J. S. Mill, 4. Kapitel – 4. Teil

Zu Beginn des vierten Kapitels leider der starke empiristische Einschlag! Mill misstraut allen intelligiblen Herleitungen von Wissen und Erkenntnis und beruft sich nur auf Tatsachen des Bewusstseins:

Die Unmöglichkeit eines Vernunftbeweises ist allen ersten Prinzipien gemeinsam, den Grundvoraussetzungen der Erkenntnis ebenso wie denen des praktischen Handelns. Doch da es sich bei den Ersteren um Tatsachen handelt, wird man sich zu ihrer Begründung unmittelbar auf die Vermögen berufen können, mit denen wir über Tatsachen urteilen, nämlich unsere Sinne und unser inneres Bewusstsein. Kann man sich in der Frage der praktischen Zwecke auf dieselben Vermögen berufen?“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 105)

Wenn der Vernunft nicht getraut werden kann, was soll dann im Postulat der Herausarbeitung der Bedingungen des reellen Strebens, die zum Glück/der Glückseligkeit führen sollen, noch als Kriterium gelten? Wie begründet Mill seinen Geltungsanspruch? Er muss selbst Vernunftargumente vorbringen, sonst wäre die Diskussion schnell beendet.
Tatsächlich erhebt er ja einen höchsten Geltungsanspruch, der per se, wenn er kein Vernunftanspruch wäre, gar nicht argumentiert und gerechtfertigt werden könnte!?

1) Das aktuelle Erkennen des reellen Strebens setzt bereits zeitliche und räumliche und interpersonale Anwendungsbedingungen fest, was zu Glück/Glückseligkeit von allen für alle zu jeder Zeit führen kann. Das ist höchste rechtlicher und moralischer und politischer Anspruch. Das Glück/die Glückseligkeit ist der letzte Zweck des Handelns und Wollens, mit Kant gesprochen, das „transzendentale Ideal“. 1

Der Utilitarismus sagt, dass Glück wünschenswert ist, dass es das Einzige ist, was als Zweck wünschenswert ist, und dass alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist. Welchen Kriterien muss diese Lehre genügen – welche Bedingungen muss sie erfüllen, um ihrem Anspruch zu überzeugen gerecht zu werden?“ (Hervorhebungen von mir, ebd.)

Mill wehrt sich gegen den Vorwurf – siehe bereits 2. Kapitel – , dass der Utilitarismus ein individueller Hedonismus sei, im Gegenteil, er ist Tugendethik.

Aber bestreitet der Utilitarismus etwa, dass die Menschen nach Tugend streben, oder behauptet er etwa, dass Tugend nicht erstrebenswert sei? Im Gegenteil. Er behauptet nicht nur, dass Tugend erstrebenswert ist, sondern dass sie uneigennützig, um ihrer selbst willen erstrebt werden sollte.“ (ebd. S 107)

Die Bestandteile des Glücks sind sehr verschieden. Es geht aber immer um ein integratives Streben nach dem Zweckbegriff des Glückes, das insofern die Idee des Guten ausmacht. Speziell die Tugend kann hier selbst ein angelerntes und gewohntes Verhalten werden – und kann ein Teil des Glückes werden. Es ist dann Tugend ein Mittel zum Glück und in Verknüpfung mit dem Glück sogar eine Art Selbstzweck. (Hervorhebungen von mir, vgl. ebd. S 111)

Es gibt, als Erläuterung aufgezählt, noch andere Mittel, die durch die Verknüpfung mit dem Glücksbegriff sogar für manche Menschen sehr wichtig geworden sind wie Geld, Macht, Ruhm (vgl. ebd. S 111). Das wäre aber ein sehr oberflächliches oder irriges Glück.

Indem es aber um seiner selbst willen begehrt wird, wird es als Teil des Glücks begehrt: durch seinen bloßen Besitz wird der Mensch glücklich oder glaubt, glücklich zu werden, und wird unglücklich, wenn der Versuch, in seinen Besitz zu gelangen, misslingt. Der Wunsch nach ihm ist von dem Wunsch nach Glück eben- sowenig verschieden wie die Liebe zur Musik oder der Wunsch nach Gesundheit.“ (ebd. S 113)

Mill kommt dann wieder auf die Tugend zu sprechen. Sie ist zwar ebenfalls natural begründet, aber hat a) moralische Folgen und b) ist selbst lustvoll, wenn sie trotz Widerstände sich zu steigern vermag:

Deshalb gebietet die utilitaristische Norm, die zwar auch jene anderen erworbenen Strebungen (sc. wie z. B. nach dem Geld, nach Ruhm) duldet und billigt (wiewohl nur so lange, als sie dem allgemeinen Glück nicht eher abträglich als zuträglich sind), die größtmögliche Ausbildung der Liebe zur Tugend als das, was in seiner Bedeutung für das allgemeine Glück von nichts übertroffen wird.[…]

Es ergibt sich aus den vorangehenden Überlegungen, dass in Wirklichkeit nichts anderes begehrt wird als Glück. Alles, was nicht als Mittel zu einem Zweck und letztlich als Mittel zum Glück begehrt wird, ist selbst ein Teil des Glücks und wird erst dann um seiner selbst willen begehrt, wenn es dazu geworden ist. Wer die Tugend um ihrer selbst willen erstrebt, erstrebt sie entweder deshalb, weil das Bewusstsein, sie zu besitzen, lustvoll ist oder weil das Bewusstsein, sie nicht zu besitzen, unlustvoll ist oder aus beiden Gründen zugleich – wie sich ja überhaupt Lust und Unlust nur selten allein, sondern fast immer gemeinsam finden, insofern man zugleich befriedigt ist, einen bestimmten Grad von Tugend erreicht zu haben, und unbefriedigt, nicht noch mehr erreicht zu haben.“ (ebd. S 115)

Der in anderen Moralphilosophien behauptete Tugendbegriff, dass er nicht-sinnlichen Ursprungs sei, ist vom erstrebten Gegenstand des Glücks/der Glückseligkeit her gesehen nicht möglich.

2) Es kommt jetzt ein wichtiger Begriff der Rechtslehre und Morallehre, den Mill jetzt erklären muss können aus der Wechselseitigkeit von reellem Streben und Glück/Glückseligkeit – der Begriff des „Willens“.

Der Wille – geht er nicht deutlich über ein sinnliches Streben hinaus, weil er doch so etwas wie Gut oder Böse will, also eine Geltungsdifferenz offenbart, die auf ein Transzendental eines metaphysisch vorauszusetzendes Gutes verweist? Was ist der Wille in seiner Struktur und seinem Wesen, in seinen Zielen und Zwecken, in seinem Geltungsanspruch


Mill gibt eine für mich bemerkenswerte und kreative Erklärung: Mill unterscheidet den Willen/das Wollen a) vom Begehren, b) begründet aber doch durch die sinnliche Natur (natural) und c) durch Zeit und Geschichte geformt und geprägt, als „
Macht der Gewohnheit“.

Der Wille, das aktive Prinzip, ist etwas anderes als das Begehren, der Zustand passiver Reizbarkeit, und obgleich er im Begehren entspringt, kann er mit der Zeit eigene Wurzeln schlagen und sich von der Mutterpflanze so vollständig lösen, dass wir in Fällen gewohnheitsmäßiger Zwecke etwas häufig nicht deshalb wollen, weil wir es begehren, sondern deshalb begehren, weil wir es wollen – ein Beispiel für jene altvertraute Tatsache: die Macht der Gewohnheit, das in keiner Weise auf den Fall tugendhaften Handelns beschränkt ist.“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 119)

Man kann Wille und Begehren unterscheiden, aber „[…] Deshalb ist es jedoch nicht weniger wahr, dass der Wille ursprünglich gänzlich ein Produkt des Begehrens ist – darin eingeschlossen die Anziehungskraft der Lust und die Abstoßungskraft der Unlust.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 121)

Wenn man nur ein wenig in die Geschichte des Willensbegriffes zurückblickt, so kann, wenn ich mich auf Sekundärliteratur berufen darf, mit Augustinus begonnen werden (nach anderen Vorbildern wie z. B. bei Plotin u. a.).2

Der Wille ist dort ganz ausgerichtet auf die Gebote Gottes, der seinerseits mit einem gesetzgebenden Willen ausgestattet ist. Mit unserer Vernunft können wir diese Gebote vernehmen. Immerhin, der Wille ist bereits deutlich herausgestellt, er wählt nicht einfach ein Objekt, er macht von sich Gebrauch, will sich – und kann so zum guten oder bösen Willen werden.

Es könnte und müsste jetzt viel an Tradition gebracht werden, wenn ich aber springen darf: Der Wille wird in der Neuzeit vom göttlichen Willen abgelöst und zu einem allgemeinen, moralischen Willen bzw. zu einem Willen mit dem Gehalt einer moralischen Gesetzgebung von allen für alle zu jeder Zeit. Der Wille wird zu einer „volonté générale“ (Malebranche) und zu einer politischen Größe.

Es ist ein „allgemeiner Wille“, der zu einer logischen Regel aller Gesetzgebung und Gesetzesfindung (Diderot, Rousseau) wird. Was der einzelne will, das Konkrete, wird subsumiert unter das Allgemeine des gemeinsamen Willens. Alle konkreten Zwecke müssen auf die Bedingungen ihrer Vereinbarkeit mit den Zwecken der anderen geprüft und dadurch auf ihre Moralität beurteilt und eingeordnet werden.

Sozusagen am Ende der Tradition des Denkens eines von der göttlichen Gesetzgebung bereits abgelösten, allein sich selbst verpflichtenden allgemeinen Willens, kann jetzt Kant mit seiner Moral- und Rechts- und Sittenlehre gesehen werden: Der allgemeine Wille ist in jedem von uns zu finden – und das partikulare Wollen ist, wenn es sich recht verstehen will und frei bleiben will, eine Selbstverpflichtung zu diesem gemeinsamen Willen. Der Wille des einzelnen (das Wollen) kann und soll zu einem durch die reine praktische Vernunft geläuterten Willen aufsteigen.
Es ist damit eine Art Operationalisierung und Erweiterung des allgemeinen Willens in der Vernunft des einzelnen Menschen gekommen: Er muss von sich her stets prüfen, ob seine Maxime des Handelns eine allgemeine Gesetzgebung werden könnte. „Der kategorische Imperativ stelle systematisch also ein
Ausweitung des Rechtsprinzips vom allgemeinen Willen auf unsere gesamte Praxis dar – einschließlich unserer subjektiv-privaten Grundsätze, (….)“3

Es ist eine moralische Pflicht, in einen Rechtszustand der Vereinbarkeit aller individuellen Freiheiten einzutreten. In dieser Maximengebung (zu einem allgemeinen Rechtszustand) kann man zwar von der allgemeinen Rechts- und Sittenordnung abweichen, was dann eine Verkehrung wäre und als „böse“ bezeichnet werden muss, aber prinzipiell sind wir alle auf das Sittengesetz und die Freiheit und Gleichheit aller Menschen hingeordnet. Wir sind im Handeln nach selbst gegebenen Gründen zu handeln verpflichtet.

Jetzt zu J. S. Mill: Indem er von vornherein eine gemeinsame, reelle Basis des Strebens annimmt, ferner die gesuchte Endursache von Glück/Glückseligkeit feststeht, kommt es jetzt darauf an, die Wechselwirkung zwischen Streben und Glück/Glückseligkeit nicht zu individualisieren, sondern diese Endursache einer wahren causa finalis herauszuarbeiten – und das individuelle Wollen in den Dienst dieser Allgemeinheit zu stellen. Der Wille ist im gedachten Endresultat, nach seinen durchlaufenen, geschichtlichen Prägungen und Entwicklungen, die Form eines allgemeinen Wollens geworden, nämlich das größtmögliche Glück/Glückseligkeit für alle von allen zu jeder Zeit zu erstreben. Die Anschauung dieser Form „Wille“ will Mill verwandeln zur Anschauung der Form eines allgemeinen (willentlichen) Strebens. Wir können uns, sozusagen zusätzlich willentlich, verstehen, wenn wir uns in unserer Form als Streben nach Glück/Glückseligkeit verstehen von allen für alle zu jeder Zeit.

Es ist ein transzendental-kritisches Aufsuchen der Bedingungen der Wissbarkeit von Freiheit und Gleichheit aller Menschen – mittels Anschauung der Form des Willens.

Um diese Anschauung zu diesem empiristischen Willensbegriff zu erreichen, schlägt Mill eine Brücke zur ebenfalls geschichtlich erworbenen Tugend: In der Tugend wie im Willen sieht er die naturale Kraft des reellen Strebens am Werk.

(Natürlich kann ich diese empiristische Grundlage nicht teilen, aber Mill erhebt sich wiederum zu einem transzendentalen Denken einer Letztbegründung mit Vernunftanspruch.) 4

[…] dass man den Menschen dazu bringt, die Tugend zu begehren- dass man ihm die Tugend im Licht der Lust und die Untugend im Licht der Unlust erscheinen lässt. Nur indem man das Rechttun mit der Lust und das Unrechttun mit der Unlust verknüpft, bzw. indem man die Lust, die mit der einen, und die Unlust, die mit der anderen von Natur aus verknüpft ist, bewusst macht, einprägt und einschärft, vermag man jenen Willen zur Tugend hervorzurufen, der, sobald er gefestigt ist, ohne irgendeinen Gedanken an Lust oder Unlust handelt.“ (vgl. ebd. S 121, Hervorhebung von mir)

Die Gewohnheit kann ein nützliches Hilfsmittel sein, die Tugend einzulernen und „[…] Im Fühlen wie im Handeln kann allein Gewohnheit Gewissheit verleihen.“ (ebd. S 123)

Anders gesagt: J. S. Mill verfällt zwar gut und gerne einem naturalistischen Fehlschluss, aber dann glänzt wieder schöne Tugend- und Gesinnungsethik auf. Der Wille ist Mittel in einem differentiellen Glücksstreben, enthält materiale und formale Elemente des Strebens nach der Idee des Guten.

[…]  Mit anderen Worten: Dieser Willenszustand (sc. der Wille als Gewohnheit) ist ein Mittel zum Guten, kein eigenständiges Gut, und steht daher nicht in Widerspruch zu dem Lehrsatz, dass etwas nur insoweit ein Gut für den Menschen ist, als es entweder selbst lustvoll ist oder ein Mittel ist, Lust zu erlangen und Unlust zu vermeiden.“ (Hervorhebung von mir, ebd S 123)

Mill gelingt eine starke Konkretion und Ordination des Strebens: Weil der Wille oder das individuelle Wollen schon auf Lust und Glück hingeordnet sind, braucht der Wert der Lust/des Glücks/der Glückseligkeit nicht abseits des reellen Strebens angesiedelt werden – als könne erst durch ein begriffslogisches Denken eines unbedingten Pflichtgesetzes oder eines „höchsten Gutes“ im Jenseits – etwas als allgemeiner Wille oder als Wert ausgezeichnet werden. Im alltäglichen aktuellen Erkennen und damit verbundenen Realisieren von Anwendungsbedingungen leuchtet konkret auf, was Wollen und Wille meint: Glück/Glückseligkeit wollen wir alle – und Unglück vermeiden.

© Franz Strasser, 5. 10. 2023

1Siehe bei Kant, „Von dem transzendentalen Ideal (Prototypon transzendentale) (KrV, B 600f.)“

2Sehr schöner geschichtlicher Rückblick und zugleich überführender Zusammenhang von der Antike zu Kant fand ich bei Bernward Grünewald, Menschenrechte, praktische Vernunft und allgemeiner Wille. Zur Geschichte eines moralphilosophischen Konzepts, 2001, Quelle: Internet.

3B. Grünewald, ebd. S. 16.

4 Es sind m. E. sich widersprechende Begründungen: Der Wille ist einerseits natural-sinnlich bedingt, letztlich will er aber das größtmögliche Glück für möglichst viele zu jeder Zeit erreichen, was ein eitler Wunsch wäre, würde nicht die unbedingte Totalität der Erreichbarkeit des Glücks/der Glückseligkeit notwendig erreicht werden können. Kant behilft sich hier mit dem Postulat Gottes und der Unsterblichkeit der Seele an. Mill will innerhalb der Grenzen des reellen, sinnlichen Strebens bleiben, so vermeidet er eine transzendente Letztbegründung. Aber prinzipiell geht der Wille, wenn er hier in seinem ganzen Vernunftanspruch genommen werden sollte, über individuelles Wollen hinaus auf eine allgemeine Glückserfüllung, d. h. strebt ins Unendliche hinaus einen letzten Endzweck an. Mill bleibt m. E. in diesem dialektischen Schein stecken.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser