Stichworte zu „Der philosophischen Religionslehre Erstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten; d. i. vom radikal Böse in der menschlichen Natur.“
Die ganze Schrift RGV, ich weiß nicht, wie soll ich sie einstufen? Ich höre stets einen aufklärerischen Geltungsanspruch heraus, das es keine unkritische, an der Vernunft vorbeiagierende, oder sogar autoritäre Religion geben darf. Dies führt für eine durch die christliche Tradition geprägte Vernunft natürlich zu kritischen Anfragen, die aber umgekehrt genauso auf Kant zurückgewendet werden können: Hat er einen so umfassenden Vernunftbegriff gehabt, dass er so selbstsicher über diese oder jene biblisch-christlichen Wahrheiten hinweggehen konnte? Verläuft seine Methode des erkenntniskritischen Rückfragens auf die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens und der Erfahrung nicht in den engen Grenzen einer gewissen statischen Natur- und Erkenntnislehre – ohne die dynamischen Bedingungen der Geschichte und der angefallenen Widerfahrnisse von Sinn und Widersinn genügend einzubeziehen? Die methodisch gut angesetzte autonome Selbstgesetzgebung der Vernunft, vermittelt durch transzendentale Freiheit, ausgeführt durch einen freien Willen, bedarf sie wirklich keiner göttlichen Gebote und Verbote mehr, keiner positiven Offenbarung, keiner religiösen Gnadenmittel, keiner sonst wie geprägten sakramentalen, kirchlichen Überlieferung, keiner Erlösungsidee, weil die Vernunft von sich her das Gesetz einer Moral und Religionslehre sich zu geben vermag? Ich werden paraphrasieren, aber ebenso kritisch zurückfragen.
Offensichtlich beschäftigte Kant nach Abfassung vieler grundlegender erkenntniskritischer und moralphilosophischer Schriften stark das Thema einer „Religionsphilosophie“, wie man zunehmend zu sagen pflegte. Wie verträgt sich eine allgemein einsehbare Religionsphilosophie, falls es so etwas überhaupt geben kann, mit den Fragen nach Gut und Böse, mit Fragen der Satisfaktion, mit Fragen einer kirchlichen Vermittlung? Sind das nicht alles Fragen, die vor dem Forum und Richterstuhl der Vernunft geklärt werden müssen – und nicht von Theologen oder einer kirchlichen Überlieferung uns aufoktroyiert werden dürfen? Es kann doch nicht sein, dass es religiöse Wahrheiten gibt, die über der Vernunft stehen und blind (fideistisch) und gehorsam befolgt werden müssen? Der Titel des ganzen Buches alleine ist aufklärerischer Anspruch und m. E. restriktiv mahnend an die Adresse der Theologen und an kirchliche Überlieferung gerichtet: „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Die zentralen Gedanken des überlieferten christlichen Glaubens müssen entweder vernunftkritisch in ihrem Sinngehalt erklärt werden können, oder sie haben keine Berechtigung und können verworfen bzw. müssen nicht geglaubt werden.
Wahrscheinlich gab es auch historisch viele Gründe, dass Kant sich zu einer Religionsschrift veranlasst gefühlt hatte. Es gab eigenartige, restriktive Predigervorschriften der Evangelischen Kirche, seltsame Schwärmereien und Praktiken bis zum König von Preußen hinauf. Kant wird hier vieles irritiert haben. Er wollte jetzt sozusagen die schönsten Stellen der christlichen Religion wieder hervorheben und rehabilitieren, oder auch kritisieren. Siehe dazu historische Kommentare.1
Die Frage nach Gut und Böse im ersten Hauptstück ist zweifellos eine der Philosophie und Religion würdige Frage. Das Thema ist von Kant nicht erstdiskutiert oder erstbearbeitet, sondern in der GMS (1785) und in der KpV (1788) oft abgehandelt worden. Wie jetzt bereits entwickelnden, philosophischen Prämissen mit der überlieferten christlichen Religion vereinbaren?
Zuletzt sind selbst von philosophischer Seite starke Einwendungen gegen Kants Moralphilosophie gekommen: Ist mit dem Maßstab des sittlichen Gesetzes (oder Sittengesetzes) der Grund des freien Handelns und Wollens so abgesteckt, dass a) ein göttliches Gesetz nicht mehr notwendig ist, oder b) nur ein „intelligibler Fatalismus“ (Ausdruck von C. C. E. SCHMID, Versuch einer Moralphilosophie Jena 17902 u. 1792) bleibt?2
1) Über das radikal Böse 3
Kant folgt der Spur seiner 1785 herausgegebenen GMS und der KpV 1788 (RGV, 1. Stück A 1793) Mit dem dort entwickelten Maxime-Begriff hofft er auf eine im Freiheitsakt liegende „Willkür“ hinarbeiten zu können, wodurch Gut und Böse bestimmt werden.
Das Thema könnte nicht tiefgehender und komplizierter sein: „Erstes Stück. Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur.“ (RGV, ebd., S. 665)
Das „radikal“ und das „Böse in der menschlichen Natur“ – wenn das jetzt wirklich buchstäblich genommen würde, wäre ein weiteres Nachdenken über Freiheit und Gut und Böse müssig. Wie meint Kant das? Ich kann es nur so lesen: Er meint es metaphorisch, aus der alltäglichen Redepraxis genommen, gemeinhin gesagt, aber nicht vernunftkritisch! Kant wird hier wohl nicht anders denken über Gut und Böse als in der GMS oder in der KpV!?
M. E. wählt hier Kant absichtlich noch eine mehrdeutige und metaphorische Rede, um desto klarer das Ziel seiner Argumentation erreichen zu können, eine genaue Begrifflichkeit von Gut und Böse und ihrer Herleitung aufzustellen. Gut und Böse sollen schlussendlich durch einen Akt der Freiheit definiert werden, nicht durch eine naturale oder geschichtlich angeborene „radikale“ Anlage. Das „radikal Böse“, so meine Leseart, ist vorläufiger Gemeinspruch.
Das Vergleichsprinzip zwischen Gut und Böse und das Dritte zwischen subjektiven Handlungsbedingungen und dem objektiv Guten und objektiv Bösen, oder objektiv guten wie bösen Werten, ist die Freiheit, die die Maxime bestimmt. Diese Freiheit wird nicht eine absolut willkürliche Freiheit sein, sondern eine nach dem Sittengesetz verfahrende Freiheit, der die Möglichkeit zum Guten wie Bösen gegeben ist, d. h. in letzterem Fall, zu einer verkehrten Maxime und Abweichung vom Sittengesetz überzugehen, wodurch sich das Böse definiert. 4
„Ein jedes Wesen, das nicht anderes als unter der Idee der Freiheit handeln kann,ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde“. (Kant, GMS, Akad. Ausgabe, IV, 448). 5
Die Jahre zuvor schon in der GMS und KpV herausgearbeitete Freiheit und Autonomie der Vernunft mittels unbedingtem, formalen Gesetz und angewandtem Kategorischen Imperativ, bestimmt die ganze Idee von Gut und Böse.
„Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst) daß sie mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urtheil, daß der Thäter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen.“ (RGV, Bd. VII, Ausgabe W. Weischedel, ebd.,S. 666)
Die Maxime wird so definiert, wenn ich zurückblende auf GMS, dass sie, „(…) (nicht) von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab(hängt), sondern blos von dem Princip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist.“ (GMS, Bd. V, ebd., S. 26)
In einer Anmerkung dort definiert er nochmals „Maxime“: „Maxime ist das subjektive Prinzip des Wollens; das objektive Prinzip (d.i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjektiv zum praktischen Prinzip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz. (GMS, ebd., S. 27) .
Jetzt wird der Maxime der Handlung weiter nachgegangen: Sie wird differenziert in eine zunehmend, so könnte gesagt werden, freiheitstheoretische Richtung, beschrieben mit dem Begriff „Willkür“, innerhalb der Wechselbestimmung von (objektivem) Sittengesetz und (subjektivem) Willen.6
Das Faktum des Guten wird offensichtlich konterkariert vom Faktum des Bösen – und beides soll zurechenbar sein?
J. Noller beschreibt die RGV im Unterschied zu den Grundlegungsschriften von Moral und Ethik als eine „Kritik des individuellen Freiheitsgebrauches“.7
Der Wille ist sich selbst hell, ist letztlich durchbestimmt durch das faktische Sittengesetz. Wie kann hier plötzlich eine verkehrte und irrige, böse Maxime im Freiheitsgebrauch auftauchen, liegend vielleicht im Begriff der Willkür? Gibt es eine Art doppeltes Wollen? 8
Offensichtlich liegt die Zurechenbarkeit von Gut und Böse in einer Verhältnisbestimmung zwischen einem intelligiblen, allgemeingeltenden Wollen des Sittengesetzes, und einem davon abirrenden Wollen in der Sinnenwelt, das aber, so jetzt Kants grundlegende ontologische Voraussetzung, einem allgemeingeltenden Sittengesetz unterworfen bleibt: Denn, wie er in der GMS einmal argumentiert, sogar im „ungünstigsten Fall“ des „ärgsten Bösewichts“ ein solcher böse Wille noch will, dass auch dieser individual-spezifische und von bösen Interessen geleiteter Wille von allen für alle zu jeder Zeit geachtet werde, wenn auch in einem performativen Selbstwiderspruch behauptet. 9
Der Mensch ist Bürger zweier Welten, a) der Sinnenwelt und b) der intelligiblen, geistigen Welt des moralischen Gesetzes. So ist er in seinem Wollen in die Entscheidung gestellt, entweder nach dem intelligiblen Sollen oder einem, in der sinnlichen Welt möglichen, bösen Wollen zu handeln. Nicht dass die sinnlichen und natürlichen Begierden schlecht wären – das wird später ausdrücklich verneint – aber in der sinnlichen Welt ist das Abirren vom sittlichen Gesetz möglich. Der Begriff des Sollens (und eines Imperativs) ergibt sich deshalb aus dem Gegensatz eines möglichen Abirrens vom sittlichen Gesetz in der sinnlichen Welt. 10
„Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.“ (GMS, IV, 455, 7-9.
Die Zurechenbarkeit von Gut und Böse durch Freiheit – das soll die Hauptintention und das Ergebnis des 1. Stücks in der RGV sein.
„(…) daß hier unter der Natur des Menschen nur der subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht, verstanden werde; dieser Grund mag nun liegen, worin er wolle. Dieser subjective Grund muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen).“ (RGV, ebd., S. 667)
Es wird jede objektorientierte, mithin inhaltlich-determinierende Erkenntnis von Gut und Böse abgewiesen. Der Freiheitsgebrauch, „(…) d. i. in einer Maxime“ muss den Entscheidungsgrund abgeben.
„Mithin kann in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objecte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d.i. in einer Maxime, der Grund des Bösen liegen. Von dieser muß nun nicht weiter gefragt werden können, was der subjective Grund ihrer Annehmung und nicht vielmehr der entgegengesetzten Maxime im Menschen sei. Denn wenn dieser Grund zuletzt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Naturtrieb wäre, so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können: welches ihr aber widerspricht. Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur so viel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.“ (RGV, ebd., S. 667)
2) Das Böse – angeboren oder durch Gebrauch der Freiheit?
Man kann im sprachüblichen und metaphorisch-phänomenalen Sinne sagen, dass die Gattung „Mensch“ das Böse sogar wie „angeboren“ (ebd. S 668) empfindet, „angeboren, als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (…) zum Grunde gelegt wird“ (ebd.).
In einer längeren Anmerkung zur „Anmerkung“ (RGV, ebd., S. 668 – 672) erläutert Kant diese erscheinungsmäßige, „angeborene“ Sicht des Bösen. Wenn die naturale Sicht eines „angeborenen“ Bösen aber tatsächlich zuträfe, d. h. wenn ontologisch die Abhängigkeit vom Bösen in der menschlichen Natur bestünde, wäre die Unmöglichkeit der Freiheit und die Unmöglichkeit des Guten ebenfalls damit behauptet – und die Diskussion wäre frühzeitig beendet. (Offensichtlich ist Kants Naturbegriff hier doppeldeutig, einmal ist die naturale Seite gemeint, dann wieder die intelligible Vernunftnatur.)11
3) Die Freiheit der Willkür
Kant kommt jetzt zu diesem im Vergleich zur GMS und KpV stärker betonten, weiterführenden Begriff der „Willkür“.
Darin will er im Gegensatz zum „angeborenen“ Naturursprung des Bösen den Vernunftursprung desselben finden.
„(…) die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, | daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urtheile der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung doch nicht bestimmt, so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben; und da dieses vermöge der Voraussetzung nur dadurch geschehen kann, daß der Mensch diese (mithin auch die Abweichung vom moralischen Gesetze) in seine Maxime aufnimmt (in welchem Falle er ein böser Mensch ist): so ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut, noch böse).“ (RGV; ebd., S. 670.671)
Wenn es einen transzendentalen, sich selbst hellen und gegebenen Grund der Selbstbestimmung und Freiheit geben soll, einen Willen und eine Willkür als einsichtigen Grund des Guten wie des Bösen, so ist dieser Grund zuerst in der Gesinnung zu suchen. Sie ist „(…) der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen“ (ebd., S. 671.672).
Prinzipiell ist das moralische Gesetz überzeitlich und nicht subjektiv, erst in der Zuordnung zur Freiheit wird dieses Gesetz subjektiviert und individualisiert.
„Die Gesinnung, d.i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjective Grund oder die Ursache erkannt werden (obwohl darnach zu fragen unvermeidlich ist: weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß). Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der That in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukommt.“ (RGV, ebd., S. 672)
Dies ergibt jetzt m. E. noch eine unklare Rede: Einerseits spricht Kant klar von der Freiheit der Willkür, einer „Beschaffenheit der Willkür“, die von keiner Triebfeder zu einer Handlung bestimmt wird, ja der Begriff der „Maxime“ wird damit transformiert zu einer freiheitstheoretischen Sicht individueller und personaler Freiheit – „(….) von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjective Grund oder die Ursache erkannt werden (…)“ -, andererseits spricht Kant von einer angeborenen Willkür, als einer der „Natur“ des Vernunftwesens selbst zukommenden Eigenschaft.
Wie differenziert sich dieser Charakter der Maxime aus, die schließlich eine freie Willkür sein muss können, wenn die Vernunft alleine Urheberin der freien Selbstbestimmung sein soll? 12
4) „Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“ (RGV, ebd., S. 672ff)
Kant will auf eine transzendentale, d. h. in der Vernunft selbst einsehbare und legitimierbare Erklärung des Guten wie Bösen hinaus. Dies verlangt als prädisponierte Folie und prä-supponierte Voraussetzung die Anlage zum Guten, sonst könnte von einer Abweichung und vom Wollen des Bösen gar nicht gesprochen werden.
Er unterscheidet daraufhin folgenden Voraussetzungen eines späteren, ganzheitlichen, moralischen Handelns des Menschen: die Anlage a) zur „Tierheit des Menschen, als eines lebenden“, b) zur „Menschheit“, und c) zur „Persönlichkeit“.
Gewissenhaft und poetisch-weitschweifig, wie Kant es beherrscht, wird der Einteilung dieser Anlagen beschrieben (ebd., S. 673-674).
Er kommt schließlich zur Beschreibung der „Persönlichkeit“, die er in der KpV schon herausgearbeitet hat, aber hier im Rahmen der Willensbestimmung von Gut und Böse, sozusagen als Metatheorie der Persönlichkeit, von immer größerer und besonderer Bedeutung wird.13
Kein Wunder, wenn ich so sagen will, in einer aufklärerischen, religionskritischen Schrift soll eine freiheitstheoretische, allein der Vernunft zuerkennbare und verantwortbare Sicht von Gut und Böse herausgearbeitet werden. Die freie Persönlichkeit muss in größtmöglicher Unabhängigkeit von äußeren, autoritären oder religiösen Geboten und kirchlichen Vorschriften definiert werden können.
5) Der Hang zum Bösen (RGV, ebd., S. 675ff)
Im Vorfeld der Erklärungen zu Gut und Böse und deren möglichen Ursprünge spricht Kant jetzt vom „Hang“ bzw. der „Neigung“. Die „Neigung“ wäre eine naturale, heteronome Bestimmung.
Der „Hang“ ist noch keine Heteronomie und kein passives Hindernis, Gutes wie Böses zu wollen. Er ist sozusagen die ständige sinnliche und geschichtliche Prägung und Begleitung, die naturale Erscheinungsweise von Gut und Böse. Diese Erscheinungsweise verlangt jetzt eine transzendentale Auflösung der Bedingung der Möglichkeit nach.
„Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d.i. zum Moralisch-Bösen die Rede, welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurtheilt werden kann, in dem subjectiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird. – Man kann noch hinzusetzen, daß die aus dem natürlichen Hange entspringende Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen oder nicht, das gute oder böse Herz genannt werde.“ (RGV, ebd., S. 676)
Der Hang zum Bösen erfolgt a) aufgrund der freien Willkür im Rahmen der „Maximen“, ist eine Art Maximierung verkehrter Freiheit, und ist b) gültig für die „Gattung“ Mensch, nichts Individuelles, und c) deshalb ein „natürlicher Hang“ (ebd. S. 675- 680). Er zeigt sich als Gebrechlichkeit, Unlauterbarkeit, Verderbtheit – vgl. ebd., S. 677.
Es folgt eine erste, definitorische und epistemische Bestimmung des Bösen: Der Hang zur Bösartigkeit kann „(…) die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet.“ (RGV, ebd., S. 677).
Die Triebfedern einer freien Willkür – das ist eine Spezifizierung und Ausweitung des Begriffes der „Maxime“ hin zu einer Möglichkeit von Verkehrung und Verdrehung. Es wird, so die Einschätzung von J. Noller, „die Perspektive einer Freiheit zum Bösen erweitert“. 14
In meinen Worten: Die Idee des moralischen Gesetzes und die später herausgearbeitete Achtung (des Gesetzes) wird freiheitstheoretisch erweitert – zugunsten des Begriffes der freien „Persönlichkeit“. Heißt das auch die Fähigkeit und das Vermögen, gegen die sittliche Ordnung zu verstoßen? Zur Idee der Persönlichkeit – siehe dann die sehr instruktive Weiterführung und kritische Anfrage an Kant bei Carl Leonhard Reinhold im 2. Band seiner „Brief über die Kantische Philosophie“ (1792) 15
6) „Der Mensch ist von Natur böse“ (RGV, ebd., S. 680 – 688)
Die Frage der Begründung und der Denkbarkeit einer freien Willkür ist jetzt virulent geworden; die Frage nach dem letzten Bestimmungs- und Geltungsgrund der freien Willkür. Eine total verkehrte, mithin teuflische Maxime ist für Kant transzendentallogisch nicht denkbar (eine „boshafte Vernunft“, ebd. S. 683), weil die Vernunft in ihrer Triebfeder sich dann selbst aufheben täte. Was kann dann der letzte Bestimmungsgrund (und Geltungsgrund) einer verkehrten Gesinnung bzw. einer freien Willkür sein?
Kant geht verschiedene Erklärungsversuche durch:
„Der Grund dieses Bösen kann nun 1) nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden. (…)
auch 2) nicht in einer Verderbniß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt werden (…)
(Eine) vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder (denn ohne alle Triebfeder kann die Willkür nicht bestimmt werden) erhoben und so das Subject zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde. — Keines von beiden (sc. Sinnlichkeit oder Teuflisches) aber ist auf den Menschen anwendbar.“ (RGV, ebd., S. 683)
Die Überschrift Kants „Der Mensch ist von Natur böse“, so wird jetzt immer deutlicher, war also nur landläufige, populäre Rede, eine Beschreibung der Erscheinung nach – nicht den intelligiblen Gründen nach.
7) Vom Vernunftbegriffe des Bösen
In der Suche nach dem letzten Geltungs- und Bestimmungsgrund des Bösen, insgeheim wissend, dass er ihn in der „freien Willkür“ nicht angeben wird können – weil das ja den Begriff der Freiheit aufhöbe – schwenkt Kant jetzt auf eine Beschreibung und Definierung eines apriorischen Begriffes vom Bösen ein. Es soll das Verhältnis einer freien Zurechenbarkeit einer verkehrten Maxime sein.
Den Vernunftbegriff suchen und finden heißt soviel wie, „(…), sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori (…)“ (RGV ebd., S. 684) Das Böse, so jetzt mein Gesamtdeutung der epistemischen Erklärungen Kants, ist eine begriffslogische Unterordnung und Verdrehung der sittlichen Ordnung unter eine Triebfeder der „Selbstliebe“ und der „Neigungen“.
Kant argumentiert folgendermaßen: „ Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ (RGV, ebd., S. 685)
2) Es sei mir hier erlaubt, sozusagen in der Mitte des „Ersten Stückes“, starke Bedenken anzumelden, weil dieses Thema sich durch alle weiteren Passagen durchziehen wird: Nach „Gesetzen der Freiheit“ will Kant das Böse bestimmen. Das klingt freiheitstheoretisch gut und ist in der Intention der apriorischen Absicht berechtigt. Meine Skepsis dabei: eine begriffslogische Situierung des Bösen in der Willkür und in der Verdrehung der Maximen, bedürfe das nicht ebenso einer realistischen Anwendungs- und Darstellungsform? Die Argumentation Kants scheint mir nur abstrakt (begriffslogisch-epistemisch) richtig zu sein. Die Entschiedenheit der Freiheit ist dabei bereits (ontologisch) vor-bestimmt, entweder der sittlichen Ordnung konform zu sein, oder ihr nicht konform zu sein, und das wird dann falsche, verkehrte Maxime genannt, die das apriorische Böse ausmachen soll?! Wo bleibt aber jetzt der freiheitstheoretische Aspekt, wählen zu können zwischen den Alternativen einer sittliche Ordnung oder einer verkehrte Ordnung und in concreto zwischen Gut und Böse? Eine Wählbarkeit und Bestimmbarkeit zum Guten oder Bösen gibt es nach Kant gar nicht mehr, weil die Freiheit nur das Gute wählen kann, will sie widerspruchsfrei handeln – und in Maßen und zeitweise können die Maximen von der sittlichen Ordnung abirren, was dann den apriorischen Begriff des Bösen ergibt. Das Böse als „privatio“ des Guten definiert.?
Das Problem kann m. E. nur mit Fichte zureichend gelöst werden: Es müsste der modaltheoretische Standpunkt einer freien Wählbarkeit und Bestimmbarkeit des Guten wie Bösen zuerst abgeleitet werden, damit der Geltungsgrund des Guten wie Bösen in seiner Wählbarkeit wie in seiner Rechtfertigung und Wahrheit einsichtig werde. Die konkrete Wahlfreiheit – gibt es die bei Kant?
Die Form der Verbindlichkeit der Einbildungskraft, die jede zeitliche und geschichtliche Hemmung und Tat zu einer Anschauung und Erfahrung zusammenstellt, mithin anschaulich Gutes wie Böses vorstellt – das wäre die Grundlage und Substanz des Denkens von Gut und Böse und deren Begriff der Wählbarkeit, der Bejahung wie Verneinung. Wo ist bei Kant die Vermittlung zwischen Begriff der Maxime und Anschauung von Gut und Böse?
Eine begriffslogische Beschreibung und Definition des Bösen (oder Guten) in einer bereits vor-entschiedenen sittlichen Ordnung mag für eine Zurechenbarkeit im Falle eines Tatbestandes und im Falle einer juridischen Beurteilung ausreichen, aber damit wird der aktuelle Zusammenhang des Tuns und der Handlung in der Einbildungskraft a) nicht erhellt und aufgedeckt und b) das sittlich Gute wie Böse in ihrem Wert oder Unwert noch gar nicht vorgestellt und als wählbar hingestellt. Der anschauliche Begriff des Guten wie Bösen, das ist die zum logischen Begriff notwendig hinzukommende, uns existentiell betreffende und uns bereits prägende Realisierungsbedingung in der uns verpflichtenden Einbildungskraft.
Soweit meine erste Anfrage – siehe dann unten, Punkt Zehn, eine zweite Anfrage zum Begriff des „Aktes“ der Freiheit.
3) Die begriffslogischen und epistemischen Bestimmungen Kants gehen weiter. Alles wiederum sehr poetisch bis blumig beschrieben, aber es sind keine Ableitungen eines Wertes von Gut oder Böse, weil es nur bei einer begriffslogischen Rekursion bleibt: die Maxime wird bezogen auf das Sittengesetz oder abirrend bezogen. Es kommt zu reduktiv-logischen Implikationsbegründen, aber nicht zu einer genetischen Einsicht von Gut und Böse, worin begriffslogische wie anschauliche Verbindlichkeit verwoben sind.
Die Argumentation Kants gewinnt einen dualistischen Klang: Man muss stets unterscheiden zwischen den Triebfedern der Sinnlichkeit/Glückseligkeit – und der Triebfeder des moralischen Gesetzes. Eine gewisse Scheinheiligkeit kann sich einschleichen (nach Kant).
„Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime wider die sittliche Ordnung können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus ächten Grundsätzen entsprungen wären: wenn die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen Gesetze eigen ist, blos dazu braucht, um in die Triebfedern der Neigung unter dem Namen Glückseligkeit Einheit der Maximen, die ihnen sonst nicht zukommen kann, hinein zu bringen. (…) da dann der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse ist. (ebd. S. 685)
Das führt zu einem Fehlen (einem Mangel) des Guten, ist ein „Laster“ (ebd.) als Denkungsart der „Abwesenheit“ des Guten, und ist in gewissem Sinne selbst schon eine falsche, irrige Bevorzugung des bösen Prinzips: „Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach gesehen wird), selbst schon eine radicale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen.“ (ebd., S. 686)
Er kommt in weiterer Folge zu den Gefühlen und in Kants Sicht faulen Ausreden von „Schuld“ und „Gewissensruhe“, die im Falle bloßer Gebrechlichkeit und Unlauterbarkeit und charakterlicher Tücke (siehe oben am Beginn des „Hanges“ zu a – c, ebd., S. 677) den transzendentale Grund des Bösen verdecken: „(…) Diese Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen, welche die Gründung ächter moralischer Gesinnung in uns abhält, erweitert sich denn auch äußerlich zur Falschheit und Täuschung anderer, (…)“ (ebd., S. 687).
Das verhindert geradezu die Entdeckung des wahren Guten: „(…) der, so lange wir ihn nicht herausbringen, den Keim des Guten hindert, sich, wie er sonst wohl thun würde, zu entwickeln.“(ebd.)
8) Vom Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur“ (RGV, ebd., S. 688 – 694)
Kant will, wie gesagt, einerseits nur eine transzendentale Erklärung des Bösen aus dem Freiheitsakt des Vernunftwesen gelten lassen, kann aber andererseits durch seine Rekursion auf die freie Willkür keinen letzten Geltungs- und Bestimmungsgrund angeben, weil dies ipso facto den Begriff der Freiheit (in der Willkür) selbst aufheben würde. Der Erkenntnisgrund der freien Bestimmung, erst recht zu einer bösen Selbst-Bestimmung in der freien Willkür, ist der Erkenntnis entzogen. Die „Unbegreiflichkeit“ wird festgestellt. (ebd., S. 693)
Kant greift jetzt absichtlich oder unbewusst-unabsichtlich zu modaltheoretischen Verhältnissen: Es ist (ihm) das Böse nicht ableitbar, es tritt aber unleugbar und diskontinuierlich im sonstigen Gegenwartsbewusstsein auf, ergo ist es, im Gegensatz zu einer subjektiv bewussten Absicht, „zufällig“ in dem Gebrauch der Freiheit liegend (ebd., S. 689), eventuell mit einer gewissen Selbstmächtigkeit im Vermögen der Freiheit sogar liegend? 16 Auf jeden Fall ist aber die Ursache des Bösen nicht durch eine zeitliche Vererbung oder „Anerbung von den ersten Eltern“ (ebd.) möglich.
„Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden.„ (ebd., S. 690)
Es kommt immer auf die gegenständlich-freie Handlung an, die als „hinreichender Grund“ (ebd., S. 690) der Zurechnung des Guten oder Bösen gesehen werden muss – nicht auf die zeitliche Erscheinung. Der Akt der Prinzipierung von Gut oder Böse muss einen (zeitlosen) Vernunftursprung haben.
Ein letzter Bestimmungsgrund zum Bösen in der freien Willkür ist nicht einsichtig. Das Böse (oder Gute) kann aber auch nicht von außen kommen. Es muss eine prinzipielle Zurechenbarkeit zum Guten oder Bösen durch den Akt der Freiheit geben.
4) Meine Kritik: Es bleibt m. E. eine Aporie, entweder es gibt einen Geltungsgrund für Gut und Böse, einen äußeren, den Kant aber nicht zugeben will und kann, umgekehrt aber kann er das Böse nicht innerlich, sozusagen aus dem eigenmächtigen Begriff und Geltungsgrund der Freiheit selbst, ableiten. Die Freiheit ist ja auf eine sittliche Ordnung hingerichtet, ergo wird, so jetzt die halbherzige Lösung, nur begriffslogisch das Böse als eine Privation und Abirrung von der sittlichen Ordnung bestimmt. Die Verhältnisbestimmung der Maxime zu einer sittlichen Ordnung ist epistemisch als gut zu bestimmen, eine davon abweichende Maxime wäre eine unsittliche Maxime und ergo „böse“ Maxime und böse zu nennen.
Es fehlt schmerzlich das Mittelglied a) einer deduzierten Wahlfreiheit zum Guten wie Bösen, d. h. die Ableitung des Vermögens, sich frei für das Gute oder Böse zu entscheiden. Die ganze Last der Erkennbarkeit und Verantwortbarkeit des Guten wie Bösen hat der „Akt der Freiheit“ zu tragen – und je nachdem werden die Begriffe „gut“ oder „böse logisch gesetzt, Maxime der Befolgung des Sittengesetzes, oder unsittliche Maxime der Nicht-Befolgung.
Ferner fehlt in ihrer ganzen Bandbreite b) die geschichtliche Realisierungsbedingung und Anschaulichkeit des Guten wie Bösen als transzendentallogische Begründungsform. (In poetisch-dichterischer Weise kann Kant das Gute wie Böse natürlich treffend beschreiben, phänomenal). (Fichte steigt in seiner „Sittenlehre“ von 1798, § 4 höher – siehe Blog: )
5) „Wenn aber Jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht thut, der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. — Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser That fragen, um darnach den Hang, d.i. den subjectiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen und wo möglich zu erklären.„ (RGV, ebd., S. 691)
Kant war sicherlich ein sehr guter Bibelkenner, trotzdem ist für mich jetzt befremdlich, wie er die Texte auslegt, besonders diesen kostbaren Text
Gen 3. Nach Kant: Die Hl. Schrift in Gen 3 hat in der Geschichte des „Sündenfalls“ genau diese Bedeutung, dass der Mensch sich frei nach anderen Maximen als den moralischen (nicht göttlichen) Geboten („1. Mose II, | 16.17“) ausgerichtet hat. 17
„(…) sah sich der Mensch doch noch nach andern Triebfedern um (Gen 3, 6), die nur bedingterweise (nämlich so fern dem Gesetze dadurch nicht Eintrag geschieht) gut sein können, und machte es sich, wenn man die Handlung als mit Bewußtsein aus Freiheit entspringend denkt, zur Maxime, dem Gesetze der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen. Mithin fing er damit an, die Strenge des Gebots, welches den Einfluß jeder andern Triebfeder ausschließt, zu bezweifeln, hernach den Gehorsam gegen dasselbe zu einem bloß (unter dem Princip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herab zu vernünfteln,*[2] woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz, in die Maxime zu handeln, aufgenommen und so gesündigt ward ( Gen 3, 6).“ (ebd., S. 692)
Kant kennt in der Anmerkung (ebd., S. 692) auch den „Lügner von Anfang an“, aber das ist für ihn nur ein Symbol für das personifizierte Böse, das seinen Ursprung im falschen Gebrauch der Freiheit hat.
Sein Resümee des Bezuges zur Hl. Schrift: Eine zeitliche Erklärung des Hanges zum Bösen zurück bis zum zeitlichen Ursprung des Sündenfalles im Paradies vorgestellt, das erreicht nicht den Vernunftursprung des Guten wie Bösen: „(..) Wir müssen aber von einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen; so unvermeidlich dieses auch ist, wenn wir ihr zufälliges Dasein erklären wollen (daher ihn auch die Schrift dieser unserer Schwäche gemäß so vorstellig gemacht haben mag).“ (ebd., S. 693)
Die Erzählung der Hl. Schrift ist nach Kant nur allegorische, mythologische Erzählung und Aufforderung, eine transzendental-kritische Selbsterforschung anzustellen und zu erfragen: Woher kommt das Böse? Aus dem eigenen Herzen, aus der eigenen, apriorisch-verkehrten Maxime und ihrer Absicht, mithin aus dem Gebrauch der Freiheit.
9) „Allgemeine Anmerkung“ – 1. Teil (ebd., S. 694 – 701)
Kant hat in seinen Augen jetzt den Punkt einer transzendentalen, vernunftgerechten Erklärungsmöglichkeit des Bösen erreicht. Es geht nicht mehr um den „Hang“ zum Bösen oder eine naturale Grundanlage, sondern um den Vernunftursprung und den apriorischen Begriff des Bösen – in epistemischer Beschreibung und Bestimmung einer verkehrten Maxime. (ebd., S. 688 – 694).
Ich zitiere quasi die Zusammenfassung dieses Kapitels aus der „Allgemeinen Anmerkung“ am Anfang des Kapitels „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft.“ (ebd., S. 694)
„Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein. Wenn es heißt: er ist gut geschaffen, so kann das nichts mehr bedeuten, als: er ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut; der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt oder nicht (welches seiner freien Wahl gänzlich überlassen sein muß), macht er, daß er gut oder böse wird. Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nöthig, so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d.i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet und er für einen guten Menschen erkannt werde.“ (RGV, ebd. S 694)
„Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns“ (RGV, ebd., S. 696) ist das weitere Interesse Kants.
In einer nochmaligen Anmerkung zur „Allgemeinen Anmerkung“ geht Kant auf den Begriff der „Selbstliebe“ ein, die moralisch oder unmoralisch sein kann, wenn sie „Vernunftliebe“ ist und dem Ṕrinzip der „Glückseligkeit“ in dem Sinne folgt, dass auf die Würdigkeit Bedacht genommen wird. (vgl. ebd., S. 695 – 697)
Es muss die Möglichkeit und Kraft der „Herstellung der „Reinigkeit“ des moralischen Gesetzes geben (vgl. ebd., S. 696)
„(…) als obersten Grundes aller unserer Maximen, nach welcher dasselbe nicht bloß mit andern Triebfedern verbunden, oder wohl gar diesen (den Neigungen) als Bedingungen untergeordnet, sondern in seiner ganzen Reinigkeit als für sich zureichende Triebfeder der Bestimmung der Willkür in dieselbe aufgenommen werden soll.“ (ebd., S. 696)
Kant bekräftigt sozusagen nochmals, was „gut“ heißt oder das ursprüngliche Gute ist: „Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht, mithin blos aus Pflicht, wodurch der Mensch, der diese Reinigkeit in seine Maxime aufnimmt, obzwar darum noch nicht selbst heilig (denn zwischen der Maxime und der That ist noch ein großer Zwischenraum), dennoch auf dem Wege | dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern.“ (ebd., S. 696, Hervorhebung von mir)
10) Von der „Revolution“ der Denkungsart.
In dieser „Allgemeinen Anmerkung“ packt Kant Verschiedenes zusammen. Die „Revolution“ der Denkungsart und den Begriff der „Achtung“. Seine Methode, alles auf einen Gebrauch der Freiheit zurückzuführen, ist einerseits bemerkenswert, andererseits bedenklich, weil die geschichtlichen und interpersonalen Voraussetzungen dieses Aktes nicht genügend einbezogen sind!?
a) Durch Gewöhnung oder durch die Folge beständigen Trainings und „allmähliger Reformen“ (vgl. ebd., S. 697), in „kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch zu werden“ (ebd., S. 698), kann der apriorische Begriff des Guten und der Pflicht nicht erreicht werden. Das wäre schon als „verkehrte Denkungsart anzusehen.“ (ebd. S 699). Dies muss durch „Revolution“ (ebd., S. 698) geschehen.
Die „Revolution“ wird den allmählichen Reformen entgegensetzt und vorgezogen. Die kompromisslose, revolutionäre Annahme eines höchsten Bestimmungsgrundes der Maximen – das alleine entscheidet über die Moralität von Gut und Böse.
Dazu interpretiert Kant wiederum die Hl. Schrift – ebenfalls sehr eigenwillig: Die Stelle Joh 3, 5 spricht vom Hl. Geist; sie wird umgedeutet zu einer durch „Revolution“ und freiem Willen zu erreichender Gesinnungsethik und revolutionären Maximen-Umkehr. Die Wiedergeburt aus dem Heiligen Geist entfällt.
„Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2) und Änderung des Herzens werden.“ (RGV, ebd., S. 698)
b) Ein in zeitlichen Veränderungsschritten (der Erscheinung nach) vorgehende Änderung der Denkungsart ist nicht vorstellbar, weil dann der Vernunftakt selbst zeitlich würde.
Kant schwächt dann m. E. seine Position etwas ab: In einer zeitlich-kontinuierlichen Veränderung könnte aber ein intelligibler und revolutionärer Sinn stecken, insofern aus göttlicher Perspektive der ganze kontinuierliche Zusammenhang der Veränderung als ein Akt angesehen werden kann, als eine zeitlose Revolution. Prinzipiell muss aber der Vernunftakt zeitlos, „revolutionär“ gesehen werden, um die Freiheit der Zurechnung zu wahren.
„Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns thunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmählige Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt) nothwendig und daher auch dem Menschen möglich sein muß.
Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare | Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er sofern dem Princip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subject; aber nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch: d.i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Princips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde. Dies ist für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurtheilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen.“ (ebd., S. 698. 699)
Der Mensch, wenn er in einer „einzigen unwandelbaren Entschließung umgekehrt“, kommt der intelligiblen Ordnung nach zu einem moralisch, reinen Prinzip. Käme die Zeit hinzu, im „kontinuierlichen Wirken und Werden“, so ist die Reinheit des Prinzips schon aufgegeben, man kann „nur hoffen, (…) dass man sich vom Schlechten zum Besseren befinde.“
6) Warum ist das Kant so ein Problem und einer Auflösung wert, dass sich zeitliche und kontinuierliche Veränderung einerseits, und radikale Gesinnungsänderung andererseits ausschließen? Worin liegt seine Disjunktionseinheit zwischen begriffslogischer Zurechnung der Freiheit zum Guten oder Bösen einerseits, und zu vermeidender zeitlicher Zuordnung und erst allmählicher Zuwendung und Bekehrung zum Guten andererseits? Natürlich darin, dass eine akthafte Zurechnung des Guten oder Bösen bei zeitlichen Folgeerscheinungen nicht mehr behauptet werden könnte, sondern erscheinungsmäßige Zwischenstufen der Determination zum Guten oder Bösen einträten. Die ganze Argumentation der freien Zurechnung bräche zusammen! Eine zeitliche Ursache hätte eine prä-determinierende Wirkung.
6) Trotzdem, jetzt meine dritte kritische Anfrage: Kant kennt nur – wie ich es nennen will – begriffslogische, faktische Gegebenheiten der Zuschreibung. Aber woher kommen diese faktischen Gegebenheiten (im Begriffe)? Es darf keine zeitliche Determination geben, dem wäre aus Vernunftgründen und Freiheitsgründen zuzustimmen, aber die freie Willkür zum Guten oder Bösen ist bei Kant ja keine Entscheidungs- und Wahlfreiheit mehr, sondern bereits gefällte Entscheidung und gefälltes Urteil zum Guten im Sittengesetz, oder gefällte Entscheidung und Urteil in der Abkehr vom Sittengesetz, dann privativ „böse“ zu nennen. Kant nimmt dezionistisch die Entscheidung vorweg, was Freiheit heißt.
Das ist ein tiefergehendes philosophisches Problem, abgesehen jetzt von der ehrenwerten Intention Kants, die Freiheit und Würde des Vernunftwesens „Mensch“ retten zu wollen. Das Problem zieht sich durch die ganze Schrift RGV: Es kann logisch nicht ein und derselbe Akt der Freiheit sowohl Gutes wie Böses wollen. Kant bestimmt begriffslogisch Gut und Böse aus dem Akt der Freiheit, aber die eine Setzung hebt die andere Setzung auf. Es ergeben sich disjunktive Möglichkeiten der Freiheit, aber die Einheit der Disjunktion muss ebenfalls begründet werden?
Das lässt sich nur mit fichteschen Mittel lösen. Das Verhältnis zu Gut und Böse kann nicht nur begriffslogisch, sondern muss ebenso anschauungsbezogen analysiert werden. Die von Kant entworfene Entscheidung zu Gut oder Böse ist eine fakultative Gegebenheit – muss aber von einem höheren Bedingungskomplex genetisch abgeleitet werden. Fichte hat das durchdrungen und begründet: Im Bereich der logischen Implikation ermöglicht ein (absoluter) Geltungsgrund den Akt der Freiheit zum Guten oder Bösen, wie Kant es sieht, aber das zu denken ist erst möglich aufgrund eines übergehenden Apponierens und Anschauens von Gut und Böse. Und umgekehrt gilt genauso, das freie Apponieren und Bilden eines Zeitschemas ist erst ermöglicht durch das begriffslogische Denken fakultativer Folgen aus einem genetischen Geltungsgrund.
M. a. W., Kant braucht den Blick auf die fakultativen Folgen, um den Akt der Freiheit als deren Grund angeben zu können. Aber dieser Akt der Freiheit setzt eine verzeitete Vorstellung von Substanz und Prinzipsein eines Ich voraus, dass Gut und Böse apriorisch wissen muss können. Diesen Akt einer verzeiteten Vorstellung holt Kant methodisch aber nicht mehr ein.
Der Akt der Freiheit als Entscheidungsgrund zum Guten im Sittengesetz oder zum Bösen in der Abweichung der Maxime vom Sittengesetz ist faktisch möglich, aber stillschweigend sind es implikative und appositionelle Akte, die diesen Akt der Freiheit erst begründen. Dieser Akt der Freiheit wäre aus einem absoluten Geltungsgrund erst disjunktiv abzuleiten. (Siehe Fichte, SL, § 4)
Anders gesagt: Nur weil die bloße Implikation nicht erzwingt, welche disjunktive Möglichkeit verwirklicht wird, Gutes oder Böses, ist der „Akt der Freiheit“ (nach Kant) möglich; dieses Nicht-Erzwingen gelingt aber erst dank der replikativen Möglichkeit und entworfenen Sphäre der Entscheidbarkeit und Bestimmbarkeit zum Guten oder Bösen im apponierenden Denken. Es muss m. E. dringend bedacht werden: Die reflektierende und zugleich reproduzierende, erinnernde Urteilskraft bezieht im Tun und Handeln die guten wie bösen Ereignisse verbindlich mitein. Das epistemisch durch Wollen des Sittengesetzes festgelegte Gute bzw. davon abirrend, das epistemisch bestimmte Böse, sind bei Kant als fakultative Gegebenheiten schon vorausgesetzt und vor-entschieden, sodass ein Wahlfreiheit und die Bestimmbarkeit und Einsehbarkeit des Guten oder in das Böse bereits übersprungen sind bzw. nicht mehr gegeben sind.
Anders gesagt: Das uns zutiefst betreffende, bedrängende, versuchende Böse in uns und in der Geschichte ist durch Einbildungskraft relevant und vorgegeben – und wird mit einer bloßen Dialektik – hier Zurechenbarkeit in einem Akt der Freiheit, dort nur „natürliches“ Phänomen, natürlicher „Hang zum Bösen“, nur Erscheinung, als uns äußerlich hemmend, – nicht durchschaut.
Deshalb, so mir erklärlich, besteht in folgenden Teilen der RGV bei Kant auch keine Notwendigkeit einer positiven Offenbarung und Satisfaktion und Restitution.
Kant leugnet das Böse keineswegs. Es entgeht ihm aber die in jedem Handeln bereits gesetzte Verbindlichkeit durch die produktive und reproduktive Einbildungskraft zum Guten wie Bösen. Diese ist begriffslogisch nicht einfach abzutun: Gut ist, was der Gesinnung nach der sittlichen Ordnung entspricht, böse ist, was in der Gesinnung davon abweicht. Gerade in der schroffen Ablehnung einer zeitlichen und erscheinungsmäßigen Erklärung und Erkennbarkeit des Guten wie Bösen, wird die Freiheit in der anschaulichen Gebundenheit der Einbildungskraft nicht mehr gesehen. Das ist ein höchst abstrakter Vernunft- und Freiheitsbegriff.
Die christliche Überlieferung hingegen besteht zurecht darauf, dass die Vermittlung von moralischem Sittengesetz und Freiheit die geschichtliche Evidenz einer Sinnidee verlangt, die Satisfaktion und Restitution leistet. Eine bloß gesinnungsmäßige „Revolution“ der Denkungsart ist höchst prekär und leistet nicht, was sie leisten soll: Dass im Akt der Freiheit das Vermögen zu Gutem wie Bösem vollständig geleistet werden könne.
Es fließen hier evtl. auch konfessionell-evangelische Erinneru ein, dass die Gerechtigkeit aus dem Akt des Glaubens kommt, also aus einem Akt in der Gesinnung, und nicht durch bedachte Tradition und kirchliche Vermittlung einer pertinenten Sinnidee und einer heilsamen, sakramentalen Erinnerung an die positive Offenbarung in Jesus Christus.
„(…) der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott, so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in sofern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden“. (ebd., S. 699) 18
7) Alle nun folgenden Begriffe sind schön gesetzt, aber es haftet ihnen m. E. eine gewisse Prekarität an
11) Der Begriff der Achtung
In der begrifflich-logischen Konstruktion kommen Wille und allgemeines Gesetz gänzlich überein. Unter sinnlichen Bedingungen wird das Wollen zu einem Imperativ des Sollens – genauere Ableitungen siehe GMS, ebd., S. 33ff; oder ebd., S. 41ff.
Kant bedarf eines Übergangs von der intelligiblen Welt des sittlichen Wollens und der subjektiven Maxime des Wollens zur sinnlichen Welt des moralischen Gesetzes. Wo zeigt sich dieser Übergang? Er findet diese Nahtstelle im Begriff der „Achtung“ – siehe bereits GMS, ebd., S. 26ff.
Man könnte in diesem Zusammenhang zuerst an die Achtung anderer Personen denken und an die spezifische Anwendung der Achtung in einem interpersonalen Kontext. Aber weit gefehlt, zuerst kommt die Achtung vor dem Gesetz, die als Erziehungsaufgabe aufgetragen ist.
„Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt. Nun ist selbst der eingeschränkteste Mensch des Eindrucks einer desto größeren Achtung für eine pflichtmäßige Handlung fähig, je mehr er ihr in Gedanken andere Triebfedern, die durch die Selbstliebe auf die Maxime der Handlung Einfluß haben könnten, entzieht;“ (RGV, ebd., S. 699).
Dezidiert beim Begriff der Achtung nicht von der anderen Person zuerst zu sprechen, ist doch ein sehr eingeschränkter, freiheitstheoretische Ansatz!? 19
Beispiele von guten Menschen mögen nützlich (vgl. ebd.) sein, sind aber trotzdem für eine Tugendlehre nicht geeignet.
„(…) so daß Pflicht bloß für sich selbst in ihren Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt. Allein tugendhafte Handlungen, so viel Aufopferung sie auch gekostet haben mögen, bewundern zu lehren, ist noch nicht die rechte Stimmung, die das Gemüth des Lehrlings fürs moralisch Gute erhalten soll. Denn so tugendhaft Jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes | VI49 thun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber thun, ist nichts mehr, als das thun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient. Vielmehr ist diese Bewunderung eine Abstimmung unsers Gefühls für Pflicht, gleich als ob es etwas Außerordentliches und Verdienstliches wäre, ihr Gehorsam zu leisten.“ (ebd., S. 699.700)
Es ist hingegen „seelenerhebend“ (ebd., S. 700) die reine, moralische Anlage in uns überhaupt zu erkennen;
„(…) und selbst | die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag. Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt, um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche sittliche Ordnung unter den Triebfedern und hiemit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in ihrer Reinigkeit wieder herzustellen. (ebd., S. 700 – 702)
12) „Allgemeine Anmerkung“ – 2. Teil, Fußnote (ebd., S. 700ff)
Kant spricht nochmals Verschiedenes an:
a) Es bleibt zwar, wie ausgeführt, ein gattungsmäßig, prädisponierender Hang zum Bösen, das ist aber kein „Prädeterminismus“ in der Hinsicht, dass „nach welchen willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründer in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unsere Gewalt ist)“. (RGV, ebd, Anm., S. 701)
b) Wenn der Begriff der Willkür durch den Begriff der Freiheit der Erkenntnis entzogen ist, heißt das aber jetzt nicht, dass die Willkür gänzlich unabhängig von einer sittlichen Ordnung wäre: „ *[3] Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorgehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde, davon kann man sich bald überzeugen, wenn man sich fragt: ob man auch gewiß und unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so große Triebfeder zur Übertretung (Phalaris licet imperet, ut sis falsus, et admoto dictet periuria tauro) durch festen Vorsatz überwältigen zu können.(…) (ebd., S. 700.701)
Weder Prädeterminismus, noch Determinismus können die freie Willkür hinreichend einsehen, das wäre „Blendwerk“. („ Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, (…) (ebd., S. 701)
c) In dieser interessanten Anmerkung kommt noch etwas vor: Einerseits kann der Grund der Willkür als freie Willkür nicht eingesehen werden, andererseits ist aber für Kant durch das Postulat Gottes (die „Idee von Gott“, (ebd., S. 701) eine zumindest transzendente Sinnhaftigkeit und Erfüllbarkeit des moralischen Gesetzes geschaffen, die jede freie, willkürliche Handlung nicht gänzlich als „zufällig“ erscheinen lässt. Die Willkür ist ja inhaltlich auf ein sittliche Ordnung hingeordnet.
8) Meine abschließende letzte Anfrage und Kritik, die aber benevolent für Kant spricht: Durch die transzendente Sinnhaftigkeit moralischen Handelns, und möglicher Auswirkung auf die sinnliche Wirklichkeit (durch das Gottespostulat und die Unsterblichkeit der Seele), ist ein intelligibler Zusammenhang aller Handlungen hergestellt, ein zeitübergreifender Zusammenhang im Guten wie Bösen in einer stillschweigend vorausgesetzten, apriorischen Sinnidee. Jede Freiheitshandlung stellt ein Verhältnis zu dieser Sinnidee her und ist nicht rein „zufällig“ zu denken – wie Kant selber sagt. (Eine bemerkenswerte Aussage, wenn auch methodisch nicht mehr eingeholt. Dies hätte ihn zur Notwendigkeit einer positiven Offenbarung führen können, zumindest zur Sicht einer Notwendigkeit von Satisfaktion und Restitution. Die positive Offenbarung nochmals unabhängig von der Sünde und der Satisfaktion und Restitution zu denken, das wäre eine Stufe höher und erforderte ein Inkarnationsdenken des Absoluten. Davon war Kant wohl noch weiter entfernt?)
„Den Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem nothwendigen Wesen, zu vereinigen, hat gar keine Schwierigkeit: weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determinirt sei), d.i. nicht im Indeterminism (daß Gutes oder Böses zu thun Gott gleich möglich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminism Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, (…)“ (RGV, ebd.)
9) Am Ende bleibt für Kant eine gewisse pädagogisch-paränetische und appellativ-asketische Rede übrig – ähnlich zu den Schlusskapiteln der KpV: Von der „praktischen Bestimmung des Menschen (und der) weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnisvermögen“ (KpV, ebd., Methodenlehre, S. 281ff)).
13) Die Aszese
Kant spricht nochmals die Unterscheidung intelligible Welt und Erscheinungswelt an, weil die Rede einer „angeborenen Verderbtheit“ (ebd. S 702) der Erscheinung nach nur zu einer „moralischen Dogmatik“ führte, aber zu keiner, wie von Kant beabsichtigt, transzendentalen (intelligiblen) Erklärung.
Zur Weckung des moralischen Handelns muss man mit dem Gegensatz beginnen:
„Denn wenn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können. Der Satz vom angebornen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborner Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht. In der moralischen Ascetik aber will dieser Satz mehr, | aber doch nichts mehr sagen als: wir können in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben.„ (RGV, ebd., S. 702)
Der Gewinn ist der Begriff der Freiheit und der Zurechenbarkeit durch die moralische Maxime und durch den Begriff der „Pflicht“:
„(…) weil die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist; aber auf den Weg, der dahin führt, und der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird, muß er hoffen können durch eigene Kraftanwendung zu gelangen: weil er ein guter Mensch werden soll, aber nur nach demjenigen, was ihm als von ihm selbst gethan zugerechnet werden kann, als moralisch-gut zu beurtheilen ist. (RGV, ebd., S. 703)
Dieses Beharren auf die eigene Erkenntnis des Guten, diese „Zumuthung der Selbstbesserung“ (ebd. S 703) und des vorgeschriebenen Solls einer moralischen Pflichterfüllung, das gibt ihm die Gelegenheit, den Begriff der Religion in zwei Kategorien einzuteilen: In die Religionen der „Gunsterwerbung (des bloßen Kultus) und die moralische, d. i. die Religion des guten Lebenswandels“ (ebd. S 703).
Er kommt auf die Konstruktion des Postulates Gottes zu sprechen (siehe analog zu KpV, ebd., Bd. VII, S. 254ff) – sodass von einer Art moralischen Religion gesprochen werden muss, die allein zulässig ist. Die Garantie der Erreichung der Glückseligkeit darf erhofft werden, aber nur unter der Bedingung der Würdigkeit.
„Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen | öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) ist es ein Grundsatz: daß ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angebornes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12-16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden.„ (ebd., S. 703)
Dieser moralische Religionsbegriff veranlasst ihn schließlich zu mehreren, religionskritischen Anmerkungen, die die eigene Zurechenbarkeit und Kraftanstrengung untergraben bzw. für unnötig erklären. Er ist gegen die „1) Gnadenwirkungen, 2) Wunder, 3) Geheimnisse, 4) Gnadenmittel.“ (ebd., S. 704), wobei er die „Gnadenmittel“ bereits zum Thema des „Ersten Stücks“ der RGV gezählt haben will, d. h. sie sind durch das moralische Gesetz überflüssig geworden. Im Vermögen der Freiheit und im freien Willen, situiert in einem reinen Gewissen, geschieht eine beständige Heiligkeit und freie Ursächlichkeit zum Guten ins Unendliche hinaus, deshalb auch die Hoffnung auf eine unsterbliche Seele, und es bedarf keiner Gnadenmittel. Es wäre praktisch ein Widerspruch, dem moralischen Tun, das auf die unbedingte Freiheit rekurriert, eine zusätzliche Gnade als Bedingung vorangehen zu lassen.
„Denn als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu thun haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten bedeutet gerade das Gegentheil, nämlich daß das Gute (das Moralische) nicht unsere, sondern die That eines andern Wesens sein werde, wir also sie durch Nichtsthun allein erwerben können, welches sich widerspricht. Wir können sie also als etwas Unbegreifliches einräumen, aber sie weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch in unsere Maxime aufnehmen.“ (RGV, ebd., S. 705)
10) Weitere Fragen
a) Es ist ein Dilemma, dass in diesem Konzept der freien Willkür und eines freien Gebrauches der Freiheit kein letzter Bestimmungsgrund angegeben werden kann. J. Noller drückt es so aus: „Durch die Postulierung eines „erste[n] subjektive[n] Grund[s] der Annehmung moralischer Maximen“ wird jedoch individuelle Freiheit zu einem Fluchtpunkt, der nicht weiter analysiert werden kann. Weil im System des Kantischen transzendentalen Idealismus nur zwei Arten von möglichen Bestimmungsgründen des Willens denkbar sind – empirisch-subjektive und rein vernünftig-objektive bleibt die spezifische Weise der „Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe“ im Dunkeln.“20J. Noller diskutiert das Problem bei Kant weiter in der noch späteren Schrift „Metaphysik der Sitten“ (1797), in der Kant um die definitive Bestimmung der Willkür ringen wird. Es gibt letztlich nur das alleinige Vermögen der Freiheit nach dem Sittengesetz zu handeln, hingegen vom Sittengesetz abzuweichen ist ein Unvermögen. Die Einschränkung des Vermögens der Freiheit im Sinne einer bösen Handlung ist eine Unfähigkeit, etwas Privatives, eine Willensschwäche. Sie kann empirisch erfahren werden, aber nicht begrifflich positiv bestimmt. Es gibt keine Vorbestimmung zum Guten (einen intelligiblen Fatalismus), aber eine gänzliche Willkür des Bösen ist letztlich ebenfalls unmöglich. Das Böse ist ein Unvermögen.21
b) Die in der RGV vorkommenden Schriftinterpretationen und generell die Sicht der Religion als „Vernunftreligion“ da muss ich immer durchatmen: Kant äußerst sich bibelkundig – und zugleich selbstkritisch, was die philosophische Lehre als eigene Disziplin betrifft gegenüber der „positiven Wissenschaft“ der Theologie. Er möchte nicht seine Kompetenzen überziehen, was eine „schlechte Figur“ für den Philosophen abgäbe (KpV, ebd. S 271, Anmerkung). Indem er aber „nur“ für eine „Vernunftreligion“ eintritt, erhebt er nichtsdestotrotz einen gewaltigen Geltungsanspruch und interpretiert die Bibel, wie er sie braucht.
Generell dieses moralisierende Seite der Religion – das ist nur eine Seite, eine eher schlechte Seite der überlieferten Religion: Der Aspekt des seelischen Trostes, der Freude, des Gottesdienstes, der Gebete, der Verkündigung, der Caritas, der Aspekt der Sakramente, der Sündenvergebung, der Rechtfertigung, die tradierte Erlösung…… das wird in den weiteren Teilen der RGV vereinzelt noch kommen, aber nicht einmal annäherungsweise ist in diesem „1. Stück“ davon die Rede. Dabei müsste gerade die Frage nach dem Bösen und nach Gut und Böse und einer Satisfaktion des Bösen und Restitution des Guten eine grundlegende Frage offen halten: Die Frage nach der Notwendigkeit einer positiven Offenbarung.
c) Es müsste jetzt historisch viel geklärt werden, wozu ich aber mangels komparativer Literatur nicht fähig bin: Was hat Kant hier zu einer so religionskritischen Schrift bewogen?
Wie er gegen die „Sterndeutung“ der theoretischen Wissenschaft war, so unterstellte er zeitweise der Religion „Schwärmerei und Aberglauben“ siehe z. B. KpV, ebd., S. 301. Er kritisierte die internen Praktiken der Evangelischen Kirchenaufsichtsbehörde (der IEK-Kommission), die pseudo-mystischen Veranstaltungen protestantischer Prägung und Geisterbefragungen bis hinauf zum preußischen König Friedrich Wilhelm II u .a. m. (Siehe Einleitung zur kommentierten Ausgabe der RGV von Brigitte Stangneth).
Somit spielen nicht nur rein denkerische Vernunftgründe a priori in das Nachdenken über die Religion hinein, sondern direkt-indirekt viele historisch-hermeneutische Bedingungen.
© Franz Strasser, 10. 8. 2023
Verwendete Sekundärliteratur:
Kommentierte Ausgabe der RGV, hrsg. v. Bettina Stangneth, Einleitung und Kommentaranhang, Hamburg 2003.
Jörg Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant, München 2015. Dort besonders Abschnitt III, Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit, S 105 -175.
Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung, Hamburg 2017
Friedo Ricken, Religionsphilosophie, Stuttgart 2003, 193-232.
Ders., Das Böse aus philosophischer Sicht. In: Das Böse und die Sprachlosigkeit der Theologie. Hrsg. v. Klaus Berger, Ulrich Niemann, Marion Wagner u. a., Regensburg 2007, 34- 42.
Albert Mues, Manuskript Christologie. Jahr?
Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit. Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes. In: KANT. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel (Hans Wagner gewidmet), Würzburg 1988, S. 127-167.
1 Siehe z.B. Einleitung und Kommentaranhang zur RGV von Bettina Stangneth, Hamburg 2003.
2Neben C. C. E. Schmid hat K. L. Reinhold schon erhebliche Einwände gegen die Moralphilosophie Kants gemacht und ein völlig neues freiheitstheoretisches Konzept von Wollen dargelegt. Siehe dazu – im Internet downloadbar: „Die praktische Vernunft ist kein Wille“. Reinholds personalitätstheoretische Kritik der Kantischen Freiheitslehre“ von Jörg U. Noller. – Link.
3Ich zitiere nach der Ausgabe W. Weischedl, Werkausgabe, Bd. VIII, 1978.2 (abk.= RGV). Zitate von Kant sind rot gesetzt. Wenn nicht anders angegeben, sind alle kommenden Hervorhebungen in den Zitaten von mir gesetzt; Hervorhebungen bei Kant sind kursiv.
4Für die Lektüre der RGV war für mich sehr hilfreich ein Artikel von Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit, 1988, Download im Internet. Es handelt der Aufsatz nicht von der RGV, aber für die Moralbegründung und als kritische Folie der Morallehre Kants fand ich dadurch einen gewissen Maßstab.
5Kant, GMS, Akad. Ausgabe, IV, 448, 4-9, zitiert nach B. Grünewald, ebd. S. 137.
6Berühmt sind wohl diese Worte zu Beginn der GMS: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (GMS, ebd., S.18)
7J. Noller, Die Bestimmung des Willens. Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant. München 2015, S. 191.
8Ich möchte nicht gleich am Anfang frontal gegen Kant ansetzen, ehe ich nicht seine Begriffe verstanden habe, aber die Kritik von A. Mues, die ich zufällig gelesen habe, kommt mir überzeugend vor. Ich bringe sie hier in Fußnote:
„ (…) Für Fichte, salopp gesagt, (ist die praktische Philosophie Kants) eine sportliche Leistung. Fichte misshagt daran, dass nach Kant der Wille stets gedoppelt sein muss, um sich seiner selbst und seiner Freiheit praktisch und theoretisch präsent zu sein. Denn ich könne, so Fichtes Vorwurf, überhaupt nicht gedoppelt wollen, wäre mir nicht zuvor bewusst und intentional klar, dass ich dieses gedoppelte Willensangebot als Voraussetzung für freies Handeln gar nicht voraussetzen kann und auch nicht voraussetzen will. Ich will gar nicht aus Anlass dieses Spagats frei sein. Die praktische Anschauung in den Willen oder vielmehr der Wille selbst – und das heißt praktisch anschauen – ist unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit des Willens kann nicht durch einen solchen Spagat vermittelt sein. Gelingt mir willentlich dieser Zugang zu – gleichsam – dem Zentrum des Wollens selbst, und der kann stets gelingen, und lasse ich mir ihn nicht durch die Neigung verstellen, so will ich dieses Wollen, und so will ich nichts anderes als das Wollen qualitativ selbst. Und dieses Wollen ist identisch mit dem, was bei Kant das Sitten”gesetz” ist; es ist die Sittenverheißung selbst. Das ist – nach Fichte – der Standpunkt der höheren Moral, der höheren Sittlichkeit. Ich und das Sittengesetz wollen dasselbe.“ (Manuskript A. Mues, „Christologie“; meines Wissens unveröffentlicht?)
9Zitiert nach B. Grünewald, ebd.. S. 144, GMS IV 454,21-26
10Auf der erstklassigen Blogseite zur Philosophie fand ich bei Dr. Jörg Nöller folgende Zusammenfassung zu „Kant und das Böse“ (Internet, Juni 2022): http://philocast.net/zusammenfassung-kant-ueber-das-boese „Der Mensch nimmt nach Kant sowohl das Prinzip der Selbstliebe wie auch das Sittengesetz in seine Maxime auf. Ob er gut oder böse handelt hängt davon ab, in welches Verhältnis er beide bringt: Ordnet er seine Individualinteressen dem Sittengesetz über, oder ordnet er sie ihm unter. Entscheidend für die moralische Bewertung einer Handlung ist also nicht die Frage, ob der Mensch seine Eigenliebe oder das Sittengesetz in seine Maxime aufnimmt (es kommt nicht auf die Art der Triebfeder an), sondern auf das Verhältnis bzw. die Ordnung zwischen beiden. Der Mensch handelt dadurch böse, dass er die moralische Ordnung umkehrt: nicht mehr steht das Sittengesetz an oberster Stelle, sondern nun seine Selbstliebe.“
11Um auf eine transzendentale Erklärung zu den Bestimmungen von Gut und Böse hinzuarbeiten, sieht Kant sich hier gleich genötigt, gegenüber „Prof. Schiller“, auf den rigorosen Pflichtbegriff hinzuweisen. Zum genauen Einwand SCHILLERS und dessen Argumentation – siehe ebenfalls J. Noller u. a. Literatur.
„Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Anmuth beigesellen kann. Denn er enthält unbedingte Nöthigung, womit Anmuth in geradem Widerspruch steht. Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein (nicht Scheu, welche zurückstößt, auch nicht Reiz, der zur Vertraulichkeit einladet), welche Achtung des Untergebenen gegen seinen Gebieter, in diesem Fall aber, da dieser in uns selbst liegt, ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt, was uns mehr hinreißt als alles Schöne.“(RGV, ebd., S. 669)
12Es gibt viele Stellen in der GMS oder in der KpV, die eine Unabhängigkeit der Willensbestimmung von der sinnlichen Natur fordern bzw. von der Vernunft als alleinigen Prinzip der Selbstbestimmung sprechen. Siehe z. B. GMS: Man könne sich „unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben“ (GMS, zitiert nach B. Grünewald, ebd. S 137); oder siehe z. B. KpV: „§ 8 Lehrsatz IV. Die Autonomie des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anders als das Object einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem Princip einer reinen praktischen Vernunft, hiemit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte. (KpV, Ausgabe Weischedel, Bd. VII, S. 144f)
13Zur „Persönlichkeit“, zur „Würde“ – siehe sehr schön und stark die Kapitel in der KpV „Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“, Bd. VII, ebd. S. 191 – 212; oder siehe dort zum Begriff „Persönlichkeit“ (ebd. bes. S. 211); „Persönlichkeit“ als Erkenntniskategorie der Freiheit (ebd. S. 185).
14Vgl. J. Noller, Bestimmung des Willens, ebd. S 201. In der KpV hat Kant die „Persönlichkeit“ in Hinblick auf eine Autonomie-Lehre schon beschrieben; jetzt in der RGV wird der „Persönlichkeit“ das zusätzliche Können und das Vermögen individueller Willkür eingeräumt – wenn auch nicht ein Vermögen, sogar prinzipiell gegen das Vernunftgesetz verstoßen zu können und das Böse zu wollen.
15Den Zusammenhang einer naturalen Prädisposition durch Triebfedern – und doch einer unabhängigen, transzendentalen Freiheit des Wollens, das hat m. E. erst Fichte mit seinem Trieb-Begriff hinreichend dargestellt. Die Freiheit ist durch den Trieb zwar natural inkliniert, aber nicht nezessitiert. Fichte spricht ähnlich von einem formalen Verhältnis zu einem Unbedingten des Guten, von einem Streben, und einem darin liegenden Antagonismus des Triebes, das Ganze stets zu wollen, aber nur immer einen Teil ipso facto zu erreichen. Erst in der bedingungslosen Integration und Bejahung eines durch sich selbst bestimmten Willens käme der Trieb an sein Ziel.
Dieses Streben bei Fichte ist m. E. anders zu sehen als das Vermögen der Vernunft bei Kant: Dort gibt es zwar auch die Freiheit des Könnens zum Sittengesetz und die darin liegenden Möglichkeit eines kategorischen Imperativs, aber das Vermögen der Vernunft ist erkenntniskritisch durch Einbildungskraft nicht gesichert.
Siehe schon das kreative Weiterdenken der praktischen Vernunft über Kant hinaus bei Reinhold, der den Willen für das verantwortliche Handeln von Gut und Böse herausarbeitet, nicht bedingt durch eine verstandliche Autonomie des Sittengesetzes. Siehe schlussendlich der ganze Aufbau der praktischen Vernunft bei Fichte: Literatur siehe: Ivaldo, Marco (2010): „Zwei Wege der Kantischen Praktischen Vernunft: Reinhold und Fichte“, in: George di Giovanni (Hrsg.), Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment. Heidelberg u. a., S. 181-193.
16J. Noller beurteilt diese Sicht der freien, aktiven „Annehmung“ des Bösen in der RGV nicht im Sinne früherer Privationsformen des Bösen, d. h. dass das Böse nur ein Ungenügen, ein Abirren des Willens vom guten Prinzip sei, sondern durchaus neuartig als aktives Bevorzugen einer Regel des Gebrauches der Freiheit zum Bösen hin – später „Vernünfteln“ genannt. Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung, Hamburg 2017, S 59f.
„Durch das aktive Moment der »Aufnehmung« konzipiert Kant eine zugleich effektive und perversive Theorie des Bösen, welche im Gegensatz zur Tradition der Privationstheorien steht. Das Böse wie das Gute sind nun beides autonome Produkte aktiver Formursachen, die sich willentlich gegenüber der Forderung des Sittengesetzes behaupten wollen.“ Natur und Vernunft müssen im reflexiven Akt der Willensbildung zusammengeführt bzw. „in einer Maxime »inkorporiert« werden“. In: Theorien des Bösen, ebd. S 59 u. 60.
17Meine Sicht: Die ganze bibeltheologische Sicht von Gen 2 (Erschaffung des Menschen) und Gen 3 (Sündenfall) kann und muss in seiner ganzen Kontextualisierung viel tiefgründiger verstanden und ausgelegt werden als es Kant hier tut. Es geht nicht um eine moralische Verfehlung im engeren Sinne, auch nicht um ein apriorisches Missverhältnis vorgezogener oder nachgereihter Maximen, ob die Triebfeder der Sinnlichkeit oder die Triebfeder des moralischen Gesetzes richtig priorisiert und ins Verhältnis gesetzt worden sind, vielmehr wird ja in Gen 2 und Gen 3 die sinnliche wie intelligible Seite der menschlichen Natur in ihrer ganzen, umfassenden Befindlichkeit angesprochen. Der Mensch als Mann und Frau ist im Garten Eden dazu bestimmt und dazu begnadet, auf Gottes Weisheit zu hören und vernunftgemäß den Garten zu bebauen. Der Mensch, als Gattung gesehen, täte aber gut daran, seine Kompetenzen nicht zu überziehen und sich selbst nicht zu überschätzen, wenn er die Quelle der Lebens und der Schöpfung vergäße. Er überschätzt sich aber, wenn er meint, keine Grenzen mehr einhalten zu müssen. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ warnt ihn. d. h. Gottes Wort, vor seiner eigenen Überheblichkeit und Hinfälligkeit, Verlorenheit und Vergänglichkeit. Der Baum der Erkenntnis ist nicht zuerst das Symbol des moralischen Gesetzes eines allgemeinen Pflichtbewusstseins, sondern existentielle, anthropologische Beschreibung des prekären Zustandes der menschlichen Natur überhaupt. Der Baum der „Erkenntnis von Gut und Böse“ wird zwar rational in Gen 3 vom „Baum des Lebens“ unterschieden, zugleich ist er aber auch der „Baum des Lebens“ in der Mitte des Gartens, den Gott für ihn gepflanzt hat – und weiterhin dort steht, auch nach der Vertreibung aus dem Paradies. Gen 3 ist eine vernunftkritische, apriorische Geschichte. Der Mensch in seiner ganzen endlichen, zerbrechlichen Natur ist vor die innere Alternative gestellt, an die gute Absicht Gottes mit dem „Baum des Lebens“ zu glauben, oder im „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ ein Phantom zu erkennen, dass Gott es nicht gut mit ihm meint. Die Geschichte geht ja subtil so weiter, dass der Mensch zu zweifeln beginnt und vor lauter Verführung und Versuchung plötzlich zweifelt an Gottes guter Absicht und nur mehr alleinig Verbote und Einschränkungen sieht. Der böser Geist verführt ihn sukzessive zum Zweifel und zur Angst. Hilflos rezitiert die Frau noch die guten Gebote Gottes, die unendliche Freiheit von allen Bäumen des Gartens zu essen, aber die Angst und das Misstrauen hat sie und beide (inklusiv Adam) schon zutiefst erfasst. Der Baum der Erkenntnis verschwimmt zur Begehrlichkeit und zum tückischen Gesetz Gottes selbst. Er hat sich verwandelt zu einem Misstrauen gegenüber Gottes Güte und Wohlwollen. Alles ist verloren durch Missverstand, Angst, Unkenntnis, nicht durch Übertretung eines moralischen Gebotes bzw. einer falschen Maximierung einer freien Willkür, wie Kant das liest. Ja, Gott selbst wird zum Grund der Versuchung stilisiert, weil er solche Gebote erlässt, ja weil er die Versuchung sogar zulässt. Die krausen Deutungen dieser Geschichte bei Hegel u. a. sind ja bekannt. Da ist ja Kant noch harmlos.
18Weil Kant sich zur positiven Offenbarung nicht eindeutig erklären will, wird ihm der Begriff der „Revolution“ im Text selbst etwas verschwommen: Hier auf Seite 699 hat es den Anschein, dass nur vor Gott, d. h. mit Gottes Hilfe, diese „Revolution“ möglich ist; ein Stück weiter oben (ebd., S. 698) geht Kant von der in der Vorstellung des Pflichtbegriffes liegenden Möglichkeit der „Revolution“ aus, also im Vernunftvermögen selbst liegend. Zumindest ist dort von keiner göttlichen Begründung die Rede!? Siehe auch die Notwendigkeit eigener Kraftanstrengung weiter unten S. 703 („durch eigene Kraftanwendung“) – und nicht durch göttliche Gnade und Hilfe.
19Bei Fichte läuft es andersherum. Aus einer absoluten, göttlichen Aufrufsituation und vielfältig-medialen und kommunikativen Vermittlungen von Interpersonalität folgt logisch-praktisch ein Gesetz der Gerechtigkeit und des Rechts, wenn man so will, als „Achtung des Gesetzes“ abstrahierbar, aber beginnend mit der interpersonalen Welt.
20J. Noller, Bestimmungsgrund des Willens, ebd. S . 204. „Die einzige Möglichkeit, den Grund freier Willensbestimmung zu erkennen, besteht im Bereich des moralisch Guten durch das Sittengesetz – dies war das Programm einer Kritik der praktischen Vernunft gewesen. Gründe für moralisch böse Handlungen hingegen entziehen sich prinzipiell weiterer Einsicht.“, ebd. S 205.
21Bei J. Noller, siehe ebd. S. 272- 281.