FICHTES historisches Bild von KANT ist hinlänglich dargestellt worden – siehe u. a. hervorragend von Manfred Zahn, „Fichtes Kant-Bild“. 1
Nach Lektüre dieses Artikels und dem Hören einer Vorlesung von F. BADER wollte ich es nochmals genauer wissen. Worin unterschieden sich diese beiden Philosophen in der Diskussion des Begriffes „intellektuelle Anschauung“? Ich kann im Rahmen eines Blogs natürlich nur kurz und eher systematisch auf die Frage eingehen. Die historische und philologische Kleinarbeit, die, zugegeben, sehr spannend und die Sache selbst erhellend sein kann, muss leider entfallen.
Nach KANT gibt es keinen substantiellen Denkakt, bei dem in apriorischer Einheit Denken und Sein zusammenfallen und in weiterer Folge, sozusagen in philosophischer Nach-Reflexion, diese apriorische Einheit ins Bewusstsein gehoben werden könnte. Das war aber durchgängig platonische Ansicht mindestens bis NIKOLAUS CUSANUS! Sie wurde von DESCARTES wieder aufgenommen und bei FICHTE zur begrifflichen Vollendung geführt.
KANT stellt sich damit gegen eine große Tradition. Er versucht dies zwar ausführlich zu begründen, aber sein erkenntniskritischer Ansatz einer Transzendentalphilosophie muss m. E. selbst in einen Dogmatismus münden, bei allem Respekt ihm gegenüber, weil eben die transzendental-reflexive Einheit des Wissens von Denken und Sein aufgegeben ist.
KANT bekommt schneller als gedacht ziemliche Probleme: Wenn eine apriorische Einheit des Selbstbewusstseins nicht erkennbar ist, wie die Ausführungen KANTS in der transzendentalen Deduktion der Kategorien KrV § 24 u. § 25 B – und im Paralogismuskapitel belegen möchten – den Beweis muss ich hier aussparen – wie soll
a) die Einheit des „Ich denke“ alle Vorstellungen begleiten können, wenn es nur einen diskursiv verfahrenden Verstand gibt, der dauernd auf den inneren Sinn der Zeit, mithin auf ein empirisches Bewusstsein, rekurrieren muss, und
b) wie sollen selbst die Akte eines Selbstbewusstseins als solche bestimmt werden können, ich meine so zentrale Begriffe wie Denken, Handeln, Wollen, Freiheit u. a. , wenn keine (zeitlose) intellektuelle Anschauung derselben möglich ist?
Kant muss zwar implizit doch eine Art noumenal erkennbares Selbstbewusstsein ansetzen, um dieses kategoriale Gedankengebäude einer Transzendentalphilosophie überhaupt entwerfen zu können – um den Preis aber, dass sein „Selbstbewusstsein“ des „Ich denke“ in irgendeiner Form mentalistisch oder psychologisch auf die Empirie zurückbezogen bleibt. (Soweit ich spärlich in angelsächsische Kantliteratur hineingeschaut habe, verfallen dort viele der subjektivistisch-psychologischen Auslegung des „Ich denke“.)
Es gibt zwar auch Ausnahmestellen bei KANT, die einen sich wissenden, intellektuell einschaubaren, substantiellen Denkakt nahe legen – siehe dazu eine Zitat nach dem Eisler-Kant-Lexikon (Link), aber dies bleibt eher singulär.
„ Die Wirklichkeit der Freiheit können wir nicht aus der Erfahrung schließen. Aber wir haben doch nur einen Begriff von ihr durch unser intellektuelles inneres Anschauen (nicht den inneren Sinn) unserer Tätigkeit, welche durch motiva intellectualia bewegt werden kann“. N 4336.
Ebenfalls eine singuläre Stelle (und in Richtung Fichte) wäre noch seine Anmerkung zum Ich-Begriff in der 1. Auflage der KrV A 117:
*(1) Man gebe auf diesen Satz wohl acht, der von großer Wichtigkeit ist. Alle Vorstellungen haben eine nothwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewußtsein: denn hätten sie dieses nicht, und wäre es gänzlich unmöglich, sich ihrer bewußt zu werden, so würde das so viel sagen, sie existirten gar nicht. Alles empirische Bewußtsein hat aber eine nothwendige Beziehung auf ein transscendentales (vor aller besondern Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner selbst als die ursprüngliche Apperception. Es ist also schlechthin nothwendig, daß in meinem Erkenntnisse alles Bewußtsein zu einem Bewußtsein (meiner selbst) gehöre. Hier ist nun eine synthetische Einheit des Mannigfaltigen (Bewußtseins), die a priori erkannt wird und gerade so den Grund zu synthetischen Sätzen a priori, die das reine Denken betreffen, als Raum und Zeit zu solchen Sätzen, die die Form der bloßen Anschauung angehen, abgiebt. Der synthetische Satz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt. Es ist aber nicht aus der Acht zu lassen, daß die bloße Vorstellung Ich in Beziehung auf alle andere (deren collective Einheit sie möglich macht) das transscendentale Bewußtsein sei. Diese Vorstellung mag nun klar (empirisches Bewußtsein) oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit desselben; sondern die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses beruht nothwendig auf dem Verhältniß zu dieser Apperception als einem Vermögen.
Skeptisierend hält KANT eine „intellektuelle Anschauung“ für ein menschliches Bewusstsein nicht möglich. Sie bleibt den Engeln oder Gott vorbehalten. Unser Denken kann durch bloßes Denken ein unmittelbares Bewusstsein von einem „Ding-an-sich“ als eines nicht-sinnlichen Seins nicht erreichen. Es bleibt nur die Erscheinung der Dinge. Aber warum ist dann Kant noch genötigt, ein noumenales „Ding an sich“ anzunehmen? Woher diese Disjunktivität? Wie und warum entsteht im Denken der Vernunft ein intelligibles Substrat quasi von selbst, das „Noumenon“, das gegebenfalls, falls ernsthaft die Erscheinungsform aller Dinge bezweifelt werden sollte, aus dem Talon geholt werden kann?
2) Steigt man in die ERSTE oder ZWEITE EINLEITUNG von FICHTE von 1797 ein, so könnte man meinen, die Ablehnung eines „Dings-an-sich“ würde beide Philosophen vereinen. Der offenbare Konsens hört sich z. B. in Kapitel 4 der ERSTEN EINLEITUNG so an – SW I, 428: „(….) Das Object des Dogmatismus im Gegentheil gehört zu den Objecten der ersten Klasse, die lediglich durch freies Denken hervorgebracht werden; das Ding an sich ist eine blosse Erdichtung, und hat gar keine Realität. Es kommt nicht etwa in der Erfahrung vor: denn das System der Erfahrung ist nichts Anderes, als das mit dem Gefühle der Nothwendigkeit begleitete Denken, und kann selbst von dem Dogmatiker, der es, wie jeder Philosoph, zu begründen hat, für nichts Anderes ausgegeben werden. Der Dogmatiker will ihm zwar Realität, das heisst, die Nothwendigkeit, als Grund aller Erfahrung gedacht zu werden, zusichern, und er wird es, wenn er nachweist, dass die Erfahrung dadurch wirklich zu erklären, und ohne dasselbe nicht zu erklären ist; aber gerade davon ist die Frage, und es darf nicht vorausgesetzt werden, was zu erweisen ist.“
FICHTE lenkt scharfsichtig die Frage sofort auf das Hauptproblem, warum und wieso nehmen wir hinter den Erscheinungen der Dinge eine Realität des Fürsichbestehens an. Die Frage dreht sich nicht vordergründig um diese oder jene Objekte der Erscheinung, ob die Objekte jenseits des Bewusstseins eine eigene Existenz haben, welches Substrat ein Stein hat usw… sondern, warum kommt unser Bewusstsein dazu, ein Noumenon hinter der offensichtlich schön herausgearbeiteten transzendentalen Erkenntnisart KANTS als Fürsichbestehen eines „Ding-an-sich“ anzusehen? Es bedarf einer tieferen Analyse des Wissens, wie wir zu diesem an sich unbegreiflichen „Ding an sich“ kommen. Mit kantischen Mitteln ist das aber nicht mehr möglich.
Nach FICHTE kann das erklärt werden: Die transzendentalen Wissensformen der Ichheit erstrecken sich a) nicht nur eingeschränkt auf die Erscheinungsformen der Gegenstände der sinnlichen Erfahrung, die den „Grenzbegriff „eines Dings-an-sich für notwendig halten – vgl. KANT, KrV, „Phainomena und Noumena“ B 294 – sondern erstrecken sich b) auf die Erkenntnis der ganzen Wirklichkeit, die in apriorischen Erkenntnisformen eingeholt und auf der Basis realer Bestimmbarkeit und Bestimmtheit erkannt werden will.
In gewissem Sinne strebt KANT ebenfalls ein über die theoretische und praktische Vernunft hinausgehendes „intelligibles Substrat“ der Erkenntnis an, wenn er in der KdU einen übersinnlichen Zweckbegriff benennt oder anstrebt – aber infolge seines empirischen Anschauungsbezuges den Vernunftbegriff hier bloß „regulativ“ nennt. Die subjektiv-objektive Einheit der Vernunft kann aber nicht bloß „regulativ“ gültig sein. Wie soll das gehen? Das ergibt überhaupt keine Evidenz, höchstens eine faktische, naturale Evidenz. Schließlich, was soll das bedeuten, das jetzt auftauchende „Noumenon“ des „Ding an sich“ ist ein „Grenzbegriff“? Die Evidenz legt die Grenze der Erkenntnis fest, nicht das „Ding an sich“. Es ist nicht ein Problem der Grenze selbst oder eines unbegreiflichen Absoluten, sondern die Arbeit des Begriffes erstellt selbst die „Grenze“ und die Unbegreiflichkeit des Absoluten. Warum und wieso?
3) Die Lösung liegt in dem Begriff der „Intellektuellen Anschauung“. Sie ist nach FICHTE eine Leistung der reinen Vernunft und muss nicht als eine Art göttliches Vermögen, als „intellectus divinus“, verstanden werden – weshalb sie KANT für unseren menschlichen Verstand ja ablehnte, siehe KrV, B 72, B 307/308, auch schon in seiner Dissertation von 1770, Mund. sens. § 10 (V 2, 102).
Nach Fichte ist die „intellektuelle Anschauung“ die Grundform des Philosophierens. Sie kommt (eher zufällig?) bei FICHTE schon vor in der AENESIDEMUS-REZENSION von 1793 (SW, VI, 59ff), muss aber dann ständig implizit vorausgesetzt werden in der GRUNDLAGE von 1794/95 (dort nicht explizit erwähnt) und wird explizit ausgeführt in der Wlnm von 1795/96. (Siehe dort z. B. GA IV, 2, 31 u. a.). Zur gleichen Zeit wie die WLnm vorgetragen hielt FICHTE auch Vorlesungen zur LOGIK und METAPHYSIK nach PLATTNER, worin die „intellektuelle Anschauung“‘ prominent erwähnt wird (GA IV, 1, 223-224). Fichte gibt dort deutlich und gewissenhaft Auskunft über seine Methode.
Zum Begriff der „Intellektuellen Anschauung“ siehe jetzt, um ein anderes Beispiel zu wählen, ZWEITE EINLEITUNG, 5. Kapitel (SW I, 463)
„Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen.“
Die „intellektuelle Anschauung“ muss das ganze, lebendige Wissen darstellen, sekundärreflexiv eingeholt vom denkenden Philosophen. 2
I463 (….) Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiss ich, dass ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod.
Oder siehe z. B. „Versuch einer neuen Darstellung“ (SW I)
„(….) Also — die Intelligenz schaut sich selbst an, bloss als Intelligenz oder als reine Intelligenz, und in dieser Selbstanschauung eben besteht ihr Wesen. Diese Anschauung wird sonach mit Recht, falls es etwa noch eine andere Art der Anschauung geben sollte, zum Unterschied von der letzteren intellectuelle Anschauung genannt. — Ich bediene mich statt des Wortes Intelligenz lieber der Benennung: Ichheit; weil diese das Zurückgehen der Thätigkeit in sich selbst für jeden, der nur der geringsten Aufmerksamkeit fähig ist, am unmittelbarsten bezeichnet. (Versuch, SW I, 530)
Die „intellektuelle Anschauung“ muss immer vorausgesetzt werden, wie intuitiv-unbewusst das Kant ja getan, aber nicht zugegeben hat.3
FICHTE kann von seinem höheren Standpunkt aus sagen, warum KANT diese Selbsttätigkeit oder Selbstanschauung des Ichs als „intellektuelle Anschauung“ nicht eindeutig explizierte: Weil die KrV (A 1781 oder B 1787) die praktische Seite der Reflexion nicht ausdrücklich in die Erkenntniskritik einbezogen hat. Erst in der KpV käme die Begründung für die „intellektuelle Anschauung“ vor, aber infolge der erkenntniskritischen Selbstbeschränkungen konnte KANT sie in die KrV nicht mehr systematisch integrieren.
„Die intellectuelle Anschauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln, und sie ist bei Kant gar nicht bezeichnet (ausser, wenn man will, durch den Ausdruck reine Apperception). Doch lässt auch im Kantischen Systeme sich ganz genau die Stelle nachweisen, an der von ihr gesprochen werden sollte. Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewusst? Was ist denn dies nun für ein Bewusstseyn? Diese Frage vergass Kant sich vorzulegen, weil er nirgends die Grundlage aller Philosophie behandelte, sondern in der Kritik der r.V. nur die theoretische, in der der kategorische Imperativ nicht vorkommen konnte; in der Kritik der prakt. Vern. nur die praktische, in der es bloss um den Inhalt zu thun war, und die Frage nach der Art des Bewusstseyns nicht entstehen konnte.“ (ZWEITE EINLEITUNG, Kapitel 6, SW I, 472)
4) Der Zusammenhang von „reiner Apperzeption“ bei KANT und die Selbstanschauung des Handelns bei FICHTE, die in sich zurückgehende Tätigkeit, das reine Setzen in einer reflexiven, sich wissenden Ich-Einheit, das ist im Grunde die platonische Tradition einer höchsten Wissenseinheit.
Diese Wissensform ist formal wie material eine Einheit, denn auch die im Nicht-Ich begegnende Hemmung oder der nichtichliche, fremdpersonale Aufruf, sie können nicht gänzlich außerhalb der Ich-Einheit angesetzt werden. Auch das formal begegnende, teilabsolut anzusetzende Nicht-Ich verdankt sich (formal) einer Handlung des Entgegensetzens (GWL § 3) – und deshalb muss es prinzipiell aus der Einheit einer Selbstbeschränkung eines Ichs innerhalb eines reinen Ichs genetisiert werden können.4
Wird analog zu KANT ein Fürsichbestehen gesetzt, ein „Ding-an-sich“, so wird das Phänomen unter diesen Begriff, wie Fichte sagt, „Fürsichbestehen“ subsumiert. 5
Das Verhältnis auf diesem Standpunkt (zum „Fürsichbestehen“) ist dann nicht mehr erklärbar. Der Begriff scheitert an sich selbst. Er kann diese für ihn gesetzte Verhältnisbestimmung und Bestimmbarkeit in der Wahlfreiheit – eigentlich eine vorausgesetzte unsichtbare Evidenz des Absoluten – nicht auf einen Setzungsakt des Wissens selbst zurückführen, nennt das Evidierte einfach Faktisches, „Fürsichbestehen“, und muss es so in seiner Unbegreiflichkeit und als Grenze stehen lassen. Die Unbegreiflichkeit der Grenze und das Faktum des Fürsichbestehens – sie sind plötzlich undurchschaubar miteinander verbunden. Faktum und Grenze stehen unmittelbar vor dem Begriff – und KANT kann diese Bildungs-Elementen nicht mehr erhellen. Erkenntniskritisch mit Fichte gesagt: Die Faktizität des einen ist die genetischer Bedingungsgrund des anderen und umgekehrt. „Die Differenz ist nicht nur Differenz beliebiger Fakten, sondern Differenz der Faktizität von zwei gegensätzlichen Genesen. (…) Die Genesen bedingen sich wechselseitig. (…) Sie sind faktisch da. Das ist eindeutig. Jedoch ihr Grund ist an dieser Faktizität nicht erkennbar – sie entlässt aus sich kein Bild eindeutiger Idealität.“ 6 Sie sind unlösbar gemeinsam gesetzt – aber es ist offensichtlich, dass sie im und durch das Bewusstsein gesetzt sind, nicht jenseits des Bewusstseins.
5) Fichte hält, wie oben ein paar Stellen skizziert sind, an einer materialen Seite der „intellektuellen Anschauung“ fest. Siehe z. B. sehr deutlich in § 12 der WLnm. Nach allen formalen Handlungen des Setzens und Entgegensetzens7 kommt er zu einem überzeitlichen Konstitutionsakt des Selbstbewusstseins, der noch alle Verzeitung abhält, und formal wie material im Willen eingeschaut und begründet ist. In der WLnm hört sich das (beispielsweise) dann so an:
„Dieses Übergehen u.Fließen – muß daher in jenem Wollen als intellectuell angeschaut und ganz und gar weg gedacht werden; es bleibt uns also blos die Anschauung unserer (sc. so konstituierten) BESTIMMTHEIT übrig, die da ist aber nicht wird.“ (WLnm § 12, ebd. 134)
„Durch das discursive Denken wird dieses (sc. prädeliberative) Wollen daurend, und dadurch entsteht uns die Zeit, obgleich mein (sc. prädeliberatives) Wollen in keiner Zeit ist, denn es ist nicht (sc. durch zeitlich vorhergehende Faktoren ) bedingt.“ (§ 12, ebd. 126).
Dieses formalen wie materialen Wissensmomente werden in intellektueller Anschauung nachvollzogen und auf den Begriff gebracht. Sie kommen dabei nur in Kombination mit der sinnlichen Anschauung vor und vollziehen sich – aus weiter hier nicht anzuführenden Gründen – individuell in Ausgliederung aus einer Einheit der universalen Vernunftwelt. Sie sind mehr als ein geistiges Handeln im Sinne einer Abstraktion, sie sind inhaltliche, intentionale Akte. Der Gehalt in dieser intellektuellen Anschauung ist letztlich reiner Wille, die Selbstbejahung der Vernunft als sich bejahender Vernunft, Selbstbegründung und Selbstrechtfertigung in einem: Vernunft soll sein. 8
Das diskursiv-logische Begreifen dieser reinen Anschauung vernichtet sich dabei in seiner Gültigkeit, ist aber genetisches Evidieren, Intuition und Intellektion einer sich selbst begründenden und rechtfertigenden Wahrheit – PLATONS Idee des Guten – , der Einheitspunkt der Duplizität von Denken und Sein. Ich denke mich – und ipso facto werden Bild und Abgebildetes differenziert. Aus freien Akten heraus findet der Geist sich, kommt auf sich zurück, ist aber damit schon gelöst vom Sein. Dass er notwendig sinnbildende Formen schafft, nach einem Gesetz der Diskursivität, ist sein ursprünglicher Grundvollzug; wie er sie schafft, hängt teilweise auch von seiner Freiheit ab. Er soll das Sein in seiner Wahrheit nicht als scheinhaftes Sein, sondern als (individuell-subjektiv) wahrhaftes Bildsein und (universal-objektiv) wahres Bild des Bildes vom Sein abbilden und bewähren. Deshalb aber existiert nie ein „Ding-an-sich“ jenseits dieses Bildens.
Die in und aus der überdisjunktiven Wahrheit abgeleitete Erkenntnis muss als bewährende, wirkliche Erkenntnis in der konkreten Bestimmung der realen und idealen, der naturalen und leiblichen und moralischen Welt, der gesellschaftlichen-rechtlichen Wirklichkeit, der kulturellen Wirklichkeit, der Zeit und Geschichte und der Religion – in einem System fünffachen Sich-Wissens – sinnlich und logoshaft, geschichtlich und sinnvoll, ausgeführt und dargestellt werden können. Es kann kein Außerhalb im Setzungsakt des Selbstbewusstseins/des Wissens geben. KANT habe dem Geiste nach, so FICHTE, eine solche Ableitung aus einem höchsten Prinzip und eine systematische Zusammenstellung allen Wissens angestrebt. Er habe das richtig bemerkt, dass die „Freiheit der Standpunkt aller Philosophie“ ist – aber dieses System nicht mehr ausgeführt. 9 Indem KANT die Vorstellung des „Ich denke“ als Akt der Spontaneität fasst, denkt er das „Ich“ des Bewusstseins als durch sich selbst (in einer intellektuellen Anschauung) bestimmt und bestimmbar. Davon hätte er weiter ausgehen sollen.
© Franz Strasser, 13. 6. 2017
1In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluss an Kant und Fichte. Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Klaus Hammacher und Albert Mues, Stuttgart 1979. Artikel v. Manfred Zahn, ebd. S 479 – 505.
2Sehr erhellend wären zu „sekundärreflexiv“ die traditionsgeschichtlichen Ursprünge bei PLATON und ARISTOTELES und die erfolgte Neuaufnahme dieser platonischen Denkform bei DESCARTES. Siehe dazu die Einleitungskapiteln von FRANZ BADER, Die Ursprünge der Transzendentalphilosophie bei Descartes. Zweiter Band, Teil 1: Descartes‘ Erste Philosophie: Die Systematik des Zweifels, Bonn 1983, 3 – 63.
3„Dass Kant den Begriff des reinen Ich in demselben Sinne nehme, in welchem ihn die Wissenschaftslehre nimmt, habe ich schon oben gezeigt. Wenn gesagt wird: ich bin das Denkende in diesem Denken; setze ich mich dann etwa nur anderen Personen ausser mir entgegen; setze ich mich nicht vielmehr allem Gedachten entgegen? »Der Grundsatz der nothwendigen Einheit der Apperception ist selbst identisch, mithin ein analytischer Satz,« sagt Kant (Krit.d.r.V. S.135). Dies bedeutet dasselbe, was ich soeben sagte: das Ich entsteht durch keine Synthesis, deren mannigfaltiges man weiter zerlegen könnte, sondern durch eine absolute Thesis. (…)“(Zweite Einleitung, SW I, 503)
4„Doch beachten wir zunächst, daß mit der endgültigen Auflösung des Rätsels der Empfindung durch Fichte philosophie- und menschheitsgeschichtlich etwas ganz Ungeheuerliches geschehen ist: Seit Anaxagoras konnte die Wirklichkeit nur als Dualität, als Geist und Materie gedacht werden. Mit der WL wird die Phänomenalität absolut. Die gesamte Wirklichkeit ist ein durch und durch geistiges Ereignis. Von dieser Stufe der Erkenntnis aus kann kein Materialismus jemals wieder als wissenschaftlich haltbare Position auferstehen. Wir werden es in alle Ewigkeit mit nichts anderem zu tun haben, als mit unüberschreitbaren Bewußtseinsphänomenen, ja, wie sich zeigen läßt, – mit Argumenten. Seit Kant und Fichte ist der Objektivismus besiegt, so sehr auch noch philosophisch nachhinkende Jahrhunderte gegen die Transzendentalität wie gegen einen Stachel löcken und gerade diejenigen, die das Ding an sich für enthauptet erklären, es noch in ihrem Kopfe tragen mögen. Es dringt sich endlich auch dem letzten menschlichen Bewußtsein auf, daß die Menschheit kein Stück Natur ist, sondern daß die Natur durch das geistbestimmte Handeln der Menschen für sie ebendas ist, was sie ist. Das Ganze der theoretisch-faktischen und der praktischen Konstitutivmomente dieser Wirklichkeit ist aus dem Ich deduzierbar. Erst dadurch, daß das Ich, der Geist, sich absolut selbst setzt und reflektiert, kann der Anstoß durch das irrationale X, der alle Erfahrung begründet, erfolgen und vom Ich mittels der weiteren Akte des Setzens des Nicht-Ich und der Synthesis von Ich und Nicht-Ich verarbeitet werden.“ R. Lauth, Kants Kritik der Vernunft und Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, 146.
5 Ich referiere hier J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, Hamburg 1977.
6J. Widmann ebd., S 34.35.
7 Ich führe die WLnm nur als Beispiel an. Die intuitive und intelligierende Einsicht in die Wahrheit des substantiellen Denkaktes ergibt sich nicht erst reduktiv aus dem praktischen Streben und Handeln – wie Henrich oder Janke den ersten Grundsatz der GWL m. E. falsch interpretiert haben. Siehe deren Literatur.
8 Der höchste materiale Gehalt ist nicht bloß reflexiv erschlossen, er begründet sich selbst, ist Grund und Folge ineins. Die Wahrheit (Verum) bewährt sich durch das Gute und umgekehrt wird das Bonum zum Verum. Dieses Materiale hält sich selbst, ist Gewissheit seiner selbst. Es müsste hier jetzt die ganze Ableitung in und aus dem Absoluten folgen, die ich hier aber nicht mehr bringen kann. Als Beispiel einer konkret inhaltlichen Sicht der intellektuellen Anschauung sei eine Stelle aus „Thatsachen des Bewusstseins“ von 1813 gebracht, wodurch der historische Zusammenhang der Jenenserzeit mit dem Spätwerk nochmals geknüpft wird. Zu den „Thatsachen des Bewusstseins“ siehe auch die Argumentation bei FRANZ BADER, Die Ursprünge der Transzendentalphilosophie bei Descartes. 1. Bd.: Genese und Systematik der Methodenreflexion, Bonn 1979, Anm. 34. Siehe generell das Einleitungskapitel S 9 – 47.
„Durch diese Form, daß er nämlich Ausdruck ist eines allgemeinen Charakters, erhebt der Begriff sich durchaus über alle Wirklichkeit, und kann nur durch seinen Inhalt in dieselbe kommen. Dieser Begriff ist nun schlechthin, er wird nicht, und ist die intellectuelle Anschauung. Nur Er ist die intellectuelle Anschauung. In der Empirie haben wir früher auch eine intellectuelle Anschauung der bloßen Form des Bildes, als nicht des Seins aufgestellt. Alles Bewußtsein ist möglich nur durch das Verstehen des Bildes als solchen, dies ist freilich auch eine intellectuelle Anschauung; aber sie ist das bloße formale Bild der intellectuellen Anschauung, die wir hier hinstellen; dergleichen ja die Erfahrung überhaupt ist in Beziehung auf die reale Erscheinung. Unser jetziger Begriff ist durch diese Form der unmittelbare Ausdruck des überwirklichen, des reinen Charakters dessen, was absolut da ist, der Erscheinung.“ (THATSACHEN DES BEWUSSTSEINS, 5. Vortrag, SW IX, 452.453)
9Wlnm, GA IV, 245f