Fichtes Sittenlehre – §§ 11 – 12 (ebd. S. 140 – S 150) – 10. Teil

Fichtes Sittenlehre – §§ 11 – 12 (ebd. S. 140 – S 150)

Es folgen jetzt einige interessante Auseinandersetzungen Fichtes mit der Moralphilosophie Kants u. a. Philosophen seiner Zeit.

A. W. Wood leitet das so ein: „Bevor Fichte den Begriff des reinen Triebs weiterentwickelt, hält er in diesem Abschnitt inne, um eine Verbindung herzustellen mit dem Begriff eines Interesses und mit der Erfahrung des Gewissens, wobei er einige wichtige Themen einführt, die in § 15 weiter erläutert werden. Unser Gefühl der Achtung vor dem höheren Trieb – und vor unserer damit verbundenen eigenen Würde – führt auf natürliche Weise zu einer Konzeption der Natur des Interesses, das wir, wenn wir darüber reflektieren, an diesem Trieb haben. Fichtes Konzeption des Interesses folgt aus seinem Versuch, Kantische Themen so zu reinterpretieren, dass Kants unerklärte Dualismen ersetzt werden durch eine einheitlichere Konzeption des Ichs.“ 1

Es kommt zu dem wichtigen Begriff des „Interesses“ (ebd. S 140), der zurückweist auf eine Einheit in einem ursprünglichen Ich (in der Ichheit), wodurch sinnlicher und geistiger Trieb miteinander verbunden sind.

„(…) Der Trieb selbst ist nur Gegenstand des Gefühls; eine unmittelbare Beziehung darauf könnte sonach auch nur gefühlt werden. Also das Interesse für etwas ist unmittelbar, heißt: die Harmonie oder Disharmonie desselben mit dem Triebe wird gefühlt, vor allem Räsonnement, und unabhängig von allem Räsonnement. Aber ich fühle nur mich; sonach müsste diese Harmonie oder Disharmonie in mir selbst liegen, oder sie müsste nichts anderes sein, als eine Harmonie oder Disharmonie meiner selbst mit mir selbst.“ (§ 11, ebd., S 140)

Die gefühlte Harmonie findet sich zwischen dem ursprünglichen Ich mit seiner idealen Tätigkeit und dem wirklichen oder empirischen Ich. Es ist die vom „Urtrieb“ (ebd. S 141) geforderte Harmonie.

Es werden in Folge der Naturtrieb und der reine (geistige) Trieb beschrieben (ebd. S 141f), die in ihrer Komplementarität zu einen Gefühl der Übereinstimmung führen, anders übersetzt, zum Gefühl der Gewissheit oder des „Gewissens“. (ebd. S 144)

Das beschriebene Gefühlsvermögen, welches sehr wohl das obere heißen könnte, heißt das Gewissen.“(ebd. S. 144)

Aber wie verläuft jetzt konkret diese Harmonisierung und die Anwendung des reinen Triebes auf den Naturtrieb und umgekehrt dessen Rückwirkung?

§ 12 (ebd. S 144ff)

Der Grund des reinen Triebes wie des natürlichen Triebes, so wurde in § 11 schon gesagt, ist ein und derselbe – oder siehe § 8, Kommentar nach F. Schick. Der  Trieb als objektiviert vorgestelltes Wesen des Ichs, als das Wesen seiner Natur. 
Der reinen Trieb bejaht den natürlich Trieb aber  nicht um des Genusses willen, sondern um einer höheren, materialen Freiheit willen. In der formalen Freiheit sind sich natürlicher und geistiger Trieb gleich, sonst würden sie sich gegenseitig aufheben; im materialen Sinne unterscheiden sie sich. Diese Unterscheidung muss die Möglichkeit einer unendlichen Annäherung an die materiale „Freiheit um der Freiheit“ willen eröffnen, was ja der reine Trieb fordert. Diese Unendlichkeit ist keine sinnlose, „schlechte“ Unendlichkeit (Hegel), weil ja in endlicher Hinsicht der Zeit der natürliche Trieb seine Erfüllung fordert und bei Eintreten der Bedingung diese Erfüllung erreichen kann. Eine „jedesmalige“ Bestimmung und Erfüllung ist möglich, d. h. sowohl sinnliche wie sittliche Erfüllung des Triebes unter zeitlichen Bedingungen nach einem Maßstab pragmatisch-sittlicher Einsicht und Erfüllung. 

„Die Möglichkeit, seine jedesmalige Bestimmung, einzeln, und in der Zeit, zu erfüllen, ist allerdings durch die Natur selbst begründet, und in ihr gegeben. Das Verhältnis des Naturtriebs zu dem aufgestellten Prinzip ist dieses: In jedem Momente ist etwas unserer sittlichen Bestimmung angemessen; dasselbe wird zugleich durch den Naturtrieb (wenn er nur natürlich, und nicht etwa durch eine verdorbene Phantasie verkünstelt ist) gefordert: aber es folgt gar nicht, dass alles, was der letztere fordert, dem ersteren gemäß ist. Die Reihe des letzteren, bloß an sich betrachtet, sei = A B C usf. durch die sittliche Bestimmung des Individuums wird vielleicht aus B nur ein Teil herausgehoben, und wirklich gemacht; wodurch, da das Vorhergehende anders ist, als es durch bloße Natur sein würde, auch der auf B folgende Naturtrieb anders sein wird; aus welchem aber vielleicht selbst in dieser Gestalt durch die sittliche Bestimmung nur ein Teil herausgehoben wird: und so ins Unendliche. In jeder möglichen Bestimmung aber treffen beide Triebe zum Teil zusammen. So allein ist Sittlichkeit in der wirklichen Ausübung möglich.“ (ebd., S 148)

Fichte hebt diese Zweckmäßigkeit in den Trieben, geleitet durch die materiale Freiheit, nochmals hervor, und kommt zum Begriff, dass der sittliche Trieb folglich als ein „gemischter“ Trieb (ebd., S 149) bezeichnet werden kann.

Das ergibt eine interessante Abgrenzung zur Moralbegründung bei Kant – die dann von anderen Autoren von Fichte (unzitierend) oft abgeschrieben und vorgebracht worden ist.

Dazu Allen W. Wood (Hervorhebungen von mir): „Was wir tun sollen, ist für Kant vom Vernunftgesetz allein geboten, ganz unabhängig von jeglicher Neigung. Die gebotenen Handlungen sind in keinem Fall von natürlichen Trieben oder ihren Objekten bestimmt; geboten sind vielmehr ausschließlich Handlungen, die mit solchen Maximen übereinstimmen, die gesetzgebende Form besitzen, Maximen also, die als allgemeine Gesetze gewollt werden können. Fichte jedoch gehörte zu den ersten, die Kants Formel des allgemeinen Gesetzes als etwas ansahen, das bloß formal, leer und unfähig sei, den Inhalt der Pflicht zu spezifizieren, das heißt, zu bestimmen, welche Handlungen wir denn vollziehen sollen. (Alle Vorwürfe eines,,leeren Formalismus“, die später gegen Kant erhoben wurden, sei es von Hegel oder anderen, leiten sich hier von Fichte her.) Für Fichte kann das Moralprinzip nur Inhalt oder Anwendbarkeit besitzen durch die Versöhnung des reinen Triebs mit dem Naturtrieb. Sowohl die Pflicht als auch die Objekte der aus Pflicht vollzogenen Handlungen können ausschließlich durch das Gefühl der Harmonie zwischen den beiden Tätigkeiten des Ichs erkannt werden.“ 2

© Franz Strasser, 19. 4. 2024

1Allen W. Wood, Von der Natur zur Freiheit. Kommentar, a. a.O., ebd. S 99.

2Allen W. Wood, ebd., S 104.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser