§ 6 (ebd. S. 87ff) – die Deduktion der wirklichen Kausalität des Vernunftwesens
Dritter Lehrsatz. Das Vernunftwesen kann keine Anwendung seiner Freiheit, oder Wollen in sich finden, ohne zugleich eine wirkliche Kausalität außer sich, sich zuzuschreiben.“ (ebd.)
Zurückgehend auf die reine Tätigkeit des Ich wurde 1.) eine Wahlfreiheit analysiert, die a) als formales Wollen gegenüber dem Denken und b) als inhaltliches Wollen bestimmt wurde.
Der weitere Gedankengang ist, dass die freie Tätigkeit somit immer „vermittels ihres Entgegengesetzten“ (ebd. S 88) nur bewusst werden kann, aber nicht nur vermittels dieses Gegensatzes Wollen/Denken, sondern in einer wahrnehmbaren Beschränkung, in einer sinnlichen Erfahrung des Fühlens.
Die ganze Philosophie der WL ist stets in dieser Ganzheit von intellektueller und sinnliche Anschauung zu sehen – wie Fichte wiederum grundsätzliche Bemerkungen zu seiner Philosophie macht:
„4. Allein durch eine solche Vorstellung der Sache, wie die soeben gegebene, wird die Absolutheit des Ich, als der wesentliche Charakter desselben beibehalten. Unser Bewusstsein geht aus von dem unmittelbaren Bewusstsein unserer Tätigkeit, und erst vermittelst derselben finden wir uns leidend. Nicht das Nicht-Ich wirkt ein auf das Ich, wie man die Sache gewöhnlich angesehen hat, sondern umgekehrt. Nicht das Nicht-Ich dringt ein in das Ich, sondern das Ich geht heraus in das Nicht-Ich; wie wir nämlich durch sinnliche Anschauung dieses Verhältnis anzusehen genötigt sind. Denn transzendental müsste dasselbe so ausgedrückt werden: wir finden uns als ursprünglich begrenzt nicht dadurch, dass unsere Begrenztheit sich einengte; denn dann würde mit Aufhebung unserer Realität zugleich das Bewusstsein derselben aufgehoben werden, sondern dadurch, dass wir unsere Grenzen erweitern, und indem wir sie erweitern. Ferner, um auch nur aus sich herausgehen zu können, muss das Ich gesetzt werden, als überwindend den Widerstand. So wird abermals, nur in einer höheren Bedeutung, behauptet das / Primat der Vernunft, inwiefern sie praktisch ist. Alles geht aus vom Handeln, und vom Handeln des Ich. Das Ich ist das erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, aller Tat, und Begebenheit.“(ebd. S 90)
M. Quante beschreibt deshalb kritisch die gegenwärtig dominante Handlungstheorie, wonach der Kausalbegriff gerne nach dem Modell der Naturwissenschaften gesehen wird, d. h. nach der Beobachterperspektive orientiert, aber nicht nach dem Handlungswissen selber wie bei Fichte.1
§ 7 Bestimmung der Kausalität des Vernunftwesens durch ihren inneren Charakter.
„Vierter Lehrsatz: Das Vernunftwesen kann sich keine Kausalität zuschreiben, ohne dieselbe auf eine gewisse Weise durch ihren eigenen Begriff zu bestimmen.“ (ebd. S 91)
Es ist nach Fichte diese Aussage noch „unverständlich und vieldeutig“ (ebd.)
Es geht um das Faktum, dass wir unsere Entscheidungen durch Handeln realisieren müssen, da sich unsere Absichten nicht automatisch und „unmittelbar durch unseren Willen realisieren.“ (ebd. S 92)
Ich muss dafür die geeigneten „Mittel“ in geeigneter Reihenfolge wählen. Ich brauche „Mittelzwecke“ für den „Endzweck“. (ebd.)
Das angedeutete „vieldeutig“ liegt in der Bestimmung des „Mittels“, das so oder anders gewählt werden kann. Fichte übersetzt die Rede von Mittelzweck und Endzweck in die Rede von einem bestimmten Gefühl, unterschieden zu einem anderen Gefühl. (ebd. S. 93) Das braucht eine wahrgenommene, wirkliche „Mehrheit von Anfangspunkten“ (ebd. S 96); diese Punkte zusammengefasst „wie sich tiefer unten ergeben wird, (ist) unser artikulierter Leib;“ (ebd.)
Die in § 4 deduzierte Wechselseitigkeit von Wollen und Denken äußert sich also weiter deduziert in ihrem Charakter als artikulierter Leib (als Begriff des Leibes, als geordnete Reihe von Insertionspunkten in äußerer Wirksamkeit).
Die notwendigen Voraussetzungen gegliedert: Es bedarf a) eine raum-zeitliche Ausdehnung der Wirksamkeit in einer Folge der Mannigfaltigkeit (ebd. S 94.95f), die eine Begrenzung von außen darstellt, aber diese ist wiederum b) nur durch ein reales, tätiges und fühlendes Ich möglich (ebd. S 97), also durch eine unabhängige Tätigkeit; das verlangt nochmals zwei Annahmen, c) die Wahrnehmbarkeit setzt den Bezug zur Sinnenwelt voraus und d) die reine, unabhängige Tätigkeit ist nur durch Widerstand zu charakterisieren.
Fichte drückt das auch so aus: die Empfindung ist „stetig“, die Reflexion darauf ist „ruckartig“ (ebd. S 97). Warum überhaupt das Vernunftwesen so eingerichtet ist, lässt sich hier auf dieser Stufe nicht beantworten: Es ist durch das Handeln zu dieser ursprünglichen Begrenzung bestimmt, „(….) mithin auch durch unser Erkennen“ kann es nicht darüber hinausgehen (ebd. S 98). Das Vernunftwesen ist hier durch „absolute Schranken des Urtriebes“ (ebd.) gedacht. „Unsere ganze, sowohl innere als äußere Welt, inwiefern das erstere nur wirklich Welt ist, ist dadurch auf alle Ewigkeit hinaus für uns prästabiliert.“ (ebd., S. 99)
M. Quante: „Fichte will nun klären, ob diese Bestimmtheit vom Ich angesehen wird als (a.) von der Freiheit des Ich abhängig oder als (b.) das Ich ohne dessen Zutun bestimmende Beschränkung. Die Antwort, die Fichte darauf gibt, ist eindeutig: Für das wahrnehmende Ich selbst (nicht für den Transzendentalphilosophen) impliziert „,wahrnehmen“, dass ,,von dem Denkenden, als solchem, gar nichts“ (I, 5, 99) abhängt. Die Ordnung der stetigen Reihe, d. h. die zu wählenden Mittel, sind dem Ich vorgegeben und nicht aus der Freiheit seines Denkens heraus bestimmbar.“2
Anders gesagt: Es sind immer beide Seiten zu sehen: a) Die Bestimmtheit des Ich, die letztlich von der Freiheit des Ich abhängig ist, und b) die ohne dessen Zutun bestimmende Beschränkung durch die „Folge der Mannigfaltigkeit“ der Welt (ebd. S., 96). Diese Ordnung der stetigen Reihe, d. h. der zu wählenden Mittel, ist dem Ich vorgegeben.
Kann das Ich über das Denken der Ordnung im Wollen hinausgehen? Das kann es nicht, denn die Begrenzung als die stetige Folge der Mannigfaltigkeit ist bestimmt worden als selbstgewählter „Widerstand“, wenn es reell wirksam sein will. Die Vorgegebenheit der Mittel ist auch eine Begrenzung für das Wollen.
„Die Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewusstsein, welches wesentlich bestimmt ist als absolute Selbstbestimmung, sind konkrete Handlungen, die aufgrund ihres raum-zeitlichen Charakters eine dem Ich vorgegebene kausale Struktur aufweisen, mittels deren ein Ich seine Zwecke verwirklichen, aber nicht nach Belieben denkend oder wollend modifizieren kann.“ 3
Alles sinnliche Anschaubare ist notwendig ein Quantum, einen Zeitmoment füllend, ein ins Unendliche teilbares Mannigfaltiges. Deshalb muss die wahrgenommene Beschränkung selbst ein Mannigfaltiges sein. Ich soll gesetzt werden, d. h. eine Mannigfaltigkeit der Begrenzung und des damit verbundenen Widerstandes, der in einer Sukzession aber notwendig überwunden wird. Es wird dem Ich Kausalität in der Sinnenwelt zugeschrieben durch die Sukzession der Zeit.4
S 90 Das Ich wirkt ein auf das Nicht-Ich, nicht umgekehrt. Das Ich geht heraus in das Nicht-Ich.
Alles geht vom Handeln des Ich aus. Es ist das erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens.
© Franz Strasser, 10. 2. 2021
1Vgl. M. Quante, Analytischer Kommentar, a. a. O., ebd S 69.
2M. Quante, Analytischer Kommentar, a. a. O., S 72.
3M. Quante, Analytischer Kommentar, a. a. O., S 73.
4 Es wäre hier weiter auszuholen: Die Entstehung der Zeitanschauung, erst recht die einer gedeuteten Geschichtsanschauung, trägt einen sittlichen Charakter an sich. Was Zeit ist, a fortiori Geschichte, kann nur in einer im Bewusstsein gesetzten dynamischen Ordnung begriffen werden, die einseitig und gerichtet von einem absoluten Bestimmungsgrund ausgehend, gedacht werden kann. Zeittheorien von ewiger Wiederkehr, evolutive Theorien, sinnliche Theorien, systemtheoretische Theorien u. a. sind nicht vorstellbar. Aber auch rein abstrakte Ewigkeitsvorstellungen, die von einer dem vergängliche Sein des Vernunftwesens gegenübergestellten Ewigkeit Gottes ausgehen, sind nicht vorstellbar, wie es z. B. PLOTIN oder AUGUSTINUS schön beschrieben haben. Die Zeitvorstellung und Geschichte entsteht in einem gerichteten Durchlaufen einer vorgestellten Wirksamkeit. Es ist immer die Frage, rekurriere ich in meiner zeitlichen Wirksamkeit auf einen absoluten Bestimmungsgrund (Geltungsgrund), oder rekurriere ich in Richtung eines Nichtseins meines Denkens und Wollens, rekurriere ich (in Richtung) auf Leben oder (in Richtung) auf den Tod.