J. S. Mill, Utilitarianism – Der Utilitarismus, 1861. 1 Kapitel

Vorbemerkung 1

Ich ging stets mit großem Vorurteil an den „Utilitarismus“ heran. Was versteht J. S. Mill unter „Utilitarismus“? Wie sieht er das „Glück“, die „Glückseligkeit “?
Abgesehen jetzt von dem immer zweifach zu lesenden Wort GlĂĽck (happiness), a) als gĂĽnstiger Zufall, und GlĂĽck als
b) Glückseligkeit, als innere Erfahrung, gibt es m. E. wirklich viele Missverständnisse und begriffliche Verwirrungen, die um den „Utilitarismus“ kreisen. (Um die Zweifachheit von Glück auszudrücken, schreibe ich es mit einem Schrägstrich verbunden: Glück/Glückseligkeit .)

1) Ich will die kleine Schrift „Utilitarismus“ von J. S. MILL transzendental-kritisch lesen, d. h. nach den Kriterien fragen, wie und warum verwendet J. S. Mill diese oder jene Begriffe und sind sie zurecht gesetzt?  

J. S. Mill fällt durch  seine empiristische Prägung leider in manche begriffliche Schlaglöcher, die nichts erklären, glänzt aber dann wieder in der Herausarbeitung von Begriffen, die sich wechselseitig aus dem reellen Streben und der Glücks/Glückseligkeitserwartung ergeben. Es sind Begriffe, die keinesfalls von niederer, hedonistischer Sinnlichkeit sind, die dem Utilitarismus gerne unterstellt werden, im Gegenteil, gerade höchste, moralische Rechte und Pflichten werden herausgearbeitet, der in den Formverwandlungen des reellen Strebens liegen. Das hat für mich die Lektüre wirklich spannend gemacht.  

Es kommt durch den Zielbegriff des Glücks/der Glückseligkeit einerseits, und dem reellen Streben danach andererseits, zu einer fruchtbaren Wechselseitigkeit und Wechselwirkung, die genetisierte Begriffe schaffen, die uns meist von ganz anderer Seite bekannt sind. Siehe z. B. den Begriff des Willens, des Gewissens, der Gerechtigkeit, des Nutzens. Die Begriffe werden genetisch aus dem reellen Streben und der Glückserwartung deshalb eingesehen, weil sie einem transzendentalen Prinzip folgen, d. h. eine Letztbegründung suchen. Sofern der Begriff Glück/Glückseligkeit in einem kategorischen Sinne einer interpersonalen Anerkennung von gemeinsamen Verstehen (siehe dann 2. Blog dazu) und Gerechtigkeit (siehe 5. Blog) situiert wird, möchte ich von einer transzendentalen Reflexion sprechen, weil auf eine finale Letztbegründung ausgegangen wird.

Mit der Bezeichnung „utilitaristisch“ vertut sich leider J. S. Mill immer wieder die Chance, eine moralische Letztbegründung zu erreichen, die ihm stillschweigend aber vorschwebt. Ihm fehlen hier die adäquaten Begriffe und Anschauungen?

Anders gesagt: Die angestrebten Begriffe in der Vermittlung von Streben und GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit stellen sich oft als moralische! Vermittlungswerte heraus, werden aber im selben Atemzug wieder entwertet zu bloĂź sinnlichen Werten, sobald von dem schillernden Begriff GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit gesprochen wird.

Ebenso wie der Begriff GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit ist der Begriff „Nutzen“ verrufen. Es kommt auf den Gebrauch an: In ihm liegt die wertvolle Präsupposition, dass individuelles wie allgemeines Wohl – vom sinnlichen GefĂĽhl angefangen bis zum höheren Streben einer Ăśbereinstimmung im interpersonalen Verstehen und Lieben, im Gewissen und in der Gerechtigkeit – objektiv und rational benennbar, messbar, bestimmbar und realisierbar sein sollen. Es geht keineswegs bloĂź um individuelles, egoistisches GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit, um egoistische NĂĽtzlichkeit,  sondern ein  Endzweck von Wert, Sinn, qualitativer FĂĽlle des Seins, sowohl fĂĽr den einzelnen wie fĂĽr möglichst viele (im Sinne von „fĂĽr alle), soll durch „Nutzen“ rein äuĂźerlich beschrieben (nicht begrĂĽndet) und bestimmt werden.

Anders gesagt: Die Theorie des GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit, wie in diesem Heftchen beschrieben, ist nicht schon gefallene Begrifflichkeit und faktische Entscheidung, sondern eröffnete Entscheidbarkeit und Bestimmbarkeit, wie im Laufe des Handelns und der Regulation der Begriffe das größtmögliche GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit fĂĽr möglichst viele von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit realisiert und bestimmt werden kann. Das reelle GlĂĽcksstreben ist ausdrĂĽcklich akthaftes Erkennen  von qualitativem Wert und Sinn – und dies reflektiert auf alle Anwendungs- und Realisierungsbedingungen hin.  

Gerade in der Herausarbeitung einer Theorie der „Moral der Nützlichkeit“ (siehe dann 5. Kapitel) kommt es nicht zu einer apriorischen Definition von  Sittlichkeit und was Gut und Böse heißt, sondern die Folgeerscheinungen, und das heißt wohl auch Messbarkeit, werden im Streben reflexiv genetisiert und gedacht, sodass eine immer stärkere inhaltliche Evidenz des Strebens erreicht werden kann, keinesfalls nur eine sinnlich-hedonistische Konsequenz.    

2) Die Methode (a), die Begriffe (b), die Rechtfertigung c) – das sind meine grundlegenden Kriterien dieser Lesung von „Utilitarianism/Der Utilitarismus“.

Mills Methodik (a) ist, wie möchte ich sagen, induktiv und intuitiv. Er ist sehr belesen und historisch gebildet, macht viele Anspielungen und Querverweise zu anderen Moraltheorien. Es liest sich manches weitschweifig, wenn aber notwendig, wird Mill in seiner Begründung und Definition kohärent und konsistent.

Ein transzendental-kritisches Aufsuchen der Begriffe führt von selber zu einem Weitergehen, bis eine analytisch-synthetische Letztbegründung des Handelns im reellen Streben erreicht ist. Wäre Mill nicht so stark von der angelsächsischen Tradition des Empirismus geprägt gewesen, hätte er erkenntniskritisch einen besseren Begriff für Glück/Glückseligkeit gewählt!(?) Oder war es gerade das, weil er so empiristisch geprägt war, dass er die Anwendungsbedingungen so stark einbeziehen konnte, also auch wieder transzendentale Anwendungsbedingungen des reellen Strebens reflektierte?! 

Zu den Begriffen (b) : Sie betreffen primär nicht einen theoretischen, naturwissenschaftlichen oder ästhetischen Bereich der Anschauungen, sondern betreffen die Analyse und Synthese individueller und gesellschaftlicher Erfahrungen, betreffen die Begriffe von Recht, Tugend, Gewissen, Gerechtigkeit, Sicherheit, Moral, mithin Begriffe von objektiven Werten unter reellen Anschauungsbedingungen.

Zur Rechtfertigung c) : Das BĂĽchlein „Utilitarianism“ entspricht m. E. der klassischen Aufgabe der Philosophie, eine begriffliche Durchdringung der Wirklichkeit zu leisten, d. h. hier der rechtlichen, moralischen und politischen Wirklichkeit  – und deren Erkenntnisprinzipien darzustellen – bis eine schlĂĽssige SystembegrĂĽndung erreicht ist.

3) In der Lektüre von „Utilitarismus“, so wird jeder/jeder Leser/in bald feststellen, geht der Weg im reellen Glücksstreben steil hinauf zum Altruismus und zur Idee der Gerechtigkeit und Sicherheit von allen für alle zu jeder Zeit. Die einzeln herausgearbeiteten Begriffe wie Wille, Gewissen u. v. a., sie entstammen einer originär-konsequenten, ungewohnten Herleitung, und betreffen immer eine rechtliche und interpersonal-moralische Wirklichkeit, eine qualitative Fülle des Seins. 

4) Ich zitiere hier zuerst eine Kritik des Utilitarismus nach R. Lauth aus dem Philosophieunterricht der 80-iger Jahre: Diese Kritik ist zutreffend, würde ich den Begriff „Nutzen“ nur als Mittel egoistischer Interessen sehen, abgekoppelt von jedem Weg seiner analytisch-synthetischen Ableitung.

Aber so versteht m. E. J. S. MILL den Begriff „Nutzen“ nicht. Er ist bei ihm eine Funktionsbeschreibung eines analytisch-synthetischen Denkens, ein Handeln, wie das reelle Streben einerseits und das GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit andererseits begrifflich festgestellt werden können. Was ist in diesem oder jenen Fall von Nutzen ist und in welchem AusmaĂź (Quantität)  – das ist sicherlich kein tiefgrĂĽndiges Reflektieren ĂĽber Werte oder Zweckdenken, sondern eine mathematische Funktionsbeschreibung eines Wertes fĂĽr den einzelnen wie fĂĽr die Menschheit im Ganzen – aber mehr an BegrĂĽndung wĂĽrde ich dem Begriff „Nutzen“ gar nicht zubilligen,  nur einen Funktionswert, eine mathematische Messbarkeit. 

R. Lauth, der einen sagenhaften Philosophieunterricht vortrug, hielt dem „Utilitarismus“ entgegen (Aus einem eigenen Skriptum):

“[….] „c) Der Utilitarismus sagt: Es soll dasjenige sein, was ein geeignetes Mittel für meine Zwecke ist. Das Nützliche soll sein. Nimmt man diesen Gedanken unter die Lupe, so sieht man: Ich kann nicht sagen, das Nützliche an sich soll sein, denn das Nützliche ist nur ein Mittelbegriff. Nützlich ist immer nur etwas für etwas anderes. Das Nützliche verweist aus sich immer auf Zwecke, deshalb kann es nie Endzweck sein. Man kann auch nicht sagen, das Nützliche soll sein, denn es verweist immer auf etwas anderes. Also: Prinzipielle Unhaltbarkeit des Utilitarismus, weil das Nützliche wieder auf einen Zweck verweist.
d) Man könnte aber sagen, es geht uns um Zwecke. Sieht man aber auf diese, so zeigt sich: Wir haben Zwecke, die ihrerseits für uns wieder Mittel sind. Z. B. ein Straßenbau – die Straße ist wiederum Mittel usw. Wir müssen also bei den Zwecken mindestens weitergehen auf Endzwecke. Denn was nur Mittel-Zweck ist, ist Zweck für noch untergeordnetere Mittel, seinerseits aber wieder Mittel für andere Zwecke. Die Frage verschiebt sich auf die
Endzwecke.
e) Sieht man nun auf diesen Endzweck (z.B. der Endzweck allen Lebens ist, ich will genieĂźen), dann zeigt sich, dass alles, was wir im Endzweck realisieren wollen, zwar auch ein Sein ist, aber der Grund dafĂĽr, dass wir diesen Endzweck wollen, liegt nicht im Sein. Das Sein ist nach Abzug der Wertseite indifferent. Wenn wir wollen, dass etwas sei, so ist es der
Wert, der für uns das Sein wertvoll macht. Der Endzweck ist daher Sache des Wollens, nicht eine bloße faktische Beschaffenheit. Er ist es, der uns ein Sein wert macht, und das, was macht, dass es uns wert ist, ist der Wert. Bei der Konstitution des Seinsollens geht es also darum, dass Werte realisiert werden sollen. […]“ (Skriptum, 80-iger Jahre)

5) Meine Sicht jetzt: a) Wenn ich das Wort „Nutzen“ tatsächlich so gebrauche, wie es wörtlich Prof. Lauth verstand, Nutzen= das Mittel soll sein, das Mittel ist Wert und Zweck,  das Mittel  ist Endzweck. Aber so wird J. S. Mill den Nutzen nicht verstehen, im Gegenteil und ganz ähnlich zur Diskussion bei R. Lauth: Der Endzweck des GlĂĽcks/der GlĂĽckseligkeit soll erreicht werden – was natĂĽrlich jetzt auch provoziert!  – mittels der Kategorie und Funktion (der mathematischen Vorstellung einer Einheit) des Nutzens.

Der Nutzen-Begriff bleibt bezogen auf das Maß des Glücks/der Glückseligkeit und ist in gewissem Sinne auch eine dynamische Einheit der Vorstellung, mithin ein hypothetischer Imperativ, für möglichst viele Menschen ein größtmögliches Glück/Glückseligkeit rational und pragmatisch zu erreichen.

Die Moralität eines Wertes liegt nicht im Nutzen-Begriff selbst, vielmehr liegt der Wert und der Endzweck im (vielschichtigen)  „GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit“ – und fĂĽr ihn intuitiv, in der Vernunft – ich wĂĽrde sage, in einem gewissen Sinne transzendental – einsehbar von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit. 

Es gibt wohl viele historische Gründe, warum J. S. Mill diese Theorie des Utilitarismus vertreten hat, aber psychologisch würde ich unterstellen, dass Mill die rein apriorischen und vernunfttheoretischen Begründungen von Moral und Gesetz, oder autoritäre oder religiöse Begründungen, zu schwach und wirkungslos empfunden haben muss, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen.

So verlässt er sich lieber a) auf das reelle Streben, und b) auf den Begriff einer gewissen Evaluierung (Nutzen) von GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit – und inwieweit  dadurch die Rechte und Freiheiten des Menschen anschaulich werden können, die apriorischen Werte, die in der europäischen Moraltradition hervorgehoben worden sind – und ihm vielleicht abstrakt erschienen!?  2

Vergisst man  hingegen den transzendentalen Endzweck alles reellen Strebens, werden solche Begriffe wie   „soziale NĂĽtzlichkeit“ oder „Nutzen“ zu Selbstzwecken – und natĂĽrlich fĂĽr Missbrauch im schlimmsten Sinne anfällig. In manchen  Ethikvorlesungen werden  z. B. konstruierte Fälle genannt:  Es können z. B. mehrere Menschen gerettet werden, indem man eine Person tötet. Ist dies aus utilitaristischer Sicht geboten? Oder anderes Beispiel: Das maximierte GlĂĽck aller, wie es gemeinhin der Utilitarismus fordert, kann dazu fĂĽhren, dass Minderheitenrechte beschnitten werden.

Viele Beispiele werden als utilitaristisch im schlechten Sinne dargestellt, gehen aber an den genetisierten Vernunftformen aus dem reellen Streben, wie sie Mill immer mehr herausarbeitet, vorbei.  Der Utilitarismus behauptet gerade nicht eine Beliebigkeit von Rechts- und Moralbegriffen, die frei verhandelt werden könnten, sondern eine Applikationsordnung von Begriffen, die für sich gegliedert sind: Gewisse Rechte sind unverhandelbar, so z. B. die Sicherheit jedes einzelnen, gewisse andere Rechte und Werte sind rational-pragmatisch verhandelbar. Die konstruierten ethischen Konflikte treten erst dann auf, wenn die Begründung aus dem Kontext und aus einem genetisch einsichtigen Geltungsgrund verloren gegangen sind. 3

Die „eudaimonia“ (GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit) hat neben dem „Nutzen“ leider ebenfalls einen schlechten Leumund in der Philosophiegeschichte bekommen. Siehe dann später eine Herleitung nach Kant und Hammacher. 

Ich lese das reelle Streben nach Glück/Glückseligkeit aus der Perspektive a) eines substantiell jedem Vernunftwesen bereits zukommende Recht an Freiheit und Würde und b) aus der Perspektive eines ganzheitlichen Strebens des Vernunftwesens, wozu sinnliche Begierden und Neigungen und geistige Freuden und interpersonales Verstehen und sogar transzendente Hoffnungen in einem integrativen Ganzen  zusammengehören.  

Kant versagte dem Begriff Glückseligkeit alle gesetzliche Moralbegründung. Indirekt kam er aber ohne notwendiges Denken eines geforderten „höchsten Gutes“, oder manchmal auch Glück/Glückseligkeit genannt, als Folgewirkung und sogar als moralischer  Pflichtbegriff, nicht aus. Sobald von der „Maxime“ der Gesinnung zur „Maximierung“ einer Handelslogik übergangen werden sollte, musste zwangsläufig die Glückseligkeit und das „höchste Gut“ in das Denken einbezogen werden, wenn auch dann verschachtelt nur als Konsequenz gedacht.4

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1. Kapitel (Ausgabe Reclam, ebd. S 7)

Eine starke Ansage wird gleich zu Beginn getätigt: Was ist das Kriterium von Recht und Unrecht?
Es herrscht nach Mill große „
Verwirrung und Unsicherheit“ (ebd.), was die Erkenntnisgründe guten Handelns betrifft.

1. Kap., Allgemeine Bemerkungen: „In kaum einem Punkt entspricht der gegenwärtige Stand der menschlichen Erkenntnis so wenig den Erwartungen, zu denen man sich berechtigt glaubte, und nichts ist so bezeichnend für die Rückständigkeit, in der sich die Auseinandersetzung gerade mit den wichtigsten Problemen der Philosophie befindet, wie der geringe Fortschritt auf dem Weg zu einer Lösung der Streitfrage, welches das Kriterium von Recht und Unrecht ist.“ (ebd. S 7)

Das „Prinzip der Nützlichkeit (principle of utility) oder, wie Bentham es später gesagt hat, das Prinzip des größten Glück, (greatest happiness) (hat) einen bedeutenden Anteil an den Morallehren selbst derer, die ihm verächtlich alle Verbindlichkeit absprachen.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 13f)

Wie begründet  MILL dieses Prinzip des Nutzens? Der Gedanke des Nutzens kann im obigen Sinn a) des bloßen Buchstabens verwendet werden,dass es selbst ein Wert sei, ein deduktives Prinzip, aus dem gefolgert wird.

Mill drückt sich hier etwas zweideutig aus, obwohl er gerade Missverständnisse vermeiden will.

Das Nutzen ist aber, so lese ich das durchgehend, b) nur Mittel der Beschreibung, Funktion, Tätigkeit, um das wirkliche Sehen des Vernunftwesens analytisch-synthetisch auf der Basis des reellen Strebens und der reellen Anwendungsbedingungen besser zu verstehen und zu explizieren von allen für alle zu jeder Zeit.

MILL lässt bald durchblicken, dass a) das GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit in einem interpersonalen Verhältnis besteht – also bereits weit weg von jedem nur sinnlichen Verständnis oder jedem Hedonismus liegt – und b) GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit wird durch sein/ihr Gegenteil, d. h. durch ein Widerfahrnis von Hemmung und Ungerechtigkeit, praktisch-dynamisch bestimmt und gemessen.

„Es gibt keine Denkrichtung, die nicht zugesteht, dass die Bedeutung einer Handlung für die Glückseligkeit (happiness) in vielen Anwendungsgebieten der Moral eine wesentliche und sogar vorrangige Rolle spielt, wie wenig sie auch gewillt ist, in ihr das Grundprinzip der Moral und die Quelle aller sittlichen Verpflichtungen zu sehen. Ja, ich würde noch weiter gehen und behaupten, dass zumindest jene Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig halten, auf utilitaristische Argumente nicht verzichten können.“(Hervorhebung von mir, ebd. S. 15)

Ziemlich vernichtend fällt die Kritik MILLS an KANTS Formel des „Kategorischen Imperativs“, aus, der in der GMS (1785) und KpV (1788) als Tauglichkeitskriterium innerer Gesinnung und Moralität eingefĂĽhrt worden ist. Damit könnten zwar logische WidersprĂĽchlichkeit der „unmoralischsten Verhaltensnormen“ aufgedeckt werden, aber auf „groteske Weise“ können diese „unmoralischsten Verhaltensnormen“ gerade nicht verhindert werden, weil die inhaltliche GlĂĽck- und GlĂĽckseligkeitsvorstellungen als MotivationsgrĂĽnde gar nicht einbezogen werden. Der Kategorische Imperativ ist immer nur negatives Kriterium der Zulässigkeit einer bereits gefällten moralischen Entscheidung – „dass jedermann von ihnen (d. h. vor unmoralischen Folgen) verschont bleiben wollte“ – hilft aber nicht, die moralische Entscheidbarkeit fĂĽr das Gute bzw. fĂĽr GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit im vorhinein und kreativ-schöpferisch zu eröffnen und zu erkennen.

„Aber ich kann nicht umhin, zur Veranschaulichung meiner These auf eine systematische Abhandlung eines der größten unter ihnen zu verweisen, auf Kants Metaphysik der Sitten. Dieser außerordentliche Mann, dessen Gedankengebäude noch lange Zeit als einer der Höhepunkte in der Geschichte des philosophischen Denkens gelten wird, stellt in der genannten Abhandlung einen allgemeinen Grundsatz als Ursprung und Prinzip aller sittlichen Verpflichtung auf, nämlich: »Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann«. Sobald er es jedoch unternimmt, aus dieser Regel einige konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise der Nachweis, dass darin, dass alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische (oder auch nur physische) Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist lediglich, dass die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, dass jedermann von ihnen verschont bleiben wollte.“ (ebd. S 15, Hervorhebung von mir)

Die kantische Maxime allgemeiner Gesetzgebung und die Tauglichkeitsprüfung eines „Kategorischen Imperativs“ gehen zu keiner Erlaubnis über, d. h. zu keinen reellen Anwendungsbedingungen von Recht und Gerechtigkeit. Es fehlt der Übergang und die Konsequenz. 5

(MILL hätte vielleicht mit einer, natürlich erst gut 80 Jahre später zusammengestellten, dynamischen Interpretation der MASLOWSCHEN Bedürfnishierarchie Freude gehabt, was die Menschen so alles an Bedürfnissen mitbringen, angefangen von psychologischen, physiologischen, sozialen Bedürfnissen bis zur Selbstverwirklichung hinauf. Diese psychologischen Tafeln haben aber  m. E. den Nachteil, dass sie die Kraft des Zusammenhangs eines integrativen Ganzen der Bedürfnisse und den ideellen, vereinenden Glück ihrer Zusammengehörigkeit nicht aufzeigen können. Sie erreichen nicht die Einheit einer durchgehenden Begründung, wie sie J. S. Mill mit seinem reellen Streben schafft. Die Klassifikationen der Psychologie mögen zwar richtig etwas beschreiben, aber ihr genetischer Zusammenhang, kann er aus einem theoretisch-praktischen Akt des Handelns und aus einem Prinzip abgeleitet werden wie bei Mill oder bei Fichte? 6)

J. S. MILL argumentiert begriffsscharf und logisch: Das, was keines Beweises möglich ist, weil es um seiner selbst willen gewollt wird, d. h. das, was Selbstzweck ist, das reelle Glücksstreben – eigentlich ganz ähnlich das Streben nach dem Guten wie bei Aristoteles oder die Idee des Guten bei Platon, die sowohl Wahrheit bietet wie die Erkennbarkeit der Wahrheit.

„Es versteht sich, dass dies (sc, das Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit , nach einem allgemeinen Guten) kein Beweis im gewöhnlichen und populären Sinne des Wortes sein kann. Fragen nach letzten Zwecken sind eines direkten Beweises nicht fähig. Wenn von etwas gezeigt werden kann, dass es gut ist, dann nur dadurch, dass man zeigt, dass es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem ohne Beweis zugegeben wird, dass es gut ist. dass die ärztliche Kunst etwas Gutes ist, ist dadurch bewiesen, dass sie der Gesundheit dient – aber wie will man beweisen, dass Gesundheit etwas Gutes ist? (Hervorhebung von mir, ebd. S 17)

Mit Fichte analysiert: Der eigenständige, spontane Tatzusammenhang der Einbildungskraft ist stets vorbestimmt und triebhaft vorgegeben, sobald auf etwas bezogen wird, hier auf das reelle Glücksstreben.

Die vernunfttheoretische Gesamteinordnung muss erst folgen, was Glück/Glückseligkeit wirklich ist. Das wäre dann der Gedankenzusammenhang in einer begrifflichen Erkenntnis. Der vernünftige Gedankenzusammenhang ist dann Bild-Wirklichkeit, Aussage, als Bild sich bewährend in einem Ausgesagten der Bild-Wirklichkeit, als Natur, als Logos, als Geschichte und als Sinnidee.

Transzendental gesehen wären die spontane Naturwirkung, der Trieb des reellen Strebens und der Begriff des Glück/der Glückseligkeit keine Gegensätze, im Gegenteil, ein genus auf der Stufe der Natur. Leider holen hier J. S. Mill die Fallstricke des englischen Empirismus ein: Er kann das triebhafte, reelle Streben nur mehr in den mehrdeutig werdenden Begriffen von Glück/Glückseligkeit beschreiben.

Der Empirist schaut auf den sinnlichen Tatbestand und auf den sinnlichen Tatzusammenhang, wie er in der Einbildungskraft gegeben ist, der transzendentale Denker begreift diese Anschauung in der Einbildungskraft durch Denken und Begriffe aus einer intelligiblen Sphäre der Reflexivität und des Logos und der Geschichte und des Sinns.
Beides zusammengefasst – reelles Streben nach GlĂĽck/GlĂĽckseligkeit und ideelles Denken – ergäbe die Explikation des Wesens der Vernunft von allen fĂĽr alle zu jeder Zeit.

MILL beharrt oft auf die empirischen Tatbestände und Sinneseindrücke – er spricht manchmal sogar  von „Instinkten“ des Gerechtigkeitsgefühls -, worin er einerseits Recht hat, wenn er die sinnlichen Triebe als Vorstufe zu geistigen Werten und den Aktcharakter der Erkenntnis in seiner zeitlichen und leiblichen und räumlichen Struktur betonen will, andererseits genügt aber das nicht, denn der Aktcharakter des Erkennen in seinem Realisieren setzt setzt ebenso Gedankenzusammenhänge voraus, die nicht wiederum als Trieb oder Glück/Glückseligkeit verstanden werden können.

Mill kennt auch diese höheren, intelligiblen! Gedankenzusammenhänge (Interpersonalität, Empathie, Gewissen, Willen, Recht, Gerechtigkeit – siehe dann die Kapiteln 2 – 5), aber gegebenfalls werden sie leider reduziert auf den Begriff Glück/Glückseligkeit, der sinnliche Konnotationen hat. 7

Die Einordnung der Anschauungen in eine moralische Begrifflichkeit (in einen moralischen Gedankenzusammenhang), das haben andere „Sittenlehre“ oder „praktische Vernunft“ genannt. MILL nennt es Moral des Glück oder Theorie des Utilitarismus.

Er sieht wie eine „Formel“ aus. Es kommt darauf an, „[…] zunächst ein richtiges Verständnis der Formel selbst“ (ebd. S 19) zu geben.

„Denn ich glaube, dass das Haupthindernis, das der Annahme dieser Formel im Wege steht, das höchst unzureichende Verständnis ihrer Bedeutung ist und dass die Frage bedeutend vereinfacht und ein großer Teil der Schwierigkeiten ausgeräumt wären, gelänge es, sie zumindest von den gröbsten Missverständnissen zu befreien.“ (ebd. S 19)

© Franz Strasser, 2. 10. 2023

2Bei Kant gibt es einmal diese schöne Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen. All dem wĂĽrde ein „Utilitarismus“ von J. S. Mill nicht widersprechen: GMS, AA IV, S. 414: „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daĂź man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ wĂĽrde der sein, welcher eine Handlung als fĂĽr sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte. Weil jedes praktische Gesetz eine mögliche Handlung als gut und darum fĂĽr ein durch Vernunft praktisch bestimm- bares Subject als nothwendig vorstellt, so sind alle Imperativen Formeln der Bestimmung der Handlung, die nach dem Princip eines in irgend einer Art guten Willens nothwendig ist. Wenn nun die Handlung bloĂź wozu anders als Mittel gut sein wĂĽrde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Princip desselben, so ist er kategorisch.“

3Siehe Beispiele im Philosophie-Magazin, 4/2019, S 48.

4Er handelt das Thema Glück/Glückseligkeit im Begriff des „höchsten Gutes“ oft ab; siehe z. B. in dem Absatz zum „höchsten Gut“ im Kapitel: „Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffes vom höchsten Gut“, KpV, Bd. VII, S 238 – 241. „So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Werth der Person und deren Würdigkeit glücklich zu sein) ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das | Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt.“ (Hervorhebung von mir, KpV, Bd. VII, S. 238.239.)

5Die Einbeziehung der Konsequenz – das betont ebenfalls z. B. der Artikel von F. Ricken im Lexikon: Philosophisches Wörterbuch, hrsg. v. Walter Brugger u. Harald Schöndorf, Baden-Baden 2010, zum Begriff „Utilitarismus“:
„Der U. ist eine Theorie über die Begründung moralischer Urteile. Das vielfach variierte Grundgerüst besteht aus drei Elementen: (a) dem Konsequenzprinzip: Kriterium für die sittliche Richtigkeit der Handlung sind ausschließlich die Folgen; (b) einer Werttheorie, die angibt, welcher / Wert um seiner selbst willen wählenswert ist, und die damit das Kriterium liefert, nach dem die Folgen einer Handlung beurteilt werden; (c) der Summierungs- und Maximierungsthese: ausschließlicher Gesichtspunkt für die Bewertung ist der Gesamt- oder der Durchschnittsnutzen aller von der Handlung Betroffenen. Der Aktutilitarismus fragt unmittelbar nach dem Nutzen der einzelnen Handlung; nach dem Regelu. ist die Handlung sittlich richtig, welche mit den Regeln übereinstimmt, deren allgemeine Befolgung den Nutzen maximieren würde. Der um seiner selbst willen wählenswerte Wert ist die Lust (klassischer U.) oder die Erfüllung der Präferenzen der Betroffenen (Präferenzu.). Bentham bemisst die Maximierung der Lust ausschließlich anhand quantitativer Kriterien; nach Mill gibt es auch qualitative Unterschiede; so verdienen die Freuden, an denen höhere Fähigkeiten beteiligt sind, den Vorzug. Beide begründen ihre Werttheorie naturalistisch: Dass etwas wünschenswert ist, wird dadurch bewiesen, dass die Menschen es tatsächlich wünschen. […].“

6 Zu MASLOWS „Bedürfnispyramide“ siehe Artikel auf Wikipedia, abgerufen 2. 10. 2023: https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie

7Nach K. Hammacher weist die sogenannte „Wertphilosophie“ Ende des 19. Jhd/Anfang 20. Jhd. den Mangel auf, die objektiven Werte so angesetzt zu haben, dass sie unabhängig vom Wollen und Streben nach Glück existieren sollen. Das wäre dann keine transzendentale Erkenntnisart, wie sie J. S. MILL praktiziert haben will – als Einbeziehung der Realisierungsbedingungen des Wollens und Strebens. Die Werte werden im reellen Streben nach „Glück/Glückseligkeit “ gebildet und zeigen sich in in der Entscheidbarkeit eines Nutzens von allen für alle zu jeder Zeit.
Siehe bei K. Hammacher die Verweise auf M. Scheler im Lexikonartikel zum „Glück“. Siehe bei M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1954, 2. Teil, 5. Kap. 256ff, 370ff oder siehe bei N.Hartmann, Ethik, 1949, S 95ff und 365ff.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser