ein, oder sind nicht in und aus und durch eine unbekannte, begriffliche, konstruierte oder nachkonstruierte, positiv wie negativ bestimmten Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erzeugt, sondern sind in einem notwendigen Sehen immer schon in einer unbedingten Geltungsform „Ich“ und aus einem absoluten Geltungsgrund gebildet. Die jeweilige fakultative Bestimmtheit eines Gebildeten (z. B. etwas in der Natur, oder beim Recht, oder das Gebildete einer geometrischen Figur, eine Linie, eine Zahl) ist schon bestimmte Weiterbestimmung des grundsätzlich einen, einheitlichen Seh-Aktes. Dieses Sehen in seiner Sichtbarkeit und Lichtform ist natürlich nicht rein faktisches Sehen, sondern in seiner Freiheit transzendierendes Sehen, genetisches Sehen, weil es die eigene Bedingung der Möglichkeit aus sich selbst, d. h. aus einem  unbedingten Geltungsgrund, erklären und bewähren kann.  Je nach freier Selbstbestimmung in der geschlossenen Einheit des Sich-Wissens und Sich-Bildens wird durch wirkliches Sehen stets eine bestimmte Differenz zwischen Bild und Bild des Bildes vom Sein gesetzt und aufgemacht – und nicht, wie oben von D. Mersch argumentiert, mittels vorgegebener „Disposition“, „Rahmung“, „dia“ usw. durch „Differenz“ etwas mannigfaltig und obskur sichtbar. Wie könnte selbst die „Differenz“ in ihrem unsichtbaren Ursprung sichtbar werden, wenn sie nicht schon apriorisch sichtbar wäre?
Das Sehen ist ein reflexiver, notwendiger  Akt,  der im Bilden eine bestimmte Einheit der Differenz darstellt, eine Einheit im theoretischen Erkennen der praktischen Voraussetzungen des Vollzuges – und nicht umgekehrt, dass die Einheit im Erkennen durch eine unbekannte Differenz stets vorgegeben wäre, d. h. das könnte eigentlich gar nicht erkannt werden, oder kürzer gesagt: durch eine unbekannte Differenz kann das Erkennen sich selbst nicht einholen und wissen.

Dagegen transzendental zu Ende gedacht: Der Seh-Akt ist unmittelbar und faktisch und kann als solcher nicht nicht sein – und die dahinterliegende oder besser gesagt, immer schon hervortretende Sichtbarkeit und Bestimmbarkeit und Bestimmtheit der Wirklichkeit im Ganzen, ist  genetisch vorkonstruiert und nachkonstruiert in der Geltungsform „Ich“ (Ich-Einheit), sich verdankend einem absoluten Geltungsgrund. Diese Grund-Einheit des Sich-Sehens und Sich-Bildens kann nicht einem Widerspruch entspringen, das die Unsichtbarkeit doch sichtbar sein soll.

4) D. Mersch kommt es gar nicht auf den Repräsentationsinhalt des Bildes vom Sein an, sondern auf die Rahmung des Bildes, auf sehr viele logische Differenzierungen – siehe dort. Weil logischerweise im Denken so gefragt wird, wird natürlich  die Beantwortung der Frage ebenfalls  nur logischen Differenzen zugetraut. Die Beantwortbarkeit der Frage ist aber damit schon vorweggenommen. Unerkannt bleibt die Frage und die Rechtfertigung nach dem Disposition- und Differenzgrund – wenn ich schon diese Differenz-Termini verwenden will bzw. die Frage nach dem Geltungsgrund dieser logischen Fragestellung.  Der lebendige Seh-Akt, der die Bilder vom Sein erzeugt, in Folge und kraft der anscheinend unerkennbare Differenz (nach Derrida, nach Mersch u. a.) ist aber nicht mehr auf seine Selbst-Transparenz und auf seinen genetischen Grund hinterfragt, sondern nur auf sein logische Rahmung und faktische Referenz.  Es bleibt alles, wie D. Mersch sagt, bei einem „Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“. (ebd. S S 1 u. 2)

Wenn somit vom Herkommen des Bildes aus einem je spezifischen Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit die Rede ist, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass wir immer schon dieses besondere Spiel, seine konkrete Differenzialität in Rechnung stellen müssen, will man überhaupt von dem sprechen, was wir die ›Ikonizität des Ikonischen‹ nennen – übrigens ohne damit auf Charles Sanders Peirce’ Begriff des »Ikons« oder auf die Bildsemiosis anzuspielen. (ebd. S 4 )

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: die Ikonizität, die Differenzialität zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, beschreibt ein Dispositiv oder vielmehr: ein dispositionäres Regime, das die spezifischen Performanzen der Sichtbarmachung ebenso ermöglicht wie einschränkt – und es ist diese Anordnung, diese Duplizität von Eröffnung und Verschließung, die in der Bildtheorie vorrangig interessiert, weniger die Repräsentation, die ›Ab-bildung‹ oder das im Einzelnen Dargestellte.“ (ebd. S 4 )

Man muss deshalb von der ikonischen Differenz als einem ikonischen différance-Prinzip ausgehen, soweit sich durch (dia) die Praktiken der Kontrastierung und Inskription sowie ihren komplexen Ökonomien von Einrahmung und Ausrahmung der bildliche Innenraum erst ›er-gibt‹, um die jeweiligen Darstellungen ›in Szene‹ setzen zu können. Als ikonische différance ist sie jedoch der ›Grund‹ oder ›Ur-sprung‹ aller Differenzen und damit innerhalb und außerhalb des Bildes, Teil wie nicht Teil, denn jeder ›Rahmen-Akt‹, jede Praxis der Einschließung und Ausschließung stellt heraus, was das Bild zeigt und dem Blick zu sehen gibt, ohne sich im Bild als solcher zu erkennen zu geben. Von der »différance«, deren Analogon wir auf diese Weise fürs Bildliche postulieren, hatte Jacques Derrida in seinem gleichnamigen Text gesagt, es sei derjenige »Unterschied« zum »Unterschied« (différence),  der gleichzeitig die »Differenzen hervorbringt«: Als der »nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen«, der nicht wiederum unter die Kategorie des Zeichens fallen kann, dem damit auch »der Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu[kommt]«, ja sogar nicht einmal etwas ist, was sich überhaupt bezeichnen ließe, fällt er buchstäblich aus dem Rahmen. Für die Rahmen-Differenz gibt es demnach nicht wieder einen Rahmen: Dieselbe Paradoxie ereilt die »ikonische Differenz«, die sich ebenso sehr jeder Bestimmung verweigert, wie sie nicht selbst als ein Begriff oder eine Kategorie angesprochen werden kann, vielmehr befindet sie sich im selben Maße im Sichtbaren wie unsichtbar am ›Grund‹ der Visualisierung – gleichsam als ›Ur-Sprung‹ jener Praktiken, die im Visuellen etwas als etwas allererst sichtbar machen.“ (ebd. S 11)

Gerade die von D. Mersch eingemahnten Konstituentien wie die medialen Praktiken, wodurch Bilder erzeugt werden, „die Rahmung“ (ebd. S 12), das begriffliche „dia“, wodurch eine „Signifikanz“ (ebd. S 12) entsteht, die „Konstruktion“ (ebd.), das „Als“ als „Blickgabe“ und Repräsentation und „spezifischer Bild-Sinn“ (ebd. S 13), die „differentielle Arbeit im Visuellen“ (ebd.), die ikonische Differenz, sind ja bereits wieder Bilder, doch sind sie von langer Hand übernommen ohne Rechenschaft abzulegen, woher das Linienziehen und die Rahmung und das „dia“ etc… kommen könnten und wie alles erzeugt wird. Diese abstrahierten Begriffe werden dinghaft, empirisch vorgestellt und vorausgesetzt, aber die Genesis im Seh-Akt und in der Einbildungskraft wird gar nicht erwähnt oder erwogen.

Es klingt auf’s  erste Hören sehr plausibel, aber je länger ich über das Ausgesagte nachsinne, komme ich nicht mehr darüber hinweg: Wie könnte ich solche Aussage verstehen? „Was den ‚Bild-Sinn‘ hervorbringt, ist nicht das ‚Ab-bild‘, sondern eine Pluralität von Differenzen, wie sie durch (dia) die ikonische Differenz evoziert wird, und als deren sekundärer Effekt wiederum die jeweiligen Abbildungen oder Repräsentationen entstehen. Denken im Visuellen bedeutet diese Praxis der Differenzierungen. (Hervorhebung von mir, ebd. S 13). Wo ist der Inhalt der Bild-Wirklichkeit? Woher die Möglichkeit und das Wissen um die „Praxis“ der Differenzierungen?

Das „Denken im Visuellen“ ist bereits eine gefährliche Abstraktion und Einschränkung nach zwei Seiten hin, wenn nicht überhaupt eine contradictio in adjecto: a) In Hinsicht des Denkens selbst, das das Bildliche zusammenfassen und objektivieren kann auf seine Wahrheit hin, aber nicht selbst das Visuelle hervorbringen. Denken ist nachträglich.4  b) Das Visuelle liegt nicht in einer wo immer herkommenden unerklärlichen Praxis der Differenzierungen, die durch Spiel Denken beschrieben werden könnte und sich „Philosophie“ nennt, sondern umgekehrt bestimmt das Visuelle und Bildliche – und damit notwendig einhergehend eine Sichtbarkeit  – die Evidenz und Richtigkeit des Denkens und Gedachten, sei es des Denkens und Gedachten eines naturalen Seins, oder eines Rechts, einer Moral, einer Religion, der Geschichte, des Sinns. Vor dem apriorisch, notwendigem Sehen und vor der Evidenzform des Sehens gibt es kein Gesehenes und abgeleitetes Denken und Gedachtes, kein Linienziehen und keine Rahmung und kein „dia“ und kein „Als“ etc…
Eine Theorie – als gedachtes System des Sich-Wissens und Sich-Bildens –, wenn sie ernsthaft das bleiben will und ihre Kompetenz nicht überzieht, kann nur im Sehen und Bilden das praktische Tun und Handeln erkenntnishaft leiten und gewissenhaft denken. Würde tatsächlich durch ein abstraktes Denken alleine, das den Bezug zum lebendigen Seh-Akt und zur Wahrheit der Bild-Wirklichkeit ausdrücklich abgestreift hat, das Visuelle praktisch  und allgemein leiten, so endet das im puren Nebel uneinsichtiger Entscheidungen und unbegründeter Machtentscheide, nur „logisch“ begründet im abstrakten Denken. Es wäre eine „dialektische“ Schein-Logik im schlechten Sinne, die aber auf kein wahres Bild-Sein und keine Bild-Wirklichkeit mehr verweist. Das Sein wird beliebig aufgelöst, wird jeweils neu im Wissen vermittelt und als „Sein“ vorausgesetzt, und ad infinitum wird ein Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eröffnet, aber prinzipiell gibt es dafür keine Begründung und keine Rechtfertigung, weil nicht auf einen absoluten Geltungsgrund verwiesen wird. 

M. E. muss das Bild-Denken, wenn man es schon so nennen will, generell sich als Bilden und Sehen apriorisch wissen und verstehen können, wodurch eine bestimmte Differenz entsteht zwischen dieser oder jener Weiterbestimmung des Sehens und Gesehenen, aber nie eine beliebige, unbekannte und unbestimmte Differenz. Freiheit bedient sich der Vernunftform (des Sehens und Sich-Bildens), weil sie sich unbedingt bestimmen will.

Das Denken des Visuellen ist eine wichtige Frage, die Hauptfrage einer Philosophie, aber sobald wir beim beliebigen Differenzieren gelandet sind, beim „Spiel“  zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit,  ist jede Evidenz, sei es auf naturaler Stufe, oder logoshaft, oder geschichtlich oder sinnhaft, verloren. Es gibt dann keine Genesis der Einheit wie der notwendigen Mannigfaltigkeit, kein Grund und keine Folge in einem notwendigen Nexus – und auch kein differenzspezifisches Denken. „Denken im Visuellen“ vermag die Sichtbarkeit zu ergründen, aber nicht den Grund der „Unsichtbarkeit“.

Alles Leben ist die Sichtbarmachung einer Bildlichkeit. Leben selbst ist keine Differenz, sondern äußert sich nur als bestimmte, differentielle Bildlichkeit, und das Ich ist die Geltungsform  und Einheitsform der Sichtbarkeit dieser Bildlichkeit. (Reflexibilität).  Im Vermögen des Ichs und der Freiheit ist (im Ich) alles gebildet, individuelles Ich, interpersonales Ich, Natur, Leib, Recht, Moralität, Religion, die Wirklichkeit im Ganzen (prinzipiell). Es kann das Vermögen „Ich“ als Sehpunkt aller Bildlichkeit gedacht werden, und dies wäre ein der Philosophie würdiger Name für Denken. Das Denken bleibt aber dadurch gebunden an diese Reflexivität des Ichs und an den Seh-Akt einer bestimmten Differenz, nicht irgendeiner Differenz.

© Franz Strasser, 6. 3. 2023  

1J. G. Fichte hat diese verdeckende Rede von der „Performativität“ oft reflektiert. Die in der Erkenntnistheorie immer wieder auftauchende, scheinbar alles erklärende „Performativität“, noch dazu oft mit „medial“ verbunden, ist ein nichtssagendes Versatzstück, zumindest wegen seiner Weite begrifflich nichtssagend. In der WL 1804/2 behilft sich Fichte im Aufstieg zur disjunktionslosen Wahrheit ebenfalls der Begrifflichkeit des „dia“, eines „Durch“, um diesen Begriff aber letztlich zu vernichten. Oder vielleicht noch besser z. B. „Einleitung in die WL 18013“: Das Leben näher bestimmt: ein Leben in der Form Durch, ein lebendiges Durch. Umgekehrt: ein Durch ist nothwendig lebendig. Einheit von Zweiheit, fliessen über die Zweiheit; weil jedes der zweie <ein andres durch sich selbst u. sein Seyn fodert. / Es erscheint erst jezt die innere Nothwendigkeit des Lebens, u. wir haben drum erst jezt den Begriff klar gemacht. (GA II, 17, S 273)

2 In jedem Ist-Sagen, und seien es nur begriffliche Entitäten, womit ja D. Mersch operiert, wird ein Bild erzeugt in der Geltungsform „Ich“. Die grundlegende Form der Reflexivität und des Sich-Bildens ist immer Ausdruck der Freiheit.

Bekanntlich ist das fichtesche System ein System der Freiheit. Man könnte jede beliebige WL auf diesen Grundvollzug von Freiheit und Bild derselben zurückführen. Als Beispiel zitiere ich aus dem „Diarium“ von 1813, in dem Fichte auf das Thema „Sichtbarkeit“, genau wie es hier D. Mersch tut, sehr eindringlich eingeht. Ich zitiere nur aus den Anfangskapitel:

Das absolut vorauszusetzende eines individuellen wie interpersonalen Ichs) wäre drum das Vermögen dazuseyn; nach einer Regel: d. i. als Bild seiner selbst. Dieses Vermögen kann ich nun sehr gut, vor- 15 läufig dem absoluten selbst beilegen. Nun aber wird die Sache verwikelt. 1.) soll ja das absolute nicht erscheinen in der Zeit 2.) soll ja die Freiheit auch in die Mitte treten, als innere Bestimmung des Ich dastehen. -. Zuförderst durch die Freiheit sezt es sich in Fluß, um das erst gebundene anschaubar zu machen: die Bindung, oder das Gesez. NB. És ist dann faktisch Bild seines Thuns. intelligibel Bild seines ursprünglichen, u. gesezlichen Seyns, weil es nicht anders thun kann, als es ist.“ Dadurch sind denn auch die Stufen[.]* [/] 

[*am Seitenende ohne Vermerk:] NB. Die Erscheinung wäre nun an sich, intelligi- bel, schlechthin u. vor aller Fakticität: Bild des absoluten Lebens, formaliter, u. qua- litativ. Das formale erscheint in dem eigenen Leben. dem freien. In der Freiheit Bild seiner selbst, drum Bild jenes Bildseyns. Das 2te Bild in der Freiheit drum unendlich. Dies scheint alles zu lösen. Die Fakticität, von der ich oben rede, liegt nun eben in der Freiheit selbst. – . dem bildlichen Leben, das ich schlechthin voraussetzen muß. Bleibe ich dabei[,] denn dies scheint alles klar zu machen[.] 

Ist Bild seiner selber: doch nur inwiefern es ist, Resultat seiner Freiheit: u. dieses Resultat selbst ist als ein Resultat erst im Bilde, durch dasselbe gehalten, u. gefaßt. Die Freiheit selbst ist durchaus unbildlich, sie ist Bild, nicht Bild des Bildes. Nur durch ihr Thun selbst kommt ein Bild derselben zu Stande. – (…) (GA II, 17, S 27)

In jedem Unterscheiden und differentiellen Denken, worin Bild und Sein schon als verschiedenen vorausgesetzt werden, wird „(…) durch die Unendlichkeit ein Widerspruch gelöst mit der Abgeschlossenheit, u. Verschlossenheit.“ (GA II, 17, S 28)

„Es ist denn doch auch hier Bild seiner selbst, absolute, u. zwar auch als freie (ewig schaffende u. fortentwikelnde[] Natur – u. zwar Bild der blossen Bildlichkeit – die NaturAn- schauung ist die blosse Sichtbarkeit des Ich. Was ist nun da eigentliche Freiheit. Antw. Wo es ist (versteht sich[,] im Bilde gefaßt) als Bild seiner selbst – als ein noth- wendig Bewußtseyn bei sich führendes – denn dies heißt ja bekanntermassen frei. (Fortsetzung zur Anm. S 27; ebd. S 28)

3J. Widmann, a. a. O., Zum Begriff der Genesis, S 130f.

4Hier ebenfalls wieder sehr deutlich Fichte in der „Einleitung zur WL 1813“. Ich zitiere als Beispiel u. v. a. Die WL will gerade das Denken im Dienste des Visuellen stehend erweisen, als Ordnen: Daß dieser neue Sinn auf dem Standpunkte der Wissenschaftslehre zugleich der transscendentale sei, indem er insbesondere das Wissen oder Denken selbst zum Objekt seines Denkens und Construirens macht, wird nachher näher ausgeführt. Hier wird zunächst nur das Wesen dieses freien Denkens selbst dargestellt: wie es sei ein schöpferisches Bilden und Vorstellen des zu Construirenden in der Einbildungskraft, worin uns plötzlich die Evidenz ergreift und alle fernere Freiheit und Willkühr des Denkens absolut beschränkt: daß allein so der construirte Gegenstand zu denken, daß dies sein Gesetz, sein allgemeingültiger Begriff sei. (GA II, 17, S 253).

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser