Formale Logik und Philosophie – 2. Teil

1) Wie hat Kant das Problem einer differentiellen Einheit von Anschauung und Begriff gesehen? Ohne viel Sekundärliteratur heranzuziehen, allein aus der Lektüre der KrV schöpfend, soll der dortige Begriff der „Transzendentalen Logik“ in seiner Absicht durchschaut werden – natürlich mit Blick auf Fichte, der die differenzielle Einheit von Anschauung und Begriff aus einer absoluten Geltungsbegründung abzuleiten versteht. Wie viele Kantinterpreten pendeln heute noch zwischen realistischer und idealistischer Erkenntnistheorie Kants hin und her und legen in die KrV alles Mögliche an Materialismus und Idealismus hinein, weil sie Kant aus sich allein verstehen möchten und Fichte nicht kennen! Entweder sie leugnen eine genetisch und differentiell zu begründende Einheit von Anschauung und Begriff, sodass ein dogmatische Realismus oder bodenloser Idealismus übrig bleibt, oder es bleibt ein Skeptizismus, wie ihn S. MAIMON noch zur Zeit Kants expliziert hat, dass überhaupt kein Zusammenhang zwischen Begriff und Anschauung besteht.

Mangels Ableitung der Vorstellungs- und der Anschauungsmöglichkeit verfällt (nach meiner spärlichen Lektüre) z. B. die Analytische Philosophie einer bloßen Sprachanalyse – was damals Fichte schon feststellte1– und ersetzt kurzerhand die synthetische Einbildungskraft durch Sprachspiele, Lebensformen, Performativität, durch den Gebrauch der Wörter, durch Grammatik. Alles ist nur analytische Erkenntnis.
Das andere Extrem wäre Hegel: Philosophie ist Logik. Ohne Anschauung und Bildphilosophie und zugrundeliegendem Geltungsanspruch von Wahrheit sind aber die logischen Begriffe wertlos und sinnlos. Es geschieht eine ständige Verwechslung von distinctio rationis (oder rationalis) und distinctio realis, eine ständige Äquivokation.

Kant will ĂĽber die Handlungen der Vernunft Auskunft geben. Wie stellt die Vernunft  es an, Erkenntnis der Dinge zu erreichen und Erfahrungen zu sammeln? Eine „Transzendentale Logik“ als Teil einer „Transzendentalen Analytik“ muss (nach Kant) einerseits die Grenzen der Vernunfterkenntnis beachten, denn aus bloĂźen Begriffen kann keine objektiv gĂĽltige Wahrheit gewonnen werden – ausgefĂĽhrt in der „Transzendentalen Dialektik“, 2. Hauptteil der KrV – andererseits sind es genau die Begriffe, die die synthetischen Erkenntnisse a priori ausmachen. Sie haben doch einen materialen und intentionalen Wert und Sinn? 

Dazu braucht es a) eine „Kritik“ des Erkenntnisvermögens, um nicht in voreilige FehlschlĂĽsse zu verfallen, also wiederum eine „Analytik“, dann aber b) eine Ausarbeitung eines Systems von Ideen und apriorischen Begriffen, mithin ein System „Transzendentalphilosophie“  fĂĽr die verschiedenen materialen Bereiche des Wissens (Naturwissenschaft, logische Wissenschaften, Gesellschaftslehre), um sichere Erkenntnis zu erreichen. 

Kant findet einen genialen Weg der Verbindung zwischen einer Analytik der Anschauung und einer Analytik des Denkens in Begriffen – mittels Schema und Schematisierung. Das Verfahren des Schematisierens ist eine Übertragung der Kategorien auf die Anschauungsformen. Es ist eine Verdeutlichung der Grundsätze des Verstandes und  leistet die Rechtfertigung der transzendentalen Erkenntnisart. Die Schematismen (Anwendungsbedingungen) beschreiben, wie einem Gegenstand begriffliche Quantität und Qualität zukommen, wie es ferner zu einer Erfahrung durch Relationsbegriffe kommt,  und wie schließlich alles der Modalität nach bestimmt wird als möglich, wirklich, zufällig oder notwendig. Diese Anwendungsbedingungen bei Kant bringen es zu einer formalen Ontologie sinnlicher und äußerer Gegenstände.

Die Schematisierung der Kategorien auf diese sinnlichen Wirklichkeitsbereiche muss allerdings, blicken wir bereits auf Fichte, ein blindes Verfahren bleiben, weil die Kategorien in ihrer behaupteten Synthesis mit dem äuĂźeren Gegenstand nur faktisch festgestellt sind – und nicht selbst qua Vernunfterkenntnis und innerer Anschauung begriffen und verstanden werden. Nach Kants Ansicht bleiben  Anschauung und Verstand „ungleichartig“ – siehe z. B. KrV A50/B74 2 – und das wird zu erheblichen Konstitutionsproblemen fĂĽhren.

Wenn, wie Kant sagt, „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehnung aller möglichen Gegenstände.“ (KrV B 184.185) – fragt sich  nur, woher kommen die den Schematen zugrundeliegenden Zeitbestimmungen? Wie werden sie erkannt?

Trotz mancher Unfertigkeiten in der Erkenntniskritik ist Kants Philosophie um vieles vernunftkritischer, dem Denken vom Sein der Antike entsprechender als manche „Geist-Philosophie“ oder Kognitionswissenschaft oder Hirnforschung heutiger Tage! Dort werden Begriffe verwendet, die alles andere als schematisiert und abgeleitet sind.  (Kant begegnete solchen überheblichen Wissensansprüchen bereits zu seinen Lebzeiten (1796) mit dem ironischen Titel: „Von einem neuerdings vornehmen Ton in der Philosophie“, in „Berliner Monatszeitschriften, 1796, 387- 426.)

Eine „formale“ Logik (auch „allgemeine Logik“ bei Kant genannt) kann wenigstens einen „negativen Probierstein der Wahrheit“ (KrV B 85) liefern, insofern die Erkenntnisse nach den formalen Kriterien der Logik , d. h. nach den Regeln des Denkens, wahr sein mĂĽssen,  aber – so jetzt Kants Anliegen und seine präventive Absicht –  a) um „materielle“ Wahrheit zu erreichen und b) doch vor falschen dialektischen Schein aus bloĂźen Begriffen zu warnen und die formale Logik als Werkzeug (Organon) synthetischer Urteile a priori zu missbrauchen, bedarf es der Schaffung einer  „Transzendentalen Logik“ in Ergänzung und Vollendung der „Transzendentalen Ă„sthetik“.

„Die allgemeine Logik löset nun das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft in seine Elemente auf und stellt sie als Principien aller logischen Beurtheilung unserer Erkenntniß dar. Dieser Theil der Logik kann daher Analytik heißen und ist eben darum der wenigstens negative Probirstein der Wahrheit, indem man zuvörderst alle Erkenntniß ihrer Form nach an diesen Regeln prüfen und schätzen muß, ehe man sie selbst ihrem Inhalt nach untersucht, um auszumachen, |ob sie in Ansehung des Gegenstandes positive Wahrheit enthalten. Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objective) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urtheilen und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben, um hernach bloß die Benutzung und die Verknüpfung derselben in einem zusammenhängenden Ganzen nach logischen Gesetzen zu versuchen, noch besser aber, sie lediglich darnach zu prüfen. Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhalts derselben noch sehr leer und || arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurtheilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung, wenigstens zum°° Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht und mithin in der That dadurch gemißbraucht worden. Die allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik.“ (KrV B 85.86) (Hervorhebungen von mir)

Es ist zu „erwarten“, dass es eine solche „Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes und Vernunfterkenntnisses“ (d. h. der „transzendentalen Logik“, KrV B 82.) geben muss.

2) Es stellt sich jetzt eine gewisse Parallele und Ähnlichkeit zu Fichte ein, insofern sich in seinen Vorbereitungen zur WL, von Fichte tituliert im SS 1812 „Vom Verhältniß der Logik zur wirklichen Philosophie, als ein Grundriß der Logik, und eine Einleitung in die Philosophie“ (=TL1) und im WS als „Vom Unterschiede zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als Grundriß der Logik und Einleitung in die Philosophie“ (=TL II, in den SW zu finden, hrsg. v. Immanuel Fichte, SW IX, 103-400,) das Anliegen findet, die Verfahrensweise der Vernunft

a) im anschaulichen und auch logifizierenden, begrifflichen Denken zu reflektieren und b) die Vernunft als ganze, in ihrer gesamten Reflexion des theoretischen Vorstellens wie praktischen Handelns und Wollens,  zu erkennen und zu begreifen, 3
c) was damit aber nicht bedeuten soll, dass die apriorischen Vernunftbedingungen des Erkennens, Wollens und Handelns von der konkreten „Erfahrung“ (analog zu Kant gesprochen) idealistisch abgetrennt werden könnten. Sie bleiben rĂĽckgebunden an die Produktionen der Einbildungskraft, mithin an die inneren und äuĂźeren Anschauungen.

Für dieses sowohl apriorische  wie anschauungsgebundene Denken  ist eine durchaus neue Sicht und Innovation altbekannter Begriffe notwendig. 
Kant beschreibt die Zukunft der „neuen“, perennistisch-alten wie innovativ-neuen, Philosophie wie folgt als „Idee“ einer systematischen Vernunfterkenntnis aller Wissensbedingungen:  

„Die Transscendental-Philosophie ist hier nur eine Idee, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d.i. aus Principien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. (KrV, Zusatz in B). Daß diese Kritik nicht schon selbst Transscendental-Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten müßte.“ (KrV A 14).  

„Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transscendental-Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transscendental-Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurtheilung der synthetischen Erkenntniß a priori erforderlich ist.“ (KrV, A 15)

Die transzendental zu findenden, apriorischen Wissensbedingungen verlangen sowohl  die Analyse einer Ă„sthetik mit ihren apriorischen Anschauungsformen, wie die Analyse der Regeln eines inhaltlichen Denkens, d. h. einer apriorischen, „transzendentalen  Logik“. Kant beschreibt diese inhaltliche Logik so: 

„In der Erwartung also, daß es vielleicht Begriffe geben könne, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen, nicht als reine oder sinnliche Anschauungen, sondern bloß als Handlungen des reinen Denkens, die mithin Begriffe, aber weder empirischen noch ästhetischen Ursprungs sind, so machen wir uns zum voraus die Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes und Vernunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken. Eine solche Wissenschaft, welche den Ursprung, den Umfang und die objective Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmte, würde transscendentale Logik heißen müssen, weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu thun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen | wird und nicht wie die allgemeine Logik auf die empirischen sowohl als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied.“ (KrV B 81/82) (Hervorhebung von mir) (Oder siehe A 52; B 76ff sehr deutlich)

3) Mit den „Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“ bin ich  aber präzise bereits bei Fichte gelandet: Wir sind als Philosophen „nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen“ (Ăśber den Begriff, GA I/2, 107ff.; 147.). Kant habe das System der reinen Vernunft nur „angedeutet„, es aber weder „dargestellt“ noch „bewiesen„.4
Fichte erhebt jetzt den Anspruch, die in der Philosophiegeschichte da und dort genial schon gefassten apriorischen Erkenntnisprinzipien in der Einheit eines Prinzips zusammenzufassen und auseinander in Begriff und Anschauung hervorgehen zu lassen.  Es muss die Einheit eines Systems des Wissens geben, denn ohne Systembegriff würden die verschiedenen Gesetze (und späteren Anschauungsbereiche) unverbunden nebeneinander bestehen und sich widersprechen können. 
Im Wissensvollzug entdecken sich (bei genauer Analyse)  anschauliche Gesetze, Gesetze der  anschaulichen Projektion und Objektivierung und kreative Gesetze des Denkens, die allesamt aus einer genetischen Einheit hervorgehen und darauf wieder zurückgeführt werden können.

Fichtes groĂźe deduktive Leistung: Anschauung und Begriffe sind unabtrennlich, sofern ihr Aktcharakter betrachtet wird. Im Sich-Wissen einer absoluten Geltungsform „Ich/Ichheit“  kommen Anschauung und Begriff zusammen, im aktualen Sehen selbst. Das  empirische Sehen ist nur innerhalb des einen intelligiblen und sinnlichen Seh-Aktes möglich, in dem Anschauung und Begriff gemeinsam konstruiert werden.

Das Faktum der empirischen Anschauung bleibt damit aposteriorisch vorgegeben, aber es ist nur apriorisch zu verstehen. (Siehe dann meine weiteren Blogs zur „Transzendentalen Logik I“ zum Begriff der „Empirie“).

Philosophie will diese in der Erfahrung wirkenden ursprünglichen Denkgesetze wissenschaftlich erheben, d. h. die reellen Gesetze der Anschauung wie das begriffliche Denken nachkonstruieren und vorkonstruieren.  Die Frage deshalb einer Kantischen „Transzendentalen Logik“ mündet bei Fichte in die Frage nach einem letzten Begriff, der seine Geltung aus sich, durch sich, von sich hat, also absoluter Geltungsgrund in der Geltungsform des reflexiven Sich-Wissens ist. 

Kant hatte groĂźe Bedenken gegen eine bloĂź begriffliche Philosophie, die von synthetischen Erkenntnissen a priori schwärmt, dabei aber die anschauliche und materiale Basis ihrer BegrĂĽndung vergisst. Das ist, siehe Zitat oben „(…)Blendwerk von objectiven Behauptungen gebraucht und mithin in der That dadurch gemiĂźbraucht worden. (…)  KrV B 85.86) 
Er sah sich genötigt, den notwendigen Rahmen einer „Transzendentalen Logik“, komplementär zur „Transzendentalen Ă„sthetik“ zu bestimmen (ohne Schwärmerei).

4) Die Bedenken Kants sind einerseits ernst zu nehmen – man sehe die Irrwege bei Schelling und Hegel, die die materiale Anschauung ĂĽberflogen – , andererseits ist diese Vernunftskepsis („skepio“ – genau nachprĂĽfen) ĂĽbertrieben und selbst blind, denn die Vernunft fungiert nicht auĂźerhalb der Gesetzlichkeit der Einbildungskraft, sondern verhält sich wahrheitsgetreu und gewissenhaft, wenn sie auf ihre wahren Bild-Bedingungen reflektiert.

Prof. R. Lauth hat den Zusammenhang und den Unterschied zwischen Kant und Fichte oft herausgestellt: „Fichtes grundsätzliche Kritik an Kants durch die Grundsätze des Verstandes bestimmten Ontologie, als Wissenschaft von den äußeren Gegenständen überhaupt, hebt mit der Bemerkung an, dass Kant, indem er nur eine Kritik, kein System der Vernunft lieferte, nur bei den apriorischen Voraussetzungen in bestimmten Bereichen des Geistes ansetzen konnte.“5

Fichte sagt es so: “Kant, der die Kategorien ursprünglich als Denkformen erzeugt werden läßt, und der von seinem Gesichtspunkte (cf. der Kritik] aus daran völlig Recht hat, bedarf der durch die Einbildungskraft entworfnen Schemate, um ihre Anwendung auf Objekte möglich zu machen” (“Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre”, GA I/3,189). “In der Wissenschaftslehre (cf. als einem System der Vernunft] entstehen sie [sc. die Kategorien] mit den Objekten zugleich und um dieselben erst möglich zu machen, auf dem Boden der Einbildungskraft selbst.” (ebd.)

5) Kant nimmt nolens volens  immer  einen unreflektierten, dogmatischen Standpunkt ein, weil er von vornherein stets eine Disjunktion mitschleppt zwischen einem Subjekt, das in objektkonstitutiver Form sämtliche synthetischen Akte a priori zu setzen vermag, aber die Bestätigung und Legitimation der apriorischen Erkenntnisart muss von  außerhalb des Subjekts in der sinnlichen Anschauung kommen?

Das „transzendentale Schema“ einer „reinen Synthesis gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen ĂĽberhaupt, die die Kategorie ausdrĂĽckt (…)“ (Schlussteil des Schematismuskapitels, KrV B 181) – ist genial erkannt, aber es fehlt diesem Schema die intellektuelle Anschauung und BegrĂĽndung, wie und warum das Denken seine Begriffe realisiert und auf die Anschauung ĂĽberträgt. 

Nach Kant sieht es  so aus: Die Mannigfaltigkeit der Eindrücke strömt von außen an das „Ich denke“ heran und nachträglich verbindet das „Ich denke“  diese Mannigfaltigkeit zu einer angeschauten und begrifflich verstandenen Einheit. Kant ist zwar  immer nahe dran – siehe z. B.  den Abschnitte im Schematismuskapitel über die „figürliche Synthesis“, die die „Sukzession“ der Zeit sogar hervorbringt! (KrV B 154.155) -, aber im entscheidenden Augenblick restringiert er die Gültigkeit des apriorischen Vernunftgebrauchs auf die Gegenstände der sinnlichen Erfahrung und appliziert schematisch (unerkannt, faktisch) die Begriffe auf die Anschauungsformen. Er verspielt aber somit eine Realisierung der apriorischen Begriffe in der konkreten Anschauung, d. h.  in der Konkretionsgenesis einer Einheit von Denken und Anschauung.  

6) Fichte geht nicht nur reduktiv-analytisch vor wie Kant, sondern methodisch sowohl reduktiv-analytisch wie prospektiv-synthetisch, d. h. in und aus Vernunft wird sowohl eine anschauliche wie eine  selbstreflexiv-begriffliche Denkform entwickelt, die damit sowohl die Anschauungsformen wie die Kategorien und die reflexiven Ideen (die Umkehrung der Kategorien) erzeugt. Die Gesetze der Ästhetik und der Logik sind nicht voneinander separiert, sondern  entspringen transzendental den Gesetzen des Setzens und Bildens der Vernunft überhaupt. Welcher Gedankengang ihn dabei leitete, lässt sich bereits aus einer sehr frühen Stelle 1793 dartun, aus einer Stelle eines Entwurfs zur Rezension von Schulzes “Aenesidemus”: 

“Giebt […] das Ich sich selbst ein Gesez (der unbedingten Nothwendigkeit) in sofern es Intelligenz ist; so ist es ein autonomes Wesen; u. wenn man von seiner Bindung, daraus es Intelligenz, ein Nicht-Ich vorstellendes ist, abstrahirt, u. es in der intellectuellen Anschauung sich selbst darstellend ansieht, so entsteht dadurch ein absolutes Gesez der absoluten Selbstbestimmung, welche, wenn sie auf etwas bezogen wird, das nicht schlechthin durch uns selbst bestimmt, u. dargestellt wird, ein Trieb […] seyn wird, jenes nicht ganz von uns Abhängige abhängig von uns, u. mit unsrer wesentlichen Bestimmung ĂĽbereinstimmend zu machen.” (GA II, 2, 295)“6

Man merkt sofort, nach der intensiven  KantlektĂĽre Fichtes in Leipzig 1792/93: Die Kantische Frage nach der Möglichkeit und Berechtigung synthetischer Urteile a priori hat eine völlig neue Ausgangssituation gefunden, denn es stellt sich die tiefergehende Frage a) nach den Bedingung der Wissbarkeit ĂĽberhaupt, also inklusiv aller Denkakte und Anschauungsformen; ferner geht es um die in der Philosophiegeschichte immer wieder aufgeworfene Frage b) ob und wie eine ZurĂĽckfĂĽhrung der Erkenntnis auf ein absolutes Prinzip möglich sei, d. h. was unbedingt sein soll und wahr ist; schlieĂźlich c) insofern es aber weiterhin eine Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff geben wird und notwendig (aus FreiheitsgrĂĽnden) geben muss, bekommt die  Diskursivität bei Kant (durch Fichte) eine andere Erklärung, d. h.  sie hat den Sinn einer „Hemmung“ bzw. interpersonalen Aufforderung, die sich als Trieb äuĂźert.

Der Trieb ist  einer der höchsten Abstraktionsbegriffe, weil darin sowohl Selbstbestimmung, oder man kann sogar sagen, Selbstbegründung in der Selbstbestimmung, als auch Abhängigkeit verbunden sind. Er ist Kausalität ohne Wirkung und bedarf einer ihm gewährten Bedingung der Sinn-Erfüllung. Damit gewinnt aber jede Hemmung oder a fortiori jede interpersonale Aufforderung einen Relationscharakter des Sinns, der Wertsetzung und Erfüllung, bzw. auch der Ablehnung bei Widersinn.7

Es kann nichts vorausgesetzt sein, das nicht im reflexiven Wissen selbst gesetzt ist, d.h. transzendental im Wissen um seine Entstehung nachgebildet und vor-gebildet ist, aber die Evidenz der Erfahrung darin ist nicht idealistisch ein-gebildet. (Siehe oben in einem Blog zur WLnm – „der Zweckbegriff ist gegeben“, geschenkt). Die aposteriorische Seite des Erkennens ist nur die Kehrseite der apriorischen Seite und umgekehrt bestätigt sich die apriorische Seite in der aposteriorischen Erfahrung.

Wenn die Vernunft sich selbst richtig versteht, d. h. wenn Philosophie Erkenntnis der Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen und deren Darstellung sein will, so ist ihr Verfahren analytisch zu erkennen und zu begrĂĽnden in einem aufsteigenden Verfahren – und schlieĂźlich synthetisch zu verstehen in einem absteigenden Verfahren. Dies fĂĽhrt zu einem zusammenhängenden Ganzen einer Abstraktion wie Konkretion, sodass die Evidenzformen der Erkenntnis sowohl im begrifflich-logischen ZurĂĽckgehen auf ein absolutes Prinzip, wie im anschaulichen und lebendigen Hervorgehen einer Genesis von Grund und Folge in der Konkretion gefunden werden können.Das ist, analog zu Kant gesprochen, die „Idee“ einer Transzendentalphilosophie, entworfen in einer Grundstruktur transzendentalen Wissens.

Sowohl analytischer Aufstieg und synthetischer „Abstieg“, der aus GrĂĽnden der Freiheit ebenfalls ein Aufstieg bleiben muss, sollen und mĂĽssen ein System des Wissens ergeben. Philosophie ist kritische Erkenntnistheorie wie bei Kant, aber nicht nur „Kritik“, sondern erkenntniskritische, vernĂĽnftige Durchdringung der Wirklichkeit im Ganzen, den Prinzipien nach – und eröffnet zu einem fĂĽnffachen System der Erkenntnisbereiche Natur, Gesellschaft, Moral, Religion und Geltungsform.

Die GRUNDLAGE von 1794/95 bringt es auf den Begriff: Ausgegangen wird vom Schweben der Einbildungskraft. Dessen Produkt wird in und aus der Vernunft apriorisch-systematisch bestimmt.  Die Empfindung oder Hemmung (oder AnstoĂź) wird zum GefĂĽhl in der Wahrnehmung, die Wahrnehmung durch das Verstandesdenken zur Erfahrung, und die Erfahrung in ihrer ganzen Reflexibilität des Sich-Wissens und Sich-Bildens in ihren wesentlichen Erkenntnisbegriffen ĂĽbergefĂĽhrt zur FĂĽnffachheit eines empirischen und vernĂĽnftigen und geschichtlichen und evidenten Sinn-Wissen. Die kategoriale Zeitbestimmung – bisweilen auch transzendentale Zeitbestimmung genannt – beginnt transzendentallogisch nicht mit der Quantität (wie bei Kant), sondern mit der Qualität. Weiters sind die kategorialen Bestimmungen a) systematisch geordnet und stehen b) untereinander in einer höheren systematischen Ordnung durch die Reflexionsideen des Zweckbegriffes und der Relation zwischen Erscheinung des göttlichen Seins und der existentiellen Wirklichkeitsform selbstbestimmender Freiheit.

© Franz Strasser, Nov. 2015

1Bei den Logikern herrscht WillkĂĽr der Abstraktion, „zuletzt etwas Sprache“ [?] (TL 1, StA, 4,1; ebd. S 27 – Z 13). Es wird unbewusst nach einem Vernunftgesetz verfahren, aber man weiĂź nicht warum. Die Logik muss aufgelöst werden in Philosophie.

2„Nun sind aber reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig und können niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Causalität, könne auch durch Sinne an|geschauet werden und sei in der || Erscheinung enthalten?“ (KrV, B 176.177 u. a.)

3Vgl. Programm bei Kant und seine Definition der Vernunft: „Man sieht leicht: daĂź die reine Vernunft nichts anders zur Absicht habe, als die absolute Totalität der Synthesis auf der Seite der Bedingungen […]. Denn nur allein jener bedarf sie, um die ganze Reihe der Bedingungen vorauszusetzen, und sie dadurch dem Verstande a priori zu geben.“ KrV 1781, S 336.

Ebenda, 3. Aufl. (Riga 1790), S. 23: „Auch kann diese Wissenschaft nicht von großer abschreckender Weitläuftigkeit seyn, weil sie es nicht mit Objecten der Vernunft, deren Mannigfaltigkeit unendlich ist, sondern es bloß mit sich selbst, mit Aufgaben, die ganz aus ihrem Schoße entspringen, und ihr nicht durch die Natur der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene vorgelegt sind, zu thun hat; da es denn, wenn sie zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die ihr in der Erfahrung vorkommen mögen, vollständig hat kennen lernen, leicht werden muß, den Umfang und die Grenzen ihręs über alle Erfahrungsgrenzen versuchten Gebrauchs vollständig und sicher zu bestimmen.“

4Brief an Niethammer vom 6. 12. 1793; GA III/2, 20 – zitiert nach I. Radrizzani, Die Vergegenwärtigung der Transzendentalphilosophie. Das philosophische Vermächtnis Reinhard Lauths, WĂĽrzburg 2017, S. 21.

5R. Lauth, Kants Lehre von den „Grundsätzen des Verstandes“ und Fichtes grundsätzliche Kritik derselben, in: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, 111 – 124, 118.

6R. Lauth, Kants Kritik der Vernunft und Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989, 140 – 153, 143.

7Die Redeweise Kants von den „synthetischen Urteile a priori“ bekommt eine ganz andere BegrĂĽndung und Rechtfertigung: „Synthetische Urteile a priori“  sind praktischen Urteile des Willens, wie er  zu einer Beschränkung in einer Mannigfaltigkeit (und innerhalb einer Beschränktheit ĂĽberhaupt) frei ĂĽbergehen kann.  Ein reiner und ein gehemmter empirischer Wille vereinigen sich synthetisch a priori in der Mannigfaltigkeit der GefĂĽhle oder des interpersonalen Wollens – bzw.  vereinen sich in der Ablehnung gebotener Widersinn-Erfahrungen.  Reiner Wille und die ursprĂĽngliche Beschränktheit – sind dem EMPIRISCHEN BewuĂźtseyn gegeben, schon da [;] aber die Beziehung derselben oder die Synthesis beyder ist nicht gegeben, sondern abhängig von dem freien REFLECTIREN.“ ( WLnm, ebd. S 160) 
Anders gesagt: Die tätige Reflexion  des Vernunftwesens „Mensch“ ist gebunden in der Freiheit nach einem Gesetz ĂĽberhaupt,  aber frei in Bezug auf die Mannigfaltigkeit intelligibler und sinnlicher Hemmungen (bzw. auch anderer Personen). Daraus entsteht, wie Fichte hier sagt, die sogenannte „Erfahrung“ (Wlnm, GA IV, 2, ebd. S 160). Das Lernen ist  ein tätiges Attendieren und freies Hingeben an die Mannigfaltigkeit. 

Zur Sprache fand ich bei J. Widmann: Sie ist im weiteren der „Thesaurus der konkreten intersubjektiven Erfahrung, der auslösende Code aller BezĂĽge und Querverbindungen unseres Erfahrungswissens“  (J. Widmann, Die Grundstruktur, 1977, S 275).  

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser