Gottfried Boehm, Der Grund. Über das ikonische Kontinuum, a. a. O., S 28 – 92.1Ein Kommentar
Der erste Teil bis zur Seite 65 umfasst eine vielseitige, etymologische, mythologische und philosophiehistorische Umschreibung und Beschreibung, was Grund alles heißen kann.
Ab den Seiten 65 -75 kommt der Auto zu einer Explikation, was und wie ein „Grund“ vom Begriff her gedacht werden kann. Natürlich zeugt der ganze Artikel von einer ungemeinen Belesenheit und einem großen Kunstsinn, aber je begrifflich genauer der Autor werden soll, umso metaphorischer und ungenauer wird er. Er verfällt m. E. ins bodenlose Dichten und assoziative Denken, wie ich das einem Dichter gerne zubilligen möchte, aber nicht, wenn es um Begriffsbestimmung geht. G. Boehm will wahrscheinlich nicht weiter hinaus, denn es soll gar nicht um den absolut ersten Grund von Denken und Sein gehen, sondern nur um den Grund, wie er sich in den vielfältigen Formen eines kunstästhetischen Bildes ausdrückt? Dafür kennt er das Repertoire der Ikonographie und Ikonologie und was die Kunstgeschichte in letzter Zeit hervorgebracht hat, doch transzendentallogisch kann so der Grund sicher nicht bestimmt werden.
Ich möchte diese von ihm quasi aufgezählten Beschreibungen des Grundes in ein paar Seiten wörtlich zitieren, um ihm nichts zu unterstellen – und dann meine unmaßgebliche Kritik bringen. Das Übrige des Aufsatzes war aber ein Gewinn, die Kritik, wiederum nicht ad personam, sondern um des wissenschaftlichen Fortschrittes willen. (Das rot Hervorgehobene ist wörtlicher Text v. G. Boehm.)
S 65 – 71. Der Grund als Kontinuum
So vielfältig lesbar sich der Grund auch erwiesen hat, eine Eigenschaft kehrte wieder und sie zeichnet ihn aus: die der Kontinuität. Kein Grund ist, wo es daran mangelt. Doch manifestiert sie sich höchst verschieden: abstrakt als ein mathematisches Kontinuum, zum Beispiel der Zahlen, als die Unabsehbarkeit des Unendlichen oder als eine theoretische Kategorie der Philosophie bzw. – als eine zugleich materielle und anschaubare Größe, als der Grund des Bildes. Dieser wiederum zeigt sich in aller Regel als die andere Seite der Figuration, als Bedingung ihres Erscheinenkönnens. Nimmt man den Grund lediglich als den statischen Träger jeweiliger Zeichen, dann reduziert man ihn, wie wir gesehen haben, auf eine bloße Oberfläche und übersieht sein fundierendes Potenzial. Die Frage: Was macht den Grund zum Grund?, mündet mithin in eine Diskussion der Eigenschaften und Funktionen des anschaulichen, materiellen Kontinuums. (…) (ebd. S 65.66)
In diesem kurzen Vorspann weiterer Beschreibungen des Begriffes Grund offenbaren sich für mich viele verschiedene Ebenen, die untereinander eigentlich nicht zusammenhängen oder nicht verwischt werden dürften.
a) Die Kontinuität (synonym wohl zu Kontinuum von G. Boehm verwendet) äußert sich „abstrakt als ein mathematisches Kontinuum, zum Beispiel der Zahlen“.
Wenn ich bei Kant nachschlage, meint dieser aber gerade es anders herum im Schematismuskapitel. „(….) Dagegen wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z.E. Tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letztern Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem |Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. In der Tat liegen unsern reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde….“ (KrV, B 180).
Es bleibt hier noch eine gewisse Anschaulichkeit der Schematisierung, aber es geht klar in Richtung einer intellektuellen Synthesis, einer bloßen Regel.
Andere Bemerkungen zur Mathematik bei KANT finden sich in der KdU § 59, worin die Anschaulichkeit der arithmetischen und algebraischen Zeichen nochmals zugunsten einer semiotische Anschaulichkeit zurückgenommen ist. Zur Begründung der Mathematik bei KANT siehe z. B. Grünewald, Geist, Kultur, Gesellschaft, a. a. O., S 265 – 278, der das Problem mit einer Art realen „Mannigfaltigkeitsordnung“ zu lösen versucht. Während die (euklidische) Geometrie der Anschauungsform des Raumes durch die synthetische Einheit der Verstandesbegriffe eine gegenständliche Bedeutung gibt, ist die Arithmetik eine Wissenschaft, die zwar in ihren Beispielen der Raum- und Zeitanschauung bedarf (durch die 10 Finger, durch Punkte …; vgl. Kants Beispiele etwa in der Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft“), aber diese Veranschaulichung der zu zählenden Quanta lässt deren anschauliche Relationen und Strukturen gerade völlig unberücksichtigt, so sehr, dass auch gänzlich Unanschauliches – wie logische Prinzipien oder mathematische Axiome – zählbar sind.
Von den räumlichen Größen, quanta in der Geometrie, ist also die formale Anschauung (nicht Form der Anschauung wie bei Zeit und Raum) der Mathematik, die quantitas in Arithmetik und Algebra, zu unterscheiden.
Eine schematische Konstruktionsform nach einer Regel (einem Gesetz) innerhalb der quantitas der Arithmetik hat aber definitiv nichts mit einem begrifflichen „Kontinuum“ zu tun, als sei die Vorstellung einer quantitas und eines Zahlensystems eine kontinuierliche Sache, eine Zeit- und Raumbestimmung – wie mir das bei G. Boehm der Fall scheint. Auf jeden Fall wäre genauer zu unterscheiden, zwischen geometrischer Anschauung a priori und der mathematischen Anschauung – und der Begriff „Kontinuum“ eignet sich hier nicht.
Aber wahrscheinlich schwebt G. Boehm gar keine, weder geometrische noch mathematische Anschauung vor, wie Kant einmal sehr schön Philosophie von Mathematik unterscheidet: „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Object ist, aber nichts destoweniger als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung) Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.“ (KrV, B 741)
Welche Anschauung schwebt G. Boehm im Denken des Grundes als „ikonisches Kontinuum“ vor? Die Frage ist sicherlich tiefgehend und sehr komplex.
Ein „Kontinuum“ entsteht für mich in einer zeitlichen Anschauungsform – und setzt a) eine intellektuelle Apperzeption der Zeit voraus bei einer bleibenden, unwandelbaren Einheit des Bewusstseins – und b) eine Art Schematisierung und Anwendung der Anschauungsform des „Kontinuums“, d. h. zuerst ein anfängliches Werden, begrifflich gefasst als „Kontinuum“.
Aber ich finde a) weder eine transzendentale Ableitung der Zeitform (als intellektuelle Apperzeption zusammengefasst), noch b) einen Begriff der Anwendung von Werden und Dauer auf die Anschauung, mithin einen Begriff von Schematisierung.
Was soll das noch werden? Also meint er „Kontinuum“ in einem räumlichen Sinn? Es ist ihm das nachzusehen, weil er von der Faktizität eines Gebildeten bereits ausgeht, von einer Figur, einer Malerei, einer Architektur, aber der Begriff des „Kontinuums“ oder der „Kontinuität“ eignet sich so denkbar schlecht für eine philosophische Suche nach dem Grund, wenn von vornherein eine räumliche Figur/Gestalt/Architektur oder ein fertiges Bild, ohne Genesis des Sich-Bildens, vorausgesetzt wird.
b) „Die Unabsehbarkeit des Unendlichen“ ist jetzt eine spezifisch transzendentallogische Erkenntnisfrage, und kann nicht einfachhin als quantitierte, äußere, anschauliche Substanz hingestellt werden, wie es m. E. G. Boehm hier tut. Wenn schon vom Unendlichen geredet werden soll, wogegen ich gar nichts hätte, so nur im Bild vom unendlichen Leben, das jedem individuellen Ich als universales Ich zugrundeliegt, aber durch die Ich-Form gerade selbst ein Vermögen und Postulat eines potentiellen Begreifens wird. 2 Dieser Sich-Selbst-Begreifbarkeit aus der Unendlichkeit muss freilich eine absolute Erscheinung und Begreifbarkeit zugrundeliegen, eine Absolutheit der Erscheinung, die aber nie als Ganzes, als aktuale Unendlichkeit, für ein endliches Bewusstsein fassbar ist.
G. Boehm meint aber ein Aktual-Unendliches? Damit verbaut er sich aber eine transzendentallogische Erklärungsweise, was als Satz vom Grunde wirklich Geltung beanspruchen darf, nämlich reflexiv bewusst ausgewiesen werden kann – – und nicht bloß als absoluter Grund vorausgesetzt und behauptet. Eine Unendlichkeit, die aufgewertet wird zu einer aktualen Unendlichkeit, ist für mich undenkbar – und mündet in einen unerklärlichen Materialismus/Idealismus.
c) „oder als theoretische Kategorie der Philosophie“. Das ist jetzt schon genauer, aber die „Kategorie“ verrät einen faktischen Ursprung des Kontinuums und des Grundes, zumindest deshalb, weil er den Verstandesbegriff der Kategorie nicht reflexiv ableitet.
G. Boehm kennt keine intellektuelle Apperzeption der Zeit (kein Linienziehen und die notwendige Folge einer Raumvorstellung) – und muss früher als erwartet die reflexive Ebene des Sich-Bildens verlassen und zum „Zeichen“ als Ersatz für das Dasein eines Kontinuums kommen. Die Vorstellung des Kontinuums wird zu einer Art Sammelbehälter (als konträr eigentlich zur Anschauungsform des Raumes bei Kant) und funktional zu einem „Zeichen“ und zu einem „Raum der Bedeutsamkeit“. (ebd. S 71).
Wenn im „Kontinuum“ einerseits eine transzendental-wissbare Bezugsstruktur zum Unendlichen aufscheint, oder zumindest aufscheinen soll, denn die Form einer aktualen Unendlichkeit ist nicht vorstellbar – so lasse ich diese Intention einmal konzediert stehen, weil er sich jetzt bemüht, das Kontinuum funktional in einem Zeichen zu fassen. Dagegen hätte ich nichts einzuwenden, wenn es beim stellvertretenden Zeichen bliebe! 3
Das Kontinuum – dann der Grund? – als ein abbildliches Repräsentationsverhältnis, als ein Bildverhältnis, als Zeichen, dem gegenüberliegt ein Bild des Abgebildeten, des Seins, in intuitiver und intelligierender Evidenz aufzuzeigen
Das verlangt jetzt eine Genesis der Erklärung. Wie macht es G. Boehm? Er gibt keine Genesis, wie es zur Vorstellung des Kontinuums kommt, sondern sein Denken richtet sich gleich auf ein objektiviertes Ding von „Kontinuum“, das dialektisch einem anderen Objekt, dem Grund des Kontinuums, entgegengesetzt ist. (Vgl. ebd. S 65f) Aber wie dialektisch vom Begriff des Grundes zur Anschauung eines Bildes oder zu einer Figur, einer Architektur oder zum Kontinuum gekommen werden kann, das entfällt total, d. h. die Genesis und die Schematisierung entfällt. Es wird objektivistisch bereits ein Kontinuum vorausgesetzt, und darin liegt die Kraft und der Grund und der Anfang eines übergehenden Bildens und Werdens und Bauens und Schaffens?
Wenn Boehm wenigstens bei einer substantiellen, gleichbleibenden, geistigen Einheit, einer Art platonischen „kentron“ bleiben würde, – wenn er schon die Genesis des Kontinuums nicht ableitet und die Absolutheit der Erscheinung nicht ansprechen will und nicht die Geltungsform einer „Ichheit“ – , stattdessen wird im Übergang zum Bilden und Werden und Bauen großzügig sogar auf Quantitabilität und Qualität verzichtet und unvermutet wird zu einem „Ort“ übergesprungen. Aber das wäre ja die Frage gewesen, wie komme ich zu einem Ort in der Raumanschauung?!
Die Lösung auf Seite 71 ist absolut undenkbar: „Die qualitative Ausgestaltung des ikonischen Wechselbezugs zwischen Grund und Figur ist nicht irgendein Vorgang in der Bildgeschichte, sondern ihr vielleicht produktivster Moment. Deshalb, weil hier darüber entschieden wird, auf welche Weise Sinn Gestalt annimmt, sich der eigentliche Nukleus der visuellen Kultur herausbildet. Wichtig erscheint es uns, festzuhalten, dass – aus der Perspektive des ikonischen Kontinuums – nicht nur eine Art Container für Zeichen zur Verfügung steht, sondern ein Raum der Bedeutsamkeit eröffnet wird. Bedeutsamkeit meint nicht: alle möglichen Bedeutungen auf einmal, sondern jene Voraussetzungen, die dafür geeignet scheinen, einen Ort zu schaffen und eine jeweilige Situation vorzuprägen. Was an Distinktionen erscheint, rückt unter die Vorzeichen eines situativen Totums, eben dieser Bedeutsamkeit.“
Für mich wird hier überhaupt der Titel eines „ikonischen Kontinuums“ fraglich, denn entweder ist etwas ein gebildetes Bild, ein „eikon“, dann kann ich es gut aus dem Bilden und Werden der geistigen Einheit des Ichs ableiten, aber deshalb ist es nie selbst kontinuierlich/kontinuierend. Nur in der unwandelbaren Wandelbarkeit des Bewusstseins entsteht ein Kontinuum und lagern die „Örter“ der Bilder und entsteht die Raumanschauung. Das Kontinuum ist ganz auf die sich durchhaltende Einheit in der Ichheit zurückgebunden. Das produzierte „eikon“ ist selbst nichts Kontinuierliches. Ein „ikonisches Kontinuum“ ist wörtlich eine contradictio in adjecto. Das Bild kann keine Kontinuum sein und das Kontinuum kein Bild. Wie soll aus einem situativen Totum eine Bedeutsamkeit entspringen, wenn sie vorher nicht aus der geistigen Einheit des Bildens apriorisch schon da ist und übertragen wird?
„Es geht darum, die Genese des bildlichen Sinnes nicht, wie gewohnt, von der Seite der Distinktion her zu beleuchten, von dem her, was sich in Bildern an Details unterscheiden lässt, sondern umgekehrt vom Ort her, an dem der Sinn entsteht. Das kontinuierende Momentum bleibt dabei ein Aspekt der ikonischen Differenz. Es wird sich des Weiteren aber auch zeigen, inwiefern sich im Kontinuum die chaotischen Kräfte des Grundes manifestieren und welche Rolle dabei überhaupt Potenzialität – als Inbegriff des Werdens, des Bewegungsantriebs, der Lebendigkeit und der Erscheinungsfülle – spielt. Ihren Wirkungsraum gewinnt sie dank eines Verzichts auf Distinktion. Zum Potenziellen gehören Vieldeutigkeit und der Glanz des Unbestimmten. Wir bauen nun auf Voraussetzungen und Einsichten weiter, die sich in den drei ersten Abschnitten bereits angedeutet hatten. Dazu gehören insbesondere die folgenden Gesichtspunkte:“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 66)
Man merkt hier, dass G. Boehm ins Schwärmen und Dichten gerät („Vieldeutigkeit und der Glanz des Unbestimmten“), für mich logisch einsichtig, weil ihm der Übergang fehlt vom Schematismus zum Bild und umgekehrt die Rückführung des Bildes auf das Schema.
Einen „Ort“, „an dem der Sinn entsteht“ als Ursprungs- und Sinnquelle, das ist überhaupt keine Erklärung, wie es zu einer semantischen Bedeutung von Bild, Figur, Architektur oder Kontinuum kommen kann.
Das Schematisieren a priori – das Kant nicht mehr aufgehellt hat – ist eine Zeitbestimmung a priori nach Regeln, die durch die Ordnung der Kategorien gegliedert ist: Die Schematisierung geht auf die Zeitreihe (Quantität), auf den Zeitinhalt (Qualität), auf die Zeitordung (Relation) und den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände (Modalität) (KrV B 185).
Die Schemate sind nichts als Zeitbegriffe a priori nach einer Regel. Wie kann G. Boehm auf einen spezifischen „Ort“ hinsteuern, der weder Bewusstsein ist, noch Licht, noch Einheit, aber von eminenter Kraft und Wirkung sein soll, eben heller, einsichtiger Grund?
Er widerspricht sich m. E. direkt, wenn er einmal diesen Grund als „geistiges Prinzip“ (ebd. S 67), dann wieder als „das anschauliche Kontinuum als materielles und ein ausgegrenztes Faktum“ (ebd. S 70) kennzeichnet, abgesehen davon, dass ja das die Frage wäre, was das „geistige Prinzip“ sein soll?
Die bisherige, großteils mythologische Beschreibung hilft hier nicht weiter, weil er ja in seiner Begrifflichkeit auf die Ebene des Denkens (nicht der Metaphorik und Mythologie) wechseln will.
Er müsste beim Schematismus einer streng gebundenen Einbildungskraft bleiben, wodurch mittels Linienziehen die Anschauungsformen von Zeit und Raum, die realen Objektivierungen der Hemmungen und Aufrufe, die Denkformen der Kategorien und höherer Begriffe, erst geschaffen werden.
G. Boehms „Differenz“ und „Potentialität“ hängen völlig in der Luft, weil deren Vorstellung ohne Rückbindung auf die Darstellungs- und Vorstellungskraft der Einbildungskraft (der Quantitabilität) gedacht wird – und ohne konkreten Bezug zur Hemmung oder zu einem interpersonalen Aufruf.
Er nimmt es nicht sehr genau: „ Potenzialität – als Inbegriff des Werdens, des Bewegungsantriebs, der Lebendigkeit und der Erscheinungsfülle (…)“
Das ist für mich Poetik, Assoziation, Introspektion. Alles wird schon real vorgestellt und dann „Kontinuum“ genannt. Woher kommt diese Potentialität und wie kommt es zu einem zeit- und raumlosen Schweben der Einbildungskraft und zu einem kontinuierenden Übergehen, mithin zu einem „Kontinuum“? Wenn im Zusammenhang mit einem bereits fertigen, ästhetischen Bild von einem Grund gesprochen werden soll, hätte ich von der Methode her kein Problem, einen architektonischen oder skulpturalen oder malerischen Grund im Objekt oder im Subjekt des Künstlers anzusiedeln, aber das ästhetische Bild wird ja als Resultat schon vorausgesetzt, ergo kann ich bis zum Grund als Prinzip dieses Resultates nicht mehr aufsteigen.
Die Vorstellung des Grundes wird bezogen auf eine objektivierte, faktische Vorstellung eines Bildes oder auf die objektivierte Vorstellung der Lösung einer Aufgabe, und ist somit immer schon befangener, nicht genetischer Grund dieser Vorstellung. Sowie z. B. die Arithmetik die Zusammensetzung zweier Zahlen in einer Anschauung a priori darstellt, als kategoriale quantitas und Größe, indem sie die in beiden Zahlen enthaltenen Einheiten nacheinander aufzählt und wiederholt, so ist der darstellende, erscheinende Grund ein spezifischer Grund der Geltung und der Wahrheit, der in und aus der Einheit des Wissens als solcher ausgewiesen werden können muss – ist er bloß spezifische Grund einer formalen Anschauung im Zahlensystem, oder z. B. Grund eines Substanz, einer Kausalität, einer Wechselwirkung, oder z. B. Grund einer freien Aufforderung.
Der spezifische Sinn des Grundes ist je nach Aufgabe und Thema und Bereich ein anderer. Ein naturaler oder gesellschaftlicher Grund wird von seiner Valenz her anders erscheinen als die Lösung der arithmetischen Aufgabe. Je existentieller, lebensumfassender der Grund sein wird, umso mehr wird das eine Gewissensfrage, welcher Erkenntnisgrund (Schematisierungsgrund) zur Anschauungsform von Zeit und Raum („Kontinuum“, wenn man so will) hinzugedacht wird.
Den höchsten Grund eines durch sich selbst bestimmten Willens als Wahrheits- und Geltungsgrund einzuführen, das verlangt freilich andere als mathematische Methoden des Aufzählens und andere Darstellungsweisen als des bloßen „Kontinuums“. Dies gilt m. E. ebenso in der Beurteilung von Bildern und Kunstwerken. Ohne sittlich-praktische Stellungnahme in der Rezeption eines Kunstwerkes kann es keine Urteilskraft geben. Kommt das bei G. Boehm irgendwo vor? Vielleicht in anderen Schriften von ihm.
d) G. Boehm geht zu näheren Eigenschaften des Grundes über:
Erstens. Der Grund, der trägt zum Beispiel ein steinernes Mal, ein Relief, eine Linie oder eine farbige Lasur, ist eben nicht nur eine horizontale, zweidimensionale Oberfläche, sondern zwangsläufig mit einer vertikalen Mächtigkeit ausgestattet. Der Grund hat Tiefes, unter ihm liegen Strata, die dafür sorgen, dass er sich als stabil oder auch als schwankend erweist. Arbeit auf dem Grund oder mit dem Grund impliziert stets eine Logik der Schichtung, des Aufeinanders, zu der das Verdeckte eines Untergrundes gehört. Verdeckt und sichtbar sein geht freilich nicht mit Wirkungslosigkeit einher. Wer zum Beispiel aufgerichtet auf der Erde seiner Wege geht und zum Horizont ausblickt, der weiß sich eines vertikalen Haltes sicher, der sich des Weiteren auch in Schwerkraft, Gewicht, Balance oder in Adhäsion bemerkbar macht. Das Kontinuum als geistiges Prinzip dagegen, der logische Grund ist frei von jeder Materialität, er ist gewichtslos und unsichtbar. (ebd. S 66.67)
Das ist alles lyrisch beschrieben, aber im Grunde trickst G. Boehm mit dem Ausdruck „geistiges Prinzip“. Das Schematisieren a priori einer inneren Zeitbestimmung müsste einen Ausgangspunkt, eine Kraftquelle, eine Sinnquelle haben, das nicht abstrakt als nichtssagendes „Kontinuum“ bezeichnet werden kann. Diese Ausgangsquelle wäre gut als Gefühl zu beschreiben – oder ich nehme wirklich das „geistige Prinzip“ der Erscheinung des Absoluten im reflexiven Wissen an.
Da G. Boehm diese geistige Quelle nicht angeben will, mutiert das „Kontinuum“ gleich in den nächsten Absätzen zu einem materiellen Grund/Stoff/Urgrund, weder zu einem sinnlichen Gefühl noch zu einem intelligiblen Wert oder einer Sinn-Idee. Irgendwie soll sich ja etwas zeigen, soll eine Linie, Figur, eine Entwicklung und Wirkung eingeleitet werden, ergo wird das Kontinuum (als Grund) zu diesem Vermögen ermächtigt. Es verläuft ähnlich wie in der von G. Boehm geschilderten Theogonie des Hesiod. Diese wurde von ihm belesen referiert, aber warum taugt ihm der biblische Schöpfungsbericht nicht? Wenn schon Wissenschaft betrieben werden soll, müsste man transzendentalkritisch etwas höher steigen als die griechische Mythologie.
b) Zweitens. Der kontinuierende Grund ist das Formlose, genauer: das Formlosere, gegenüber der Form respektive der Distinktion, Sie wiederum tragen Kennzeichen, die auf den Grund, der ihnen einen Ort schafft, zurückverweisen. Die Differenz, will sie erscheinen, setzt Differenzlosigkeit zwingend voraus. Distinktionen aber lassen sich in die Erscheinung eines Kontinuums auch wieder zurückverwandeln. Beispielsweise indem sich die einzelnen Zeichen so eng miteinander verbinden, dass sie für das Auge zu verschmelzen scheinen. An die Stelle des Details tritt dann ein transitorischer Übergang, eine chaotische Mannigfaltigkeit, die aus einer visuellen Subtraktion hervorgegangen ist. (ebd. S 67)
Das ist nur begriffliche, abstrahierende Dialektik, Schein-Dialektik, aber kein Intelligieren, wie die konträren Gegensätze zugleich vereinigt werden können in einem niederen, exakten Begriff. Der Begriff des „kontinuierenden Grundes“ ist ein Widerspruch in sich, denn wie sollte ein Grund selbst zeitlich werden (emanieren) bzw. wie könnte aus diesem konstruierten Kontinuum die Kontinuität des Bewusstseins abgeleitet werden?
Drittens. Grund ist Differenz in statu nascendi, allein schon deshalb, weil er es ermöglicht, dass sich jeweils die Waagrechte mit der Senkrechten verbinden kann, wie das exemplarisch durch die Erfindung des zentralperspektivischen Bildkonzeptes geschehen ist oder wie, in der Moderne, auf ganz andere Weise durch das Konzept des Bildrasters. Aus dem Kontinuum entfalten sich jene Strukturen, die im Bilde Raum und Zeit als das Gefüge der Dimensionen determinieren. Wir werden in Betracht ziehen, in welcher Weise sich die Desintegration von Horizontalität und Vertikalität in Werken des 20. Jahrhunderts durch Prozesse der Entdifferenzierung der Form ereignet hat (Abb. 30]. Formlosigkeit (formless) wird unter diesen historischen Vorzeichen zu einer künstlerischen Maxime. (ebd. S 69.70)
G. Boehm verweist auf die neuere Kunstgeschichte und anschauliche Beispiele – und dadurch gewinnen seine Schematisierungen oder Beschreibungen vom Grund sicherlich eine gewisse Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit. Aber die Künstler dieser Werke haben diese Inspirationen und Vorstellungen nicht von einem abstrakten, differentiellen Denken gewonnen, sondern in genauer Beziehung der Vorstellung auf das spontane Schaffen der Einbildungskraft a priori, die von sich her einen teilabsoluten Grund freigibt, wie Fichte im 3. Grundsatz der GWL von 1794 gesagt hat.
Deshalb diese pluriformen, jedesmal einmalig erscheinenden Bildungskräfte in den Künstlern, die verschiedenen Darstellungsweisen im Entwerfen und Malen eines Bildes, in der unendliche Vielfalt künstlerischen Schaffens in der Musik, in der Sprache, in der Technik. Das philosophische Denken reflektiert nachträglich, in abstrakter Form, die ursprüngliche Pluripotentialität der Bildungskraft und Einbildungskraft und fasst ihre Potentialität und Aktualität in der Einheit eines Bildes zusammen. Im ursprünglichen, spontanen Projizieren und Entwerfen, im ursprünglichen Rezipieren oder im konkreten Realisieren eines Werkes, da verläuft nichts abstrakt, sondern immer alles konkret. Im Wählen einer Bestimmtheit einer Form, einer Musik, da kontrahiert die Selbstbestimmung des Künstlers/der Künstlerin zu einer konkreten Bestimmtheit eines Werkes. Mit einem „kontinuierenden Grund“ von G. Boehm ist kein Wille, kein Wählen, keine Selbstbestimmung angesprochen, da dieser Grund nicht lebt und keine Kraft hätte und keine Absolutheit zu verkörpern vermag.
Der Grund als Kontinuum bleibt ohne Ableitungs- und Anschlussfähigkeit. ohne Erklärung im Wissen und im Wollen. Es ist ein bloß reduktiv erschlossener, hinzugedachter Grund. Dieser Grund (in der Abstraktion von G. Boehm) verdient nicht seinen Namen, er ist bestenfalls erschlossenen Bedingung. Es liegt kein Gefühl und keine Kraft und keine Zukunft in diesem Grund, wenn schon eine Zeitassoziation (oder Raumassoziation) im „Kontinuum“ mitklingen soll.
Vom Grund zu reden, ist ein Widerspruch, wenn er sich nicht kraft Einbildungskraft manifestiert in der Verarbeitung aller Hemmungen und Aufrufe zu einer sinnlichen oder intelligiblen Anschauung (und appositionellen Reihe) und sich selbst repräsentiert als Erscheinung des Absoluten in und kraft Sichtbarkeit des Wissens.
Viertens. Mit der Formlosigkeit verbindet sich ein Koordinationsverlust, der sich in der Erfahrung des Rausches bzw. des Rauschens niederschlägt. Es war wohl zuerst Friedrich Nietzsche, der in der Geburt der Tragödie Zweifel an der Gültigkeit des »Satzes vom zureichenden Grund« angemeldet hat und die Sonderbedingungen eines abgründigen Erscheinens erkundete, das sich in der Kunst als einer kalkulierten Gestaltlosigkeit ereignet. Nietzsche kennzeichnet diesen Rausch als einen sinnlich-geistigen Taumel. Er basiert darauf, dass die Akzentuierung des Formungsprozesses im Werk auch eine ausufernde und forttragende Energetisierung bewirkt. »Das Rauschen führt uns an den Rand unserer entwickelten Wahrnehmungsfähigkeit – dorthin wo wir nicht mehr erkennen und dennoch mit höchster Intensität wahrnehmen können.« (ebd. S 70)
Das kann ich jetzt nicht kommentieren. Mit einem Vitalismus, Biologismus ist jeder Boden der Vernunft verlassen.
Fünftens. Das anschauliche Kontinuum ist als materielles ein ausgegrenztes Faktum, als ein bildliches zugleich aber auch mit Energie und Emergenz ausgestattet. Die Energie resultiert aus jenem Gefälle, das sich zwischen der relativen Homogenität des Grundes und den unterscheidbaren Distinktionen etabliert, dessen visuellen Überschuss der Betrachter realisiert. (ebd.)
Das würde ich eher als Energetismus oder Physikalismus beschreiben, ist aber rational nicht denkbar.
Sechstens. Der Grund ist ein Ort. Er schafft einen sinnlichen oder auch epistemischen Raum für das bildnerische Tun und den Sinn, den es bewirkt. (ebd.)
Hier kommt wieder eine Art materialistischer Ort (Raum, Stoff) herein, der etwas „schafft“. Eine Ortsangabe machen zu können setzt bereits ein komplexes Vorstellungsgebilde von Zeit und Raum hervor, ein Schweben der Einbildungskraft und eine sinnlich wahrnehmbare Hemmung. Ein „Ort“ ist keine Kategorie des Verstehens.
Aus all dem folgt, dass die Rede vom Grund nicht nur ein Vorkommnis der äußeren Welt bezeichnet, sondern eine operative Kategorie der Erfahrung, der Erkenntnis und des Machens. Im Menschen selbst findet sich eine grundschaffende Kapazität, ein Vermögen des Grundes, der Grundlegung und der Begründung. Man kann eine Entwicklungslinie in der Geschichte des Denkens ziehen, die darauf verweist. Zu ihr gehören nach Apeiron, Arché, Hypokeimenon oder Hypotypose in der Antike der mystische Seelengrund des Spätmittelalters oder andere Ausprägungen des fundus animae, nicht weniger René Descartes‘ fundamentum inconcussum oder die Argumentationsfigur einer transzendentalen Grundlegung der Erkenntnis im Bewusstsein. (ebd. S 70)
Für G. Boehm fließt durch seine Belesenheit alles Mögliche an Philosophie zusammen, aber er bleibt notwendig unklar und dunkel. Ein Sammelsurium von analytischer oder synthetischer Methode, denn wie soll ich „operative Kategorie der Erfahrung“ verstehen, wenn ich die Bedingungen der Erfahrungen nicht angeben kann?
Wenn es dann idealistisch heißt, „Im Menschen selbst findet sich eine grundschaffende Kapazität….“, so bleibt das leider unklar: Meint er ein spirituelles, mentales, vitalistisches Prinzip, angesiedelt im Leib des Menschen, oder ein hypertrophes Selbstbewusstsein, wie manche idealistischen Philosophen das für möglich halten?
Philosophiegeschichtlich wird dann alles zusammengeworfen, „fundus animae“… usw.
Es ist die Frage nach dem Grund ein inneres Bedürfnis, ein Wollen des Menschen. G. Boehm beschreibt es so: Eine bildtheoretische Diskussion kommt nicht umhin, den Grund nicht nur als externen Sachverhalt, sondern als eine Form der Erfahrung zu entfalten, und sie wird dabei tunlichst von der Wahrnehmung ausgehen. Diese menschliche Lust an der Wahrnehmung, von der Aristoteles schon zu Beginn seiner Metaphysik als einem ersten Antrieb der Erkenntnis gesprochen hat, organisiert sich jedenfalls leiblich und damit: situativ. Der Begriff der Situation ist uns außerordentlich wichtig, denn er markiert genau die körperliche Basis der Wahrnehmung und ihre Wiederkehr in den Bildern. Sie sind in einem eminenten und terminologischen Sinne situative Konstrukte. (ebd. S 70.71)
Aber ist das Seelsorge von ihm, oder doch wissenschaftliche Rede? Ist hier seine Form der Erfahrung analytisch oder synthetisch gewonnen? Wird der Mensch durch die Sinne belehrt, zum Rezipienten, oder erzeugt er von sich her, in der transzendentalen Apperzeption des „Ich denke“ die mögliche Erfahrung der objektiven Gegenstände? Das ist aus G. Boehm nicht herauszulesen. Wäre der Grund eine sinnliche oder materialistische Bedingung, zu sonstigen Erkenntnisbedingungen hinzukommend, wäre die äußere Welt letztlich (für das Erkennen) determinierend. In diese Richtung deute ich sein unwillkürliches Umschwenken zu Aristoteles. Wäre hingegen der Grund ein synthetisches, geistiges Prinzip, müsste G. Boehm ebenfalls eine Quelle angeben, aber die will er nicht offenbaren!?
Dass man „tunlichst von der Wahrnehmung“ ausgehen müsse, um zum Grund aufzusteigen, das ist alles nur Zitat eines gewissen Empirismus.
Ebenso die „körperliche Basis der Wahrnehmung und ihre Wiederkehr in den Bildern“. Nur von Wahrnehmung zu sprechen, ist zu allgemein, und die Deduktion der Apperzeptions- und Perzeptionsmöglichkeit anzugeben – das hat er unterlassen.
Das von G. Boehm betonte „situativ“ verschleiert im Grunde alles. Es ist nirgends ausgeführt, wie und was das transzendierende Hinausgehen des Geistes im Linienziehen und das Aufspannen eines Zeit-Raum-Schemas möglich macht – und dann das Übergehen zu einem Bild/zu einer Figur, bzw. zu einem „situativ“. Wo ist die Quelle dieser intellektuellen Anschauung von Kraft?
Wenn ich guten Willens bin, kann ich die Wahrnehmung schon als transzendental-reflexiven Ausgangspunkt allen Wissens nehmen, insofern in der Wahrnehmung eine werthafte Synthese von Vorstellung und Hemmung angewandt und vollzogen wird, aber wird irgendwo dem praktischen Streben nach Sinnerfüllung und werthafter Erfahrung von G. Boehm Tribut geleistet? Die Formen der Grundsätze des Verstandes, die Axiome der Anschauung, die Antizipationen der Wahrnehmung, die Analogien der Erfahrung und Postulate des Denkens enthalten eine intentionale Wertung, ja klar, die Frage ist nur, warum wird diese Wertung und deren transzendentaler Geltungsgrund nicht explizit benannt ?!
Nachdem ich nicht weiß, von welcher Standpunktreflexion des Wissens G. Boehm an dieser Stelle ausgeht, kann ich nicht sagen, was er unter „Wahrnehmung“ wirklich versteht. Bei Kant bleibt eine eigenartige Isolation der zwei Erkenntnisvermögen, hier Anschauung, dort Verstand, und darüber ist die Vernunft, aber wie gehen beide Stämme der Erkenntnis zusammen? Bei G. Boehm wird die Einheit der Erkenntnis, wie oben begonnen, durch das Kontinuum (oder meint er Kontinuität?) zu sichern versucht?
Ein solches Prozedere kann sich auf Argumente Edmund Husserls, Martin Heideggers oder auch Maurice Merleau- Pontys stützen. Es geht darum, mit einer strukturellen Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung zu beginnen. Fundierend erscheint, sich leibhaft unter Bedingungen eines Horizontes zu orientieren und weiter zu bestimmen, das heißt in einem anschaulichen Kontinuum, das stets mitwandert. Zu diesem gehört ein körperliches Subjekt, eine Origo, das heißt ein Kreuzungspunkt aller Koordinaten, die von da aus in den Raum der Wahrnehmung wegstreben und ihn gliedern. Wer sich orientiert, kommt nicht umhin, von sich auszugehen. Deiktische Angaben wie hier und dort, links und rechts etc. gewinnen aus diesem Bezug ihre ebenso relative wie klare Evidenz. Zugleich stellt sich ein Bewusstsein nicht nur von unterschiedlichen Richtungen ein, sondern auch davon, dass sie zusammengehören, dass das >Diese und das Jetzt eine Gegenwart, eine Ganzheit implizieren. Es ist hier nicht im Detail darzustellen, auf welche Weise die leibliche Orientierung im Raum zur Dimensionalität des Bildes führt, doch ist auch so deutlich, dass Bilder Horizonthaftigkeit einschließen, die mit dem gemalten Horizont, zum Beispiel des Landschaftsbildes, nicht identisch ist. Denn alles, was sich an Distinktionen in ihnen entfaltet, wird jeweils unter dem Vorgriff eines durchlaufenden Kontinuums, das heißt situativ, sichtbar. (ebd. S 71)
Die Zeugen, die G. Boehm anruft, können erst recht nichts beweisen. Soweit ich Husserl und Heidegger gelesen habe, können diese ja nicht aus der innersten Einheit des Wissens die Anschauungsformen von Zeit und Raum ableiten und konstituieren.? Sie kommen zu keinem Denken der Kontinuität und des Kontinuums, anerkennen nicht die höchsten Reflexionsideen, durch die die Kategorien systematisch geordnet sind, und kennen kein unwandelbare Wandelbarkeit des Bewusstseins. Man lese den „GRUNDRISS“ von 1795 v. Fichte – und diese phänomenologische und seins-metaphysische Erkenntnistheorie des 20. Jhd. ist widerlegt.
Wie sollte ich die plötzlich bei G. Boehm auftauchende leibliche Verfasstheit des Menschen mit Husserl und Heidegger verstehen und akzeptieren können, wenn die Wirksamkeit des Leibes gar nicht abgeleitet ist als notwendige Bedingung eines höheren Strebens? Oder soll ich bei Schopenhauer nachfragen: Der Leib als konstitutive Mit-Bedingung der Wirksamkeit nach dem Zweckbegriff, als sich äußernder Wille der Vorstellung von? Wenn der Leib konstitutive Bedingung der Wirksamkeit ist, nach Fichte, so ist er doch nicht Grund und Träger des Zweckbegriffes, sondern dessen Anschauung und Äußerung und selbst bedingt durch ein geistiges Streben. 4
Schließlich wird wieder reduktiv geschlossen, ohne Erklärung – ob das analytisch oder synthetisch verstanden werden darf? -, dass die Distinktionen der Lokalität oder Temporalität – es wird hier beides vermischt – ermöglicht sind durch den „Vorgriff eines durchlaufenden Kontinuums, das heißt situativ, sichtbar.“
Da wären wir wieder beim Anfang. Ein solches Kontinuum ist definitiv kein Licht, keine Quelle des Geistes, keine Kraft, keine Vernunft und kein Sehen oder Schematisieren. Das „durchlaufende Kontinuum“, wenn ich das konzedieren möchte, aber eigentlich kann ich es nicht!, müsste ein notwendiges Sehen sein, ein substantieller Denk- und Selbstbestimmungsakt. Aber so weit will sich G. Boehm nicht hinauslehnen. Da bleibt man besser in der Mythologie oder in den Museen. Ein Sehen oder ein substantieller Denk- und Selbstbestimmungsakt ist definitiv etwas anderes als ein „durchlaufendes Kontinuum“, als ein „kontinuierender Grund“.
Altheim, 4. 12. 2019
(c) Franz Strasser
1G. Boehm/M. Burioni, Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München, 20121.
2Siehe z. B. Fichte, Diarium III: [* am Seitenende ohne Vermerk unter einem Strich:„Die Unendlichkeit liegt in der nie zu verwirklichenden Begriffsform.-. die nie faktisch ist, sondern ewig ein Postu- lat. – . Die Verwirklichung dieser Form ist IchIndividuum.“ (GA II, 17, S 15)
3Fichte sagt im Aufstieg zur Einheit des Sich-Wissens in der WL 1804/2 das ähnlich, dass sich das Dasein nicht als Begriff, aber in seiner ursprünglichen Form projizieren lässt, „(dass) nur mittelbar in seinem Stellvertreter oder Abbilde seiner selber (konkretisiert da ist).“ (4. Vortrag, ebd. S 63, Z 35 )
4Ich verweise z. B. auf den Blog zur Wlnm, 6. Teil. Zur Deduktion des Leibes. Erster Übergang zur sinnlichen Außenwelt ist der Begriff der Kraft und des Leibes: Der Kraftbegriff liegt in der grundsätzlichen Erscheinungsweise und Darstellungsweise des Willens. Die sich veräußernde, sich ausschematisierende Kraft des Willens wird als Leibeskraft angeschaut.