Fichtes Sittenlehre 1798, 2. Teil – § 2 – Stichworte

§ 2 (ohne Lehrsatz) (S 29)

Das Ich ist nur insofern, als es sich setzt.

Das ist der Unterschied zwischen einem Ding (z. B. einer Stahlfeder) und einem Ich, dass sich letzteres im Setzen selbst-bewusst setzt und  ist. 

Nun gibt es  offensichtlich ein Bewusstsein einer beschriebenen Tendenz im Wollen. Aufgabe ist es, sich dieses ursprünglichen Seins  jetzt bewusst zu werden, d. h. die in § 1 ergangene Aufforderung zur Reflexion sich bewusst zu machen, als „Intelligenz“ (ebd., S. 29)

FICHTE gibt hier eine Erläuterung, wie er das meint: (S 30)

Bewusstsein ist etwas ursprüngliches. Das Wissen soll in uns davon hervorgebracht werden. Das verlangt und ergibt ein genetisches Einsehen und Erklären.

a) Das Ich hat das absolute Vermögen des Anschauens, denn dadurch eben wird es Ich.

b) Die Bestimmung des Faktums des Anschauens – oder auch „Intelligieren“ benennbar -, soll durch den postulierten Akt zum Intelligierten werden, d. h. unter die Botmäßigkeit des Begriffs kommen. (S 31)

Die beschriebene Tendenz zur absoluten Tätigkeit setzt zufolge des Postulats sich selbst. A. Schmidt:  „(…) die Intelligenz soll den Zweckbegriff der Selbsttätigkeit des Ichs konzipieren, bevor das Ich als Wille sich gemäß diesem Zweckbegriff zur Selbsttätigkeit bestimmt.“ 1
„Der Wille des Ichs zur Selbsttätigkeit hängt also vom Begriff ab. Aber wovon hängt der Begriff ab? Fichtes Antwort ist eindeutig: Von nichts.“2

Denn die Intelligenz, das Denken, dass den Zweckbegriff hervorbringt, ist frei. Dadurch wird sich das Ich allererst seiner Freiheit bewusst. Nichts kann die Wahl des Zweckbegriffes bestimmen. Freiheit – Absolutheit der Absolutheit, absolutes Vermögen, sich selbst absolut zu machen. Das Ich reißt sich selbst von sich los und stellt sich hin als Selbstständiges.

Da alles Anschauen auf etwas geht, ist dieses Anschauen hier Intelligenz und Kraft.

Es ist eine absolute, reelle Kraft des Begriffs. Das Ich als absolute Kraft mit Bewusstsein reißt sich los von einem Absoluten ohne Kraft und Bewusstsein. (S 32)

Der Unterschied dieser inneren Tendenz des Ichs zur Stahlfeder ist auffallend. Letztere bestimmt sich nicht frei.

Das Denken eines Dinges und der Freiheit sind exorbitant verschieden (S 34).

Im Denken einer Freiheit wird ein Sein gefordert, dessen Grund aber nicht in einem Sein liegen kann, sondern in etwas anderem. Das ist das Denken. (S 35)

Wenn etwas nicht bestimmt ist, sondern sich selbst bestimmt, ist es frei.

Das geschieht im Denken. Denken ist Agilität, ist als Agilität der Intelligenz gesetzt.

Was sich selbst bestimmen soll, muss in gewisser Rücksicht sein, ehe es ist.

Das Freie als Intelligenz mit dem Begriffe seines reellen Seins ist noch vor dem reellen Sein, der Begriff geht dem Sein vorher.

Aber die Absolutheit ist doch schon vorgegeben? (S 36)

Ja, sie ist zur Möglichkeit einer Intelligenz überhaupt erforderlich und aus derselben hervorgehend.

Aber nur ein Freies kann als Intelligenz gedacht werden. (S 36)

Das Ich hat die Tendenz zur absoluten Tätigkeit, ist sich selbst anschauend, und so setzt es sich als frei, d. h. als Vermögen einer Kausalität durch den bloßen Begriff. (S 36)

KANT hat diesen Begriff der Freiheit schon gehabt, aber die Freiheit nicht weiter genetisch aus dem Begriff begründet.

Um den Begriff der Freiheit so aufzustellen, muss man den Weg der Wissenschaftslehre (=WL) gehen, der höher führt als ein Sein einfach vorauszusetzen. (S 37)

Das Ich nimmt alles in die Anschauung und in den Begriff auf.

Was in der Wirklichkeit sein kann, hängt  vom Begriff ab. Was das Ich werden soll, dazu muss es sich selbst durch den Begriff machen. Das Ich ist sein eigener Grund und setzt auch in praktischer Bedeutung sich selbst schlechthin. (S 37)

Anders gesagt: Die Tendenz zur absoluten Tätigkeit fällt in die Botmäßigkeit des Begriffs.

Das Intelligente ist absolut sich selbst bestimmend, reine Tätigkeit im Gegensatz zu allem Bestehenden und Gesetzten.

Was für eine Wirklichkeit ist in diesem begrifflichen und intelligenten Setzen jetzt gemeint?

Der kommende § 3 der SL 1798 arbeitet diesen Begriff und dieses Prinzip eines Solls heraus, das wirkliche Prinzip einer reinen Sittlichkeit. (Deshalb kann Fichte berechtigt das ganze erste Hauptstück als „Deduktion“ des Prinzips der Sittlichkeit überschreiben, weil der Begriff – das Prinzip der Sittlichkeit – ja aus der Selbsttätigkeit und der inneren Tendenz des Ichs und des Begriffes der Freiheit, von nichts abhängig, abgeleitet ist. Bekanntlich wird bei Kant die Möglichkeit der Ableitung des Sittengesetzes verneint. Das Sittengesetz ist dort absolutes Faktum.

Von der Idee her treffen sich wohl Kant und Fichte. Ein absoluter Wert soll vorausgesetzt sein, bei Kant das Sittengesetz als Anfang der Freiheit, bei Fichte einerseits ein absoluter Wert, der gewollt und ergriffen werden kann, also auch material verstanden wird, andererseits muss dieser Wert dem Sich-Wissen des Ichs von sich her sich zeigen und offenbaren. Der höchste Wert ist einerseits nicht unabhängig vom Wollen gesetzt, er ist aber auch nicht durch das Wollen gesetzt. Sittliche Wertung, vom Ich ausgehend, und Gutsein, von Gott ausgehend, sind synthetisch vereint. 3

Um bei der Terminologie von Fichte aus dieser Zeit zu bleiben – da ihm die Tätigkeit Gottes noch nicht fassbar schien – zitiere ich zum Abschluss dieses § 2 wieder J. Widmann, der diese intendierte Absolutheit der Freiheit und des Wollens wie folgt beschreibt: (Es klingt nämlich etwas existentialistisch á la 20. Jhd., was Fichte hier sagt – zumindest wurde er so von Sartre weiter interpretiert.)

„Der Inhalt dieses Gedankens ist, dass das freie Wesen solle, denn Sollen ist eben der Ausdruck für die Bestimmtheit der Freiheit; dass es seine Freiheit unter ein Gesetz bringen solle; dass dieses Gesetz kein anderes sei als der Begriff der absoluten Selbständigkeit (absolute Unbestimmbarkeit durch etwas außer ihm); endlich, dass dieses Gesetz ohne Ausnahme gelte, weil es die ursprüngliche Bestimmung eines freien Wesens enthält.“ ( siehe SW IV, ebd. S 39 – 59)4

© Franz Strasser, Altheim, 19. 6. 2018

1A. Schmidt, Die Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit (§§ 1- 3), siehe Anm. 15, 1. Teil, ebd., S. 47.

2A. Schmidt, ebd., S 47.

3Siehe dazu einen frühen Aufsatz von R. Lauth, Sittliche Wertung und Gutsein, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 9. H.2., (1955), pp 372 – 376. Oder siehe seine Ethik, 1969, Abschnitt zum Thema Sazienz des Wertes.

4J. Widmann, J. G. Fichte, ebd. S 181.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser