Hans Kelsen, Reine Rechtslehre – Lektüre. 1. Teil

Nach der Lektüre von „Grundlage des Naturrechts“ (abk.=GNR) von FICHTE, worin von einer absoluten Geltungsbegründung des Rechts als „Naturrecht“ oder synonym gemeint, „Vernunftrecht“, ausgegangen wird, d. h.  das jedem einzelnen Vernunftwesen von sich her ein Recht zuerkannt werden muss, kehrte ich zur erneuten Lektüre von HANS Kelsen „Reine Rechtslehre“, 1. Auflage 1934, 2. Auflage 1960, zurück. Ich stand ja vor Jahren irgendwie gebannt vor dieser Lektüre und wusste nicht recht, was ich damit anfangen sollte. Der Schreibstil, die Begrifflichkeit, die kurzen Kapitel, die stets philosophisch auf Letztbegründung ausgehenden Darlegungen usw., das hatte für mich eine anziehende Kraft! Ich hatte höchste Achtung vor diesem Kompendium an Wissen und Erfahrung!

Da H. Kelsen vor allem in der 1. Ausgabe der „Reinen Rechtslehre“ von 1934 (abk.=RR1) Bezug nimmt auf KANT, kann wohl gefragt werden: Was ist das Transzendentale, das Sich-Wissen einer Idee von Freiheit, von Recht, von Norm in dieser „Reinen Rechtslehre“ – sowie Kant nach den Erkenntnisbedingungen der Wirklichkeit fragt?

Ich bin noch nicht zu einem endgültigen Urteil gekommen, deshalb hier – eher wieder zur eigenen Denk-Schulung und Reflexion – Anfragen und Entgegenstellungen.

1) RR1 – 1. Auflage 1934„Recht und Natur. 1. Die »Reinheit«.
Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts. Des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung. Sie ist allgemeine Rechtslehre, nicht Interpretation besonderer nationaler oder internationaler Rechtsnormen.

Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.

Wenn sie sich als eine »reine« Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie eine nur auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: Sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien. Das ist ihr methodisches Grundprinzip. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber ein Blick auf die traditionelle Rechtswissenschaft, so wie sie sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigt deutlich, wie weit diese davon entfernt ist, der Forderung der Reinheit zu entsprechen. In völlig kritikloser Weise hat sich die Jurisprudenz mit Psychologie und Biologie, mit Ethik und Theologie vermengt. Es gibt heute beinahe keine Spezialwissenschaft (….)“ S 1

Alle Absicht und inhaltliche Klarstellung ist in diesem 1. Absatz wohl treffend zusammengefasst: H. Kelsen hält eine Art „wissenschaftliche“ Erkennbarkeit eines Gegenstandes „Recht“ für möglich, so wie man einen physikalischen oder anderen sinnlichen Gegenstand mittels gewisser Anschauungsformen und Kategorien wahrnehmen und erkennen kann. Analog zur kantischen Erkenntnislehre kann der Gegenstand „Norm“ das erscheinende Recht oder den Rechtsbegriff auslegen und bestimmen.

Diesen Gegenstand „Norm“ rechtfertigt er ausdrücklich in seinem Verweis auf KANT – siehe dann vor allem das Kapitel über das Sollen (Abschnitt 11, ebd. S 19ff). Die „Norm“ wird durch einen Erkenntnisakt erzeugt und geschaffen, deshalb ist es möglich, die „Norm“ nach den Bedingungen der Möglichkeit seiner Bedeutung auf die Wirklichkeit anzuwenden und zu einem Rechtssystem mit allen Finessen der Rechtssprechung, Rechtsadministration und Rechtausübung auszubauen, eben zu einem System der „Reinen Rechtslehre“, zum System eines „Positiven Rechts“.

Offensichtlich interpretiert H. Kelsen die Erkenntnisbedingungen Kants als realistische Voraussetzungen gegenüber den korrespondierenden Normen, bzw. vice versa, was sich logisch ergibt, als idealistische Erzeugungsbedingungen rechtlichen Norm-Denkens. Es ist der Akt, der die Bedeutung schafft.

Wie dieser Akt des Erkennens begründet und gerechtfertigt ist, interessiert ihn nicht mehr, denn die Vermittlung und die Anwendung des Aktes der Erkenntnis auf eine zu schaffende Positive Rechtslehre ist ja seine Hauptabsicht. Tiefere erkenntnistheoretische Grundsatzfragen oder kritische Rückfragen an Kant werden nicht gestellt. Siehe gleich zu Beginn, der 2. Abschnitt „Natürlicher Tatbestand (Akt) und Bedeutung.“ (ebd. S 2f) 

Der angedeutete Reflexionsbegriff des realistischen/idealistischen Erkennens ist natürlich hier bereits beträchtlich eingeschränkt, verglichen mit einem ganzheitlichen Vorstellen und Wollen-in-actu des Vernunftwesens „Mensch“, eben auf eine „Norm“ oder „Grundnorm“.  Dies sei H. Kelsen geschenkt, denn Kant oder andere Philosophen gingen ebenfalls von einer reinen Erkenntnistheorie zu einer realistisch/idealistischen  Anwendung derselben in einem besonderen Bereich über. Trotzdem ist das bereits eine heikle Stelle des Übergangs, denn der Akt der Erkenntnis schafft nach seinen eigenen Worten „die Bedeutung“, d. h. einen modal durchbestimmten, eigenen Gegenstand, also bedarf es höchster Vorsicht, ob der Gegenstand erkenntniskritisch begründet und gerechtfertigt sei.
Anders gesagt: Die aus der Erkenntniskritik folgende Methode bedarf zuerst einer immanenten Anwendung und Evidenzprüfung ihrer selbst: Was ist die Einsicht und die Wahrheit des Rechts überhaupt, ehe daraus eine Methode der Rechtssprechung und vermeintliches Prinzipienwissen einer „RR“ abgeleitet werden kann?

Die kantische Erkenntnistheorie auf den Akt einer gegenständlichen Bedeutungsgebung zu reduzieren, ist realistisch/idealistisch bedenklich! Das Erkennen ist nämlich nicht ein naturales Messen und Prüfen und summarisches Bilden von theoretischen Wissensprinzipien – hier die Erzeugung und dort die Bestandsaufnahme eines rechtlichen Normensystems – sondern wesentlich bereits sittlich-praktisches Wollen-in-actu mit mannigfaltigen transzendentalen Erkenntnisbedingungen und hermeneutischen Voraussetzungen. 

Da fällt mir gravierend auf: H. Kelsen trennt in den Spuren HUMES und KANTS von vornherein Sein und Sollen, wodurch ihm a) der praktische Bereich des Wollens und Strebens  als theoretisches Wissen  erscheint und b) das erkennbare Sein als positivistisch erkennbares Ist einer Norm, eines Solls. Die späteren „Normen“ und der Rede vom „Soll“ werden aber damit zu bloß theoretisch aufgestellten Fakta, zu faktischem Sein,  obwohl Kelsen in seinem Wortlaut vorgibt, in seiner Positiven Rechtslehre nicht von einem Sein ausgehen zu wollen, sondern von einem Soll. Siehe z. B. den späteren Abschnitt 11: Das „Sollen“ als Kategorie des Rechts“ (RR1 ebd. S 20ff).

Der im Vernunftstreben angelegte Charakter eines intendierten, werthaften Sollens wird  auf ein prozedural-logisches Verfahren der Gesetzgebung und Rechtssprechung hin ausgelegt? Also wird es doch wie ein gegenständliches Sein behandelt?

Der Begriff der „Geltung“, der eigentlich die letzte transzendentale Begründungsfigur in allem subjektiv-objektiven Erkennen und Handeln und Wollen sein soll, wird hermeneutisch auf einen ausdrücklich  noch nicht erzeugten, unbekannten, nicht deklarierten Werthorizont hin ausgelegt, der später durch die RR bzw. Positive Gesetzgebung ausgefüllt und benannt werden soll.  Die Hermeneutik und Gesetzgebung leitet die Normen und Gesetze in einem gegenständlichen Sinne ab, oder besser gesagt, setzt sie fest, liest sie ab. Oft spricht H. Kelsen von „Geltung“, „Geltungsgrund“,  meint aber damit bereits eine gegenständliche „Grundnorm“, die zur Begründung und Geltung eines Rechtsgesetzes herhalten muss.  

Es gelingt ihm manchmal ein synthetischer Geltungsbegriff: Wenn er z. B. sagt, dass in der Rechtssprechung der Richter schöpferisch selbst auf einen Geltungsbezug von Wahrheit und Gerechtigkeit Bezug nehmen kann –  und daraus seine Erkenntnis und sein Urteil fällt. Aber dieser intelligierende  und aus sich gerechtfertigte Geltungsbezug – jeder ist dem anderen ein Richter –  wird in diesem Falle nicht durch die „Grundnorm“ als Grundbestimmung erzeugt, sondern apriorisch vollzogen in einem logisch-praktischen Denken und  schöpferischen Rechtsdenken. Das ist aber eher die Ausnahme in einem durch die „Grundnorm“ festgelegten Schema der Rechtsauslegung und Rechtssprechung. 

Immer wieder rationalisiert H. Kelsen eine Rechtssprechung durch einen Zusammenhang mit einer faktischen „Grundnorm“ – und nennt es Geltungsbezug.  Er verwechselt aber damit einen faktischen, positiv eingeführten  Geltungsbezug mit einem transzendentalkritisch vorauszusetzenden Geltungsbezug.

Sobald H. Kelsen die Trennung von Soll und Sein behauptet – in den Spuren HUMES und KANTS – gelingt ihm eigentlich keine Synthese der Gültigkeit und der Geltung der Grundnorm mehr, weil der Erkenntnisakt eingeschränkt ist auf einen logischen Rationalismus von vorausgesetzten Bedingungs- und Bedeutungszusammenhängen, die die Folgen eines Urteils oder einer Rechtssprechung (mit gewissen Ausnahmen freier Rechtsschöpfung) von vornherein festlegen. In einem metaphysischen Zweifel darf diese Gültigkeit und Geltung bezweifelt werden.

M. a. W., die Einsicht in die Differenz-Einheit der Geltung des Seins (einer Norm) und dem Wissen und der Erzeugung dieses Seins, ist von vornherein faktisch festgelegt durch ein gewisses Gliederungssystem von Normen. Die einzelnen Normen für verschiedene Bereiche des Rechts sind dann akzidentielle   Weiterbestimmungen der einen Grundbestimmung „Grundnorm“.  Ist es übertrieben, wenn ich sage, die Gesetze können alle in Verordnungen umgetauft werden?

Mit dem Rückgriff auf eine „Grundnorm“ ist aber ein unendlicher Reflexionsregress gestartet, denn die einzelnen Normen leuchten nicht von sich her als Recht oder als Unrecht ein, sondern nur in gewisser Struktur und Abhängigkeit von einer Grundnorm sind sie begründbar  und gültig. 

Diese Rechtstheorie ist philosophisch wohl berechtigt als idealistisches Denken zu bezeichnen! Ich zitiere hier W. SCHÜLER:  

An die Stelle dieser Reflexivität setzt der Idealist die Reflexion auf ein je einzelnes, das für ihn die Voraussetzung für ihr Eingreifen bildet, denn die Reflexion bedarf eines Gegenstandes, auf den sie sich richtet. Indem sie ihn aber im Wissen vermittelt, schafft sie gerade durch diesen Vermittlungsakt eine neues Objekt, nämlich das durch sie Vermittelte. Die auf jeder Stufe vollzogene Objektivierung, verbunden mit der Aufrechterhaltung des genannten Prinzips, leitet somit – theoretisch gesehen – einen unendlichen Regress ein. Infolgedessen kann der Idealismus sein Ziel einer totalen Auflösung des Seins in das Wissen prinzipiell nicht erreichen.“1

Indem die Reine Rechtslehre das Recht gegen die Natur abgrenzt, sucht sie die Schranke, die die Natur vom Geist trennt. Rechtswissenschaft ist Geistes‑, nicht Naturwissenschaft. Man kann darüber streiten, ob der Gegensatz von Natur und Geist mit dem von Wirklichkeit und Wert, Sein und Sollen, Kausalgesetz und Norm zusammenfällt; (….)“ (RR1, ebd. S 12 u. v. a).

Der Verweis auf das Sollen im Unterschied zum Sein (siehe besonders auch Abschnitt 6. „Geltung und Geltungsbereich der Norm“, S 7, oder siehe Abschnitt 8, „Recht und Gerechtigkeit“), diese Unterscheidung und Trennung scheint ihm durch die Tradition bei HUME und durch KANT hinlänglich bewiesen und gerechtfertigt zu sein. Es sei aber dringend angemerkt, dass diese philosophische Tradition nicht der vollständige Begriff des Transzendentalen ist, worin Sein und Sollen sehr wohl in differenzierter Einheit zusammenhängen. 

Zu den historischen Ursprünge von „Sein und Sollen“ bei H. Kelsen siehe z. B. bei T. Olechowski.2 (Zu D. HUME Realismus 3 bzw. zur kantischen Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft, wäre jetzt natürlich viel zu sagen.)

Seltsamerweise übernimmt H. Kelsen einmal diese prinzipielle Trennung von Sein und Sollen (nach HUME und KANT), spricht in der RR1 vom zentralen Begriff der „Zurechnung“ (ebd. Abschnitt „Die Auflösung des Begriffs der Person, ebd. S 52ff), die als juridische Grundfunktion der praktischen Vernunft angesehen werden kann, aber in der RR2 verwirft er wieder den Begriff der „praktischen Vernunft“ bei KANT. Ein „Vernunftrecht“ ist widersprüchlich – siehe dort RR2, Abschnitt 23 u. Abschnitt 24 mit ausführlichen Fußnoten zu KANT S 102ff, oder siehe Anhang II Naturrechtslehre, S 415ff. Warum ist er hier gegen KANT skeptisch? Da müsste er dessen Trennung von Sein und Sollen auch skeptisieren?! 

Ich erwähne das nur, weil ich darin nicht eine mangelnde historische Kenntnis von „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (1785) oder „KpV“ (1788) bei H. Kelsen aussagen  will, im Gegenteil, er kennt Kant genau, aber gerade deshalb verwirft er diese ihm gut bekannte vernunftrechtliche Position einer Rechtsbegründung (vgl. RR2, S 415ff u. 420ff), um seine formallogische Position der Reinen Rechtslehre darzulegen und durchzusetzen.  Die Herleitung der Ethik und der Legalität durch die praktische Vernunft bei KANT ist für ihn naturrechtliche, transzendent-theologische Position und Begründung, und deshalb irgendwie widersprüchlich und unbrauchbar. Warum?  

Er  möchte sich bewusst absetzen von allen „Ideologien“ und Naturrechtstheorien, wie er sagt. Siehe besonders ausführlich das Thema „Naturrecht“ im Anhang der zweiten Auflage 1960 (RR2, S 402 ff). 

Er geht schließlich im Schlusskapitel der RR2 – vielleicht etwas abgeschwächt? –  den mit der RR1 1934 eingeschlagenen Weg einer konstruktivistisch entworfenen,  nomologischen Begründung des Rechts konsequent weiter, d. h. aus einer evident sein sollenden Begrifflichkeit von Norm oder Grundnorm werden die Folgesätze des Rechts abgeleitet und begründet – siehe ebd. RR2, S 402 – 444. 

2) Diese idealistische Argumentation schlägt irgendwann in eine realistische,  naturkausale Beobachtung des Rechtsvorgangs um, sobald alles zur Anwendung kommt:  Z. B. kommt gerade im Kapitel über das transzendente?  und transzendentale Sollen bemerkenswert der Satz vor, dass kausal (also realistisch) etwas  erklärt werden soll, d. h. analog zur sinnlichen Natur und dem vorgestellten Seienden soll mittels „Zurechnung“ ein kausaler Zusammenhang von Norm und Rechtsurteil erfolgen. Diese realistische Beobachtung und Bestandsaufnahme kann  aber keinen Geltungsanspruch und kein werthaftes Denken und kein übernatürliches Soll im Rechtsbegriff begründen, sofern es eine real-kausale Ursache haben soll?! 
Positiv kann mittels Zurechnung und Regel Recht wie Unrecht sanktioniert und legalisiert werden?  H. Kelsen sieht hier das methodische  Vorgehen unproblematisch und die Folgen als „positives Recht“ und als „Sollen“. 
Der Ausdruck dieser als »Zurechnung« bezeichneten Beziehung und damit der Ausdruck der spezifischen Existenz des Rechtes, seiner Geltung, das heißt des eigentümlichen Sinns, in dem die zum System »Recht« gehörigen Tatbestände in ihrer wechselseitigen Verbundenheit gesetzt sind – und nichts anderes – ist das Sollen, in dem die Reine Rechtslehre das positive Recht darstellt; so wie der Ausdruck der Kausalgesetzlichkeit das Müssen ist.“ (ebd. S 22)

Die deduktiv-nomologischen Folgerungen eines Zwangsrechts oder generell des Rechts in und aus einer Norm in der Beurteilung eines Tatbestandes gründet sich  auf eine einfache, idealistisch gedachte Regel –  gerade so, wie der Realist eine naturale  Gegebenheit voraussetzt und das als Ursache eines Tatbestand festhält. Aber fehlt hier nicht wesentlich die Anschauung eines sittlich-rechtlichen  Gehaltes wie z. B. die Anschauung eines Grundrechts der anderen Person, oder die Anschauung der Idee von Gerechtigkeit, weil diese gerade nicht durch positive Gesetzgebung erst eingeführt und sanktioniert werden kann?  

Das Gedachte einer idealistisch/realistisch angesetzten, theoretischen Norm wird als Prinzip eingeführt, wird dann prinzipiell auf das Etwas eines Tatbestandes bezogen, und ein juridisches Urteil (oder eine gesetzgebende Rechtssatzung, d. h. eine administrative Verordnung) ist die Folge dieses Prinzips. Woher kommt jetzt die Geltung und Gültigkeit des Prinzips? Vom Korpus des Gesetzeswerk, von einem Parlament, vom einem Souverän wie  „Volk“? 

Ebenfalls aus dem Abschnitt über das Sollen: Dies in der Weise, daß die Rechtsnorm nicht, wie es von der tradi|tionellen Lehre zumeist geschieht, so wie die Moralnorm als Imperativ, sondern als hypothetisches Urteil verstanden wird, das die spezifische Verknüpfung eines bedingenden Tatbestandes mit einer bedingten Folge ausdrückt. Die Rechtsnorm wird zum Rechtssatz, der die Grundform des Gesetzes aufweist. So wie das Naturgesetz einen bestimmten Tatbestand als Ursache mit einem anderen als Wirkung verknüpft, so das Rechtsgesetz die Rechtsbedingung mit der Rechts‑, d. h. mit der sogenannten Unrechtsfolge.“ (ebd. RR1 S 21.22)

3) Dies ist m. E. typisch positivistisches Denken, wohl in Wien um die Jahrhundertwende und in den 20-iger Jahren des 20. Jhd. in die österreichische Verfassung eingeflossen. Die Verfassung in ihrem Text  möchte ich dabei gar nicht kritisieren, falls sie wirklich eingehalten wird. Aber das war ja dann das Problem ab März 1938, dass die positiv aufgehoben wurde, wie sie positiv eingeführt wurde. Das Naturrecht oder Vernunftrecht ist untergegangen.  

Anders gesagt und nochmals analysiert: Es klingt eine „reine Rechtslehre“ nach Rechtsbegründung und Rechtsableitung, aber die Schematisierung und Anwendungsbedingung des Rechts wird ohne Konstitutionsgenese auf die Realität bzw. auf das Sein eines Tatbestandes (Sachverhaltes) übertragen im Sinne eines idealistischen/ realistischen Zusammenhangs. M. a. W. die konditionale Grund-Folge-Ordnung  einer Geltungsbegründung, z. B. aus der Idee der Freiheit heraus, oder aus dem Sittengesetz heraus, wird nicht zu einer reflexiven Anwendung  von Denken und Sein weitergeführt, mithin zu weiteren  Rechtsbegründungen und Rechtssätzen, sondern ein idealistisches Denken wird auf einen realen, kausalen, empirischen Wirkungszusammenhang übertragen  und zu einer positiven Rechtsordnung ausgebaut. Das kann gut gehen – aber genauso könnte man höchstes Unrecht gutheißen?!  

Woher sollte H. Kelsen höhere Geltungsbegründungen von Recht und Wert und Würde haben, wenn er nur die kantischen Verstandesbestimmungen für eine sinnliche Natur kennt, nicht die ausdrücklichen Reflexivitätsbestimmungen der Urteilskraft, die eine andere Person als solche, in ihrer Zweckhaftigkeit, erfassen, oder reflexive Urteile zu gewissen Tugenden ausarbeiten? Personalität, Interpersonalität lässt sich mit sinnlichen „Kategorien der Erfahrung“ gemäß KrV  nicht denken. Die ausgesprochen gute Kenntnis KANTS – siehe dann z. B. zum Problem der Willensfreiheit bei KANT, Anmerkungen in den Abschnitten 23. u. 24 der RR2, ebd. S 102ff – hilft ihm hier nicht weiter.  

Reine transzendentale Reflexivität durchzuhalten in einer Wechselwirkung von conditionalem Bedingungsgefüge und kausaler Folgeerklärung würde jetzt einen transzendenten wie immanenten Geltungsgrund der Bedingung der Wissbarkeit von Einheit wie Disjunktion verlangen – was mich hier aber weit über KANT und H. Kelsen hinausführen täte – aber in dieser Disjunktionseinheit liegt  der Rechtsbegriff in seiner Geltung und Anwendung. In der Anerkennung anderer Freiheit – conditionales Grund-Folge-Verhältnis – liegt ein naturrechtliches, kausales Folgeverhältnis von Achtung anderer Freiheit und daraus ableitbarer Rechte und Pflichten. 

4) Ich möchte mit W. SCHÜLER realistische Zweifel an der idealistische Position H. Kelsen S anbringen.4

a) Das Prinzip der „Norm“ (in der 2. Auflage wird die „Grundnorm“ besonders hervorgehoben) erklärt sich ja nicht von selbst, ist kein sich reflexiv wissendes, transzendentales Wissen, sondern ein konventionell eingeführter, subjektiver Begriff.

b) Die Sinnhaftigkeit der Begriffsbildungen wie „Norm“, „Recht“, „Tatbestand“ kann angezweifelt werden. Dies ist ja der große Vorzug der transzendentalen Naturrechtslehre bei FICHTE, dass die Hauptbegriffe wie „Recht“, „Urrecht“, Eigentumsrecht,  Zwangsrecht, Gemeinwesen,  a priori nur aus der Vernunft und dem Vernunftvollzug selbst abgeleitet und bestimmt sind, nicht von außen eingeführt. Die oftmaligen Angriffe bzw. Zurückweisungen H. Kelsen von naturrechtlichen Objektivierungen von Recht, Gerechtigkeit usw. sind manchmal berechtigt, weil tatsächlich in vielen Naturrechtslehren die transzendentale Rechtfertigung fehlt, wodurch sie unbewiesen erscheinen. Aber seine Begriffe und positiven Rechtssatzungen sind ebenfalls unbewiesene Objektivierungen. Wenn er naturrechtliche Ableitungen ablehnt, wie begründet er seine „Normen“? 

c) Die Gültigkeit von Begriffen hinsichtlich des Umfanges ihrer Anwendbarkeit ist stets nur faktisch und prozedural, aber weist keinen allgemeinen, von allen für alle zu allen Zeiten einsichtigen Geltungsgrund auf. Die ziemlich am Anfang eingeführte Deklaration einer „Norm“ (RR1, Abschnitt 5, Die Norm als Akt und Sinngehalt, S 6 – 7) beweist ja den Zirkel der Beweisführung. Eine aposteriorische Feststellung eines Folgesatzes oder eines Tatbestandes (Sachverhaltes) bedingt die Norm, und umgekehrt bedingt der Begriff der Norm die Erkenntnis des Folgesatzes. 

Siehe Zitat oben RR1 S 21.22 – „das die spezifische Verknüpfung eines bedingenden Tatbestandes mit einer bedingten Folge ausdrückt.“  Im Unterschied zu einer ideologischen oder naturrechtlichen Rechtsordnung, wie Kelsen sagen täte, kommt es in einer Positiven Rechtsordnung zu einer einsichtigen Erzeugung dieser Ordnung in einem demokratischen Verfahren (…)“ (ebd. RR1 S 44). Die Einsicht in einen Geltungsgrund von Wahrheit, Recht, Freiheit – wird sie durch das Verfahren und einer Methode ersetzt?  

Es heißt ziemlich am Anfang der Definition der Norm, RR1 S 6: „Wenn von »Erzeugung« einer Norm gesprochen wird, so sind damit immer Seinsvorgänge gemeint, die die Norm als Sinngehalt tragen. Die Reine Rechtslehre ist nicht auf irgendwelche seelische Prozesse oder körperliche Vorgänge gerichtet, wenn sie Normen zu erkennen, wenn sie irgend etwas rechtlich zu begreifen sucht. Etwas rechtlich begreifen, kann nichts anderes heißen, als: etwas als Recht begreifen.“ (Hervorhebung von mir)

Das „als Recht begreifen“ ist ein faktischer Reflexionsschluss,  eine nachträgliche Kennzeichnung und Beschreibung eines Sachverhaltes (Tatbestandes) ein „Seinsvorgang“, wie er selber sagt. Das ist aber nur gutgläubiger und naiver Realismus – und obendrein gefährlich, den eine „Erzeugung durch demokratisches Verfahren“ kann zu größtem Unheil führen. Die Diktatoren dieser Welt haben sich meist allesamt legal wählen lassen.   Die Schematisierungs- und Anwendungsvorgänge („Erzeugung“) sind keineswegs in ihrer reflexiven Begründung und ihrem Geltungsanspruch  durchschaut und die Begriffs-Bilder wie „Grundnorm“, „Norm“ sind  epistemologisch nicht abgeleitet und begründet.

Diese oftmaligen Rückschluss– und Identitätsverfahren, wie sich aus der Norm das Recht und das Recht aus der Norm ableitet, kehrt immer wieder, als begründe begrifflich-logisches Denken schon die Anschauung und den Sinngehalt. Irgendwie ist das von H. Kelsen sogar bewundernswert konsequent durchgezogen ohne offensichtlichen Selbst-Widersprüche im Detail. Im Ganzen und in manchen Details könnte aber die nomologisch-deduktive Rechtsableitung  für alle Bereiche des Rechts – z. B. für Zivilrecht, Strafrecht, Staatsrecht etc… falsch sein.5

Der Abschnitt 28 „Die Rechtsordnung als Erzeugungszusammenhang“ (RR1, ebd. S 63 – 66) beschreibt in durchdachter, erfahrener, kritischer Selbstreflexion den Vorgang der Rechtsbegründung in einem positiven, parlamentarischen Verfahren. H. Kelsen ist aber nicht so selbstkritisch, dieses Verfahren als Ganzes einem realistischen Zweifel auszusetzen!?

Man darf sich nicht wundern, wenn H. Kelsen „Reine Rechtslehre“ stets starken Angriffen ausgesetzt war.6

Die Grundnorm einer positiven Rechtsordnung ist dagegen nichts anderes als die Grundregel, nach der die Normen der Rechtsordnung erzeugt werden, die Ein-Setzung des Grundtatbestandes der Rechtserzeugung. Sie ist der Ausgangspunkt eines Verfahrens; sie hat einen durchaus formal-dynamischen Charakter.“ (RR1, Abschnitt 68, ebd. S 64)

H. Kelsen verstrickt sich nolens volens in einen idealistischen Regress der Objektivierung eines Sinngehaltes der Norm, weil er nur begrifflich-logisch, ohne innere Anschauungskette, zur Norm oder einer „Grundnorm“ zurückkehren kann. Hier schon in der RR1 – oder siehe sehr bezeichnend und selbstdeutend der Schlussabschnitt in der RR2, Abschnitt 52, S 442ff; oder Abschnitt 34: Der Geltungsgrund einer normativen Ordnung: die Grundnorm, RR2, S 196ff.

Die „Grundnorm“ wird dort (RR2, S 443f) zum „Geltungsgrund“ erhoben, obwohl die Norm bzw. Grundnorm ja ursprünglich nur durch Schematisierung und Verfahrensregel eingeführt wurde?! Das Wort „Geltungsgrund“ ist mehr als schillernd, ist eine Äquivokation von wahrer Geltung und bloß logischem Verfahren. Wie manche Sprachphilosophen das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption KANTS zu einem bloß logischen Subjekt erklären, und somit in ein totales Missverständnis KANTS umkippen, so scheint mir dieser „Geltungsgrund“ nicht synthetisch das herzugeben, was er soll: zu begründen und zu rechtfertigen eine Evidenz von Wahrheit, Recht, Gerechtigkeit. 

H. Kelsen geht oft auf seine Kritiker ein, besonders in der RR2, was sein hohes Problembewusstsein beweist, aber explizit grenzt er immer wieder die „positivistische“ (!) (RR2, S 442) Rechtstheorie von einer Naturrechtslehre ab.

Er weiß um viele Fragen, kennt viele Einwände, die ich hier nicht bringen kann, und doch flüchtet er sich schlussendlich im Schlussabsatz in diesen schillernde Begrifflichkeit von „Geltungsgrund“?!

Der Geltungsgrund wird von der Naturrechtslehre inhaltlich behauptet, das schildert H. Kelsen ja zutreffend, grenzt aber dann doch seine Rechtslehre als bessere und schlüssigere Geltungsbegründung davon ab!? Der Inhalt wird dem „durch die Verfassung bestimmten Prozess der positiven Rechtserzeugung“ überlassen. Das halte ich für gefährlich – und hat die Geschichte bewiesen.  (RR2 ebd. S 442; zum „Geltungsgrund“ und zur Grundnorm in der RR1 siehe  dort ab Abschnitt 28ff, S 63ff)

Diese Denkart eines hermeneutischen und logischen Zirkels wird von W. Schüler – im Zusammenhang der Begründung der Mathematik – als idealistische Position beschrieben. Es ist einer conditionaler „wenn-dann“ Modus, der aber nur begrifflich wahr und gültig ist.

(…) der Wesensstandpunkt (sc. des Idealisten) intendiert die Auflösung jeglichen Seins. Konsequenterweise bevorzugt der Idealist eine Denkart, in welcher der Seinsaspekt weitgehend zurücktritt. Diese Bedingung erfüllt der Modus „wenn – dann“, weil bei ihm das Sein hypothetisch ist. Zur Beantwortung der Frage, ob eine Aussage B aus einer Aussage A folgt, richtet man den Blick nicht primär auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen für sich, sondern auf ein Verhältnis, in dem sie zueinander stehen können. Das Interesse des Idealisten an der Folgerungsbeziehung steht im Zeichen des Vorranges, den er den Beziehungen überhaupt gibt. Die Rechtmäßigkeit dieser Auffassung sieht er darin begründet, daß ein Begriff nur durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen erstellt werden könne. Für ihn sind die Begriffe vollständig durcheinander vermittelt; an sich sind sie danach nichts, alles was sie ausmacht, sind die Beziehungen, in denen sie zu den anderen Begriffen stehen.“ 7

5) H. Kelsen ist ungemein belesen und zitiert z. B. in der RR2, Anhang zur Gerechtigkeit, die Naturrechtsstandpunkte von der Stoa bis zu THOMAS VON AQUIN, zitiert die historische Rechtsschule u. a. m. Er beweist ein höchstes, historisches Problembewusstsein. Nach ausgiebiger Diskussion verwirft er aber alle diese Ansätze als relativ und widersprüchlich.

Wie steht er selbst zu Existenz und Wahrheit seiner Begriffe und Aussagen? Wie begründet er den hohen Anspruch seiner positiven Rechtslehre? Es darf nach der „Einstellung des Idealismus zu Existenz und Wahrheit“ gefragt werden:

Dem radikalen Idealismus ist alles Gesetzte Produkt des Begriffes, unbeschadet dessen, daß dieser für ihn nur Bestand hat durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen. Ein Objekt ist damit nicht nur im Begriffe gegeben, vielmehr ist es allein durch ihn, d.h. der Begriff ist der alleinige Grund seiner Existenz. Darüber hinaus ist der Begriff für den Idealisten mitbestimmend für die Wahrheit, indem er sie, wenn auch nicht total, so doch zumindest partiell, als von dem Begriffe abhängig versteht. Er verweist darauf, daß die Wahrheit im Denken hervortritt und glaubt sich daher berechtigt, dem Denken eine mitbegründende Funktion für die Wahrheit zuzuerkennen.“8

Das ist aber nicht Transzendentalphilosophie, die wesentlich a) die Kontingenz des eigenen Existenzaktes und b) das Element des unableitbaren Faktums, hier der Interpersonalität überhaupt, bedenkt. Ein DESCARTES, JACOBI, FICHTE ist hier viel kritischer und vor allem synthetischer in der sonst auch konstruktiv-deduktiv  vorgehenden Naturrechtslehre.

Es könnten jetzt noch mehr realistischer Zweifel an der idealistischen Position, wie umgekehrt idealistischer Zweifel am Realismus, vorgebracht werden. Beide einseitigen Positionen teilen sich den Einwand des Scheins an die jeweils  gegenüberliegende Seite. Die Gewissheit des Denkens und der Begrifflichkeit kann nicht erwiesen werden – so der Vorwurf des Realisten an den Idealisten – die Gewissheit des Objektes z. B. eines Naturrechts  oder eine Idee von Gerechtigkeit kann nicht erwiesen werden – so der Vorwurf des Idealisten an den Realisten, deshalb nur „Grundnorm“, „Norm“. 

Beide Standpunkte teilen sich sogar eine partielle Identität mit dem gegenteiligen Standpunkt: Der Idealist muss an der Zweifelsrealität (z. B. Naturrecht, Gerechtigkeit) festhalten, der Realist an der Identität seiner eigenen Aussagen und seiner Begriffe. Es kommt immer  zu einer partiellen Anerkennung der Gegenposition. 9

Die realistische Bezweifelbarkeit einer nur formallogisch begründeten positiven Rechtsordnung liegt auf der Hand, wenn H. Kelsen die immer wieder unklare, äquivoke Bedeutung von „Grundnorm“ als „Geltung“ einfordert und noch stolz ist darauf. Der Vorwurf des Realisten könnte jetzt so formuliert werden, dass dieser idealistische Inhalt und diese angeblich gültige Norm nur trüglicher Schein ist.

28. Die Rechtsordnung als Erzeugungszusammenhang. Anders die Normen des Rechts. Diese gelten nicht kraft ihres Inhalts. Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden.“ (RR1 S 63) 10

Dazu jetzt noch  T. Vesting in einer Gesamteinschätzung von H. Kelsen und seinem scharfen Kritiker HERMANN HELLER: „So gelangten beide (Kelsen und Heller) zu einem primär verfahrensorientierten Verfassungskonzept, akzeptierten den auf einer Fülle von Gliederungen aufbauenden Parteienstaat und sprachen sich für eine politische Form aus, die, durch eine Vielzahl von Parteien, Verbänden und Organisationen aller Art vermittelt, in friedlicher Weise auf sich selbst einwirkt. Beide hielten eine Verfassung für lebensfähig und wohl auch für wünschenswert, die über die Sozialtechniken der parlamentarischen Repräsentation und des Mehrheitsprinzips die soziale Homogenität durch ihre Einrichtungen und Verfahren eher zu erzeugen vermochte, als sie voraussetzen zu müssen; und beide glaubten schließlich daran, daß Theorie und Praxis des demokratischen Verfassungstaates mit der Übertragung des mechanischen Weltbildes auf das gesamte Leben dem Sozialismus Schritt für Schritt näher kommen würden.“ 11

Das war spätestens  ab dem 30. Jän. 1933 in Deutschland sowohl für H. Kelsen wie für H. HELLER bittere Realität.  Der Unrechtsstaat des Nationalsozialismus hatte begonnen. Seine positiv erlassenen Rechtssatzungen waren gerade nicht gerechtfertigt und das „Recht“ hat sich parlamentarisch gerade als höchstes Unrecht gezeigt.  Das geht heute genau so weiter, denken wir an die Diktaturen oder an diverse rückständige Verfassungen z. B. selbst in der USA, die sich demokratisch nennen. Von religiösen Diktaturen, auf vermeintlich göttlichen Gesetzen beruhend, positiv erlassen in den heiligen Schriften, müsste ebenfalls gesprochen werden, z. B. wie im Iran.  Die Diktatoren generell lassen sich „demokratisch“ wählen, die Verfassungen und Gesetze werden positiv erlassen – und alles scheint rechtens zu sein. 

(c) Franz Strasser, 17. 6. 2021

1Wolfgang Schüler, Grundlegungen der Mathematik in transzendentaler Kritik, Hamburg 1983, S 101.

2Zu den historischen Hintergründen der Entstehung der RR1 siehe Studienausgabe zur 1. Auflage 1934 v. M. Jestaedt, 2008; oder siehe T. Olechowski, online-version abgerufen 16. 6. 2021. Siehe ebd. Bei T. Olechowski: „Und in seiner Allgemeinen Theorie der Normen ging Kelsen – nebst anderen Referenzen – bis auf David Hume (1711-1776) zurück, 11 der bereits 1739/40 in seinem Treatise of Human Nature die Sein-Sollen-Dichotomie behandelt hatte und nach dem diese auch in der Philosophie als „Humes Gesetz“ bekannt ist. Mit diesen Bemerkungen soll nur angedeutet werden, wie sehr sich Kelsen um eine erkenntnisphilosophische Fundierung seiner Rechtstheorie bemühte und welch große Probleme diese Richtungsänderungen mit sich brachten.

3Bei jedem System der Moral, das mir bislang begegnet ist, habe ich stets festgestellt, dass der Autor eine gewisse Zeit in der üblichen Argumentationsweise fortschreitet und begründet, dass es einen Gott gibt, oder Beobachtungen über menschliches Verhalten trifft; dann plötzlich stelle ich überrascht fest, dass anstatt der üblichen Satzverknüpfungen, nämlich ‚ist‘ und ‚ist nicht‘, ich nur auf Sätze stoße, welche mit ‚soll‘ oder ‚soll nicht‘ verbunden sind. Diese Änderung geschieht unmerklich. Sie ist jedoch sehr wichtig. Dieses ‚soll‘ oder ‚soll nicht‘ drückt eine neue Verknüpfung oder Behauptung aus. Darum muss sie notwendigerweise beobachtet und erklärt werden. Zugleich muss notwendigerweise ein Grund angegeben werden für dies, was vollständig unbegreiflich erscheint: Wie nämlich diese neue Verknüpfung eine logische Folgerung sein kann von anderen, davon ganz verschiedenen Verknüpfungen… Ich bin der Überzeugung, dass eine solche geringfügige Aufmerksamkeit alle gewohnten Moralsysteme umwerfen würde. Sie würde uns außerdem zeigen, dass die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht nur auf den Verhältnissen von Objekten gründet und auch nicht mit der Vernunft wahrgenommen wird.“ David Hume: A Treatise of Human Nature (Buch III, Teil I, Kapitel I), https://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz (Stand: 16. 6. 2021).

4Vgl. zum realistischen Zweifel an der idealistischen Position ebd: Grundlegung der Mathematik in transzendentaler Kritik. Frege und Hilbert, Hamburg 1983, S 105 – 106.

5Ich tappe hier etwas im historischen Dunkel: Implizit nimmt H. Kelsen in seinem formallogischen Ansatz der Begründung und Verknüpfung doch auf materiale Inhalte des Rechtes und der Gerechtigkeit Bezug?!  Gerade der Neukantianismus des 19. Jhd. hat die Wert-Inhalte in jeder Erkenntnis hervorgehoben. Wenn H. Kelsen davon stark geprägt war, ist anzunehmen, dass seine „Positive Rechtslehre“ ebenfalls von diesen hintergründigen Wertinhalten und Wertanschauungen ausging, aber aus mir noch nicht erkennbaren Gründen, wollte er eine möglichst weltanschaulich neutrale, bloß „logische“ Rechtsbegründung und Rechtsanwendung angeben?! Die intellektuelle Anschauung muss ja stets dabei sein, sonst könnte überhaupt nicht gedacht werden, nur wird deren Inhalt nachträglich uminterpretiert.

6Siehe z. B. eine Schilderung bei T. Vesting, Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Philosoph vol. 77, Nr. 3 (1991) , S. 348-373 (26 Seiten) online-version, abgerufen 16. 6. 2021.

7W. Schüler, ebd. S 101.

8W. Schüler, ebd. S 101

9W. Schüler, ebd. S 106.

10T. Vesting beschreibt diese Konsequenz so: „Diese Ansicht hat Kelsen dann mit aller Konsequenz durchgehalten, als er selbst den Maßnahmen eines Regimes, das ihn seiner materiellen Existenzgrundlage beraubte und ihn zur Auswanderung zwang, den Rechtscharakter nicht absprach.“ (Aporien, a. a. O., Anm. 6, Seite 355) Das gibt’s doch nicht, kann ich nur sagen! Dass spätestens hier H. Kelsen nicht Zweifel kamen!

11Siehe Internet, Aporien, a. a. O., S 368.
Die „Reine Rechtslehre“ von H. Kelsen ist unzählig oft schon kommentiert und interpretiert worden, siehe diverse historisch-kritische Kommentare, siehe die Vorarbeiten aus dem Jahre 1911 u. a. Schriften. Zur RR1 siehe, wie gesagt, M. JESTAEDT, 2008 – Buchhandel:

Im Internet auffindbar z. B. von M. JESTAEDT zur 2. Auflage RR2 1960: http://www.ciando.com/img/books/extract/3161564642_lp.pdf

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser