FICHTE arbeitet jetzt auf eine Synthesis hin, d. h. auf einen Begriff, von dem er sagt, „(der) einer der abstraktesten ist, welche in der ganzen Philosophie vorkommen (kann)“ (ebd. S 102). Denn was ist gefragt und von FICHTE angestrebt? Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu denken in und aus Freiheit, aber dies in einer Evidenz, die als solche in ihrem Begriff und Selbstverständnis erst abgeleitet werden muss, als organisches Ganzes, „Natur“ genannt, und als Trieb in allem Lebendigen, zumindest einmal im Ganzen eines sich bewussten, körperlichen Ichs.
Wenn tatsächlich die Freiheit a) das theoretische Bestimmungsgesetz der Wirklichkeit sein soll, als auch b) das praktische Gesetz des sittlichen Handelns, so muss das Wollen und Handeln (in und aus Freiheit) in der Objektivität eines Sichtbaren erscheinen können.
Fichte nimmt es wieder akribisch genau, was den großen Vorteil hat, dass hier wirklich die von allen Philosophen vorausgesetzte Welt der Natur hier in ihrem Sinn-Gehalt, zumindest teilweise, und ihrer Erkennbarkeit beschrieben werden kann.1
Friederike Schick hebt in ihrem Kommentar zu diesem § 8 hervor: „Erstens sind Wollen und Handeln eingelassen in eine vorgefundene Objektivität, und zweitens ist mit Inhalten des Wollens und Handelns zu rechnen, die der Anwendung jener Norm vorausgesetzt sind und entgegengesetzt sein können. Diese beiden Momente sind darin verbunden, dass Wollen und Handeln eine in der Vorstellung antizipierte Veränderung vorgefundener Objektivität zum Inhalt haben.“ 2
Anders ausgedrückt: Die in den §§ 1- 3 vorausgesetzte Selbsttätigkeit einer Ichheit und die in den §§ 4- 7 deduzierte Wahlfreiheit und kausale Wirksamkeit wird zu einem Sehen eines Gesehenen weiter deduziert, zu einer Projektion des Sehens in einem Gesehenen der Natur. Das Sehen wird durchsichtig in einer „triebhaft“ zu beschreibenden Bewegung auf Gesehenes hin, kehrt aber reflexiv sofort wieder in sich zurück, da ja das Gesehene nicht das Sehen selbst ist, sondern nur konkretes Bild einer verwirklichten Selbständigkeit und Selbsttätigkeit, objektiviert nach außen hin als Evidenz einer Natur. In der Natur und als Natur wird Sehen in concreto wirklich, die intelligible Quelle dieser Möglichkeit des Sehens liegt aber selber nicht in der Natur, sondern in der Selbsttätigkeit der Ichheit. 3
Es geht, wie Fichte überschreibt, um die „§ 8 Deduktion einer Bestimmtheit der Objekte ohne unser Zutun“ (ebd. S 99) – zu ergänzen wäre, d. h. ohne unser Zutun in Wollen und Handeln, aber nicht ohne unser Sehen. Denn natürlich ist diese Projektion eines Triebes und eines organisierten Ganzen der Natur reflexiv im Sehen ermöglicht und begründet (für den Transzendentalphilosophen).
Oben wurde der Stoff bereits als Objektivität abgeleitet (§ 4: „Deduktion eines Gegenstandes unserer Tätigkeit überhaupt“; ebd. S. 74) Dieser Stoff ist durch eine Wirksamkeit immer schon geformt. Keine Hemmung ohne Reflexion, keine Reflexion ohne Hemmung.
S 100 Es gibt die eine Thesis, dass das Vernunftwesen keine Erkenntnis hätte außer zufolge einer Selbst-Beschränkung seiner Tätigkeit (seiner Reflexion) – und die Gegenthesis, dass keine beschränkte Selbsttätigkeit möglich wäre ohne (realistische) Erkenntnis und (realistische-objektive) Voraussetzung derselben. Die natürliche Bestimmtheit des (realistischen) Wollens ist bedingt durch einen frei entworfenen (idealen) Zweckbegriff und der (ideale) Zweckbegriff eines Etwas ist umgekehrt bedingt durch ein (reales) Wollen.
Es muss dieser Zirkel synthetisch erklärt und gelöst werden, d. h. dass sich die Evidenz ergibt: das ideale Zweckdenken, das nicht sichtbar ist, findet in der realen Selbsttätigkeit eine sichtbare Konkretion, und umgekehrt kann das sichtbare Sich-Bewegen und Getriebensein nur durch eine ideale Zwecksetzung erklärt werden. Der vorausgesetzte Begriff eines freien Wesens muss von selbst zu einem sichtbaren, triebhaft organisierten Triebwesen führen und der Begriff des Triebes lässt sich nur durch „absolute Freiheit“ (Abschnitt VI, ebd., S 112) denken, dass ich dem Trieb auch nicht hätte folgen müssen (vgl. dann ebd. S.106).
Diese Gewinnung der Abstraktion „Trieb“ aus Wollen und Zweck unterteilt Fichte in sieben Unterabschnitte und einem Corollarium in der Mitte.
I) Selbsttätigkeit und gehemmte Tätigkeit sollen vereint werden, Zweck und Wollen.4
„Dass etwas Produkt meiner Selbsttätigkeit sei, ist nicht wahrgenommen, und es kann gar nicht wahrgenommen werden, sondern es ist schlechthin gesetzt; und es wird auf diese Weise gesetzt, indem die Form der Freiheit gesetzt wird. (Man sehe § 5, S. 105). Aber diese Form der Freiheit besteht darin, dass die materielle Bestimmtheit des Wollens sich gründe auf einen durch die Intelligenz frei entworfenen Begriff vom Zwecke. Hier nun da- von abgesehen, dass die Möglichkeit eines Zweckbegriffs selbst durch die Erkenntnis eines Objekts außer uns, und einer ohne unser Zutun, vorhandenen Form desselben bedingt zu sein scheint, weil dies nur Aussage des gemeinen Bewusstseins ist, und wir noch nicht wissen, inwiefern es sich bestätigen werde.“(ebd. S 100.101). 5
Es soll eine objektive Tätigkeit erkannt werden, Erkennen heißt Tätigkeit, aber so, dass das Wollen darin unterschieden und abgesondert werden kann in einer Selbst-Tätigkeit und in deren objektiver Erscheinung.
II) Fichte geht es jetzt nicht so sehr um die ganze Darlegung der Methode, wie ein synthetischer Begriff zwischen Tätigkeit und objektiver Erkenntnis (der Erscheinung), zwischen These und Antithese, gefunden werden kann, sondern schlägt eine „leichtere“ Methode vor. (ebd. S. 102)
III) „Tätigkeit, objektiv genommen, ist Trieb“. (ebd., S 103) Dem entspricht objektiv ein „Gefühl“ (ebd.)
„Nun ist das Ich schlechthin nicht bloß objektiv: denn dann wäre es eben kein Ich, sondern ein Ding. Seine ursprüngliche Bestimmtheit ist sonach nicht nur Bestimmtheit eines Seins, sondern auch eines Denkens; das letztere Wort in seiner weitesten Bedeutung für alle Äußerungen der Intelligenz genommen. Aber bloße Bestimmtheit der Intelligenz ohne alles Zutun ihrer Freiheit, und Selbsttätigkeit heißt ein Gefühl; (…)“ (ebd.)
„Dieses ursprüngliche Gefühl des Triebes ist nun gerade das synthetische Glied, welche wir oben beschrieben. Der Trieb ist eine Tätigkeit, der im Ich notwendig Erkenntnis wird, (…)“ (ebd. S. 104)
Es ist damit ein höchst diffizil zu denkende, absolut bemerkenswerte Synthesis zwischen intelligibler Freiheit (des Vernunftwesens) mit idealem Zweckentwurf und sinnlicher Tätigkeit des Vernunftwesens mit realem Wollen und Tendenz zur Befriedigung des Strebens, deduziert:
Fichte: „Durch dieses ursprüngliche Gefühl wird die oben aufgezeigte Schwierigkeit aus dem Grunde gelöst. Es ließ sich keine Tätigkeit ohne Erkenntnis annehmen, denn es wurde ja jeder Tätigkeit ein frei entworfener Zweckbegriff vor- ausgesetzt. Aber hinwiederum ließ sich keine Erkenntnis annehmen, ohne ihr Tätigkeit vorauszusetzen, indem alle Erkenntnis aus der Wahrnehmung unserer Beschränktheit im Handeln abgeleitet wurde. Jetzt aber zeigt sich etwas unmittelbar Erkennbares; unser ursprünglicher Trieb, die erste Handlung ist Befriedigung desselben, und in Beziehung auf sie erscheint jener Trieb als frei entworfener Zweckbegriff; welches auch ganz richtig ist, indem das Ich selbst als absoluter Grund seines Triebes betrachtet wer- den muss.“(ebd. S 104)
M. a. W. ausgedrückt (nach Friederike Schick): „ (…) Im Gedanken des Triebs ist die wirkliche Veränderung als Ausdruck des Wesens des sich Verändernden gedacht. Darin ist ein Trieb innerer Erklärungsgrund. Zweitens ist das ausgedrückte Wesen nicht als bloße Möglichkeit zur Veränderung gedacht, sondern als im Gegenstand wirksames Movens derselben. Darin ist ein Trieb reeller Erklärungsgrund. Drittens ist ein Trieb keine ruhende Beschaffenheit, sondern selbst nur durch das, wozu er treibt, bestimmt. Es ist also ein und dieselbe Tätigkeit, die sich als wirkliche Veränderung in der Form der Äußerung und als Trieb als entsprechendes Inneres gegenübergestellt wird.“6
IV) Durch das Gefühl ist das Vernunftwesen gebunden, als „fühlend diesen Trieb“ (ebd. S 105). Vom Status der Ichheit her gesehen erweckt es den Eindruck als sei Gefühl und Trieb nicht zum Ich gehörig, das ja in seiner Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit eins mit sich sein soll. (vgl. ebd.) „(…) so gehört insofern das Objekt und Subjekt des Triebes nicht zum Ich, sondern es wird ihm entgegengesetzt.“ (ebd.)
Es ist damit a) auch eine höchst wichtige Abgrenzung und Unterscheidung zur besseren Differenziation des Selbstbewusstseins und einer selbstbewussten Freiheit gewonnen: „Ich folge freilich dem Triebe, aber doch mit dem Gedanken, dass ich ihm auch nicht hätte folgen können. Nur unter dieser Bedingung wird die Äußerung meiner Kraft zu einem Handeln; nur unter dieser Bedingung ist Selbstbewusstsein und Bewusstsein überhaupt möglich.“ (ebd. S 106)
Ebenso wird, b) gerade durch die Form einer objektiv gedachten Selbsttätigkeit (im Trieb, als Trieb) das Sittengesetz als Form eines Moralgesetzes denkbar und sichtbar.
Das Sittengesetz wird erfahrbar als Geltungsgrund von Werten, die im Gefühl als „bestimmtes materiales Bedürfnis“ vermittelt sind, sei es in der Form basaler, sinnlicher Werte oder dann höherer, intelligibler Werte, aber auf jeden Fall erfahrbar und perzipierbar – nicht nur durch ein formales Universalisierungsgesetz des „Kategorischen Imperativs“ nachträglich prüfbar. (ebd. S 106)7
Siehe diese sehr luzide Beschreibung: „Wir haben schon oben diese objektive Ansicht des Ich, inwiefern in demselben ursprünglich ein bestimmter Trieb gesetzt, und aus ihm ein Gefühl abgeleitet wird, von einer anderen objektiven Ansicht desselben Ich, welche als Sittengesetz erscheint, unterschieden. Hier lässt dieser Unterschied sich noch deutlicher machen. Beides ist materialiter darin unterschieden, dass das Sittengesetz gar nicht von einer objektiven Bestimmtheit des Triebes, sondern lediglich von der Form des Triebes überhaupt, als Triebes eines Ich, der Form der absoluten Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem außer ihm, abgeleitet wird; in dem Gefühle des Triebes aber ein bestimmtes materielles Bedürfnis vorausgesetzt wird.“(Hervorhebung von mir, ebd. S 106)
M. a. W., das Sittengesetz wird durch die formale Bestimmung einer Selbsttätigkeit eines Triebes und Gefühls begreifbar, als materiales Bedürfnis, basal-sinnlich bis geistig-intelligibel, innerhalb der Wahlfreiheit der Reflexion.
Anders gesagt: Der Bezug des Sittengesetzes auf die Freiheit wird als moralisches Gesetz wahrnehmbar, gefühlt – über die Vermittlung Trieb/Gefühl.
„Formaliter ist beides dadurch zu unterscheiden: das Sittengesetz dringt sich schlechthin nicht auf, wird gar nicht gefühlt, und ist gar nicht unabhängig von der freien Reflexion vorhanden, sondern entsteht uns erst durch eine Reflexion auf die Freiheit, und durch die Beziehung jener Form alles Triebes überhaupt, auf die letztere; das Gefühl des materiellen Triebes hingegen dringt sich auf. Endlich der Relation nach bezieht der jetzt erwähnte Trieb sich gar nicht auf die Freiheit, wohl aber bezieht auf sie (sc. auf die Freiheit) sich das Sittengesetz, denn es ist Gesetz für sie.“ (ebd. Hervorhebung von mir.)
V) Die weitere Frage ist, wie eine Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit (der Ichheit) als Natur und in die Natur durch ein reflexives Sehen des möglich Konkreten, als projiziertes Trieb-Leben, weiter vorgestellt und gedacht werden kann. Wie können wir uns als freie Vernunftwesen und zugleich als Naturwesen begreifen? Es geht jetzt um das „ganze System der Natur“ (ebd. S 107), das als reelles, organisches Ganzes verstanden werden muss. Durch eine bloß kausale, mechanische Ursachenkette, in der z. B. eine Kraft von Glied zu Glied weitergegeben wird, kann kein Ganzes und keine Zweckhaftigkeit erreicht werden. Es kann nur eine „innere Kraft des Substrats auf sich selbst“ (ebd. S 109) geben. „Selbstbestimmung ist der Begriff, vermittels dessen ein Trieb sich denken lässt.“ (ebd.)
Corollarium
Es wird nochmals auf das Ungenügen einer mechanischen Erklärung der Natur und ihres Lebens eingegangen. Natur kann nur durch reflektierenden Urteilskraft erfasst werden.
VI) Der Begriff der Natur und der in ihr liegende Trieb in seiner (unbewussten) Reflexivität des sich objektiven Sehens der Möglichkeit nach wird nochmals abgegrenzt von der Freiheit, wiewohl Freiheit in die Objektivation der Äußerung eines Ichs und der Wahlfreiheit und des Stoffes und der Sich-Veränderung in das Triebdenken und Gefühl schon eingegangen ist. Deshalb kann ja die Natur berechtigt als sich selbst bestimmend beschrieben werden. Sie bestimmt sich durch ihre Wesen.
Diese sich selbst bestimmenden Natur, von der ich als Sinnenwesen ein Teil bin, aber als Intelligenz mich von ihr unterscheide, kann ich jetzt in Mannigfaltigkeit zerlegen, aber muss es aus verschiedenen Teilen zu einem organischen Ganzen verschiedenster Größe und zu einem Ganzen wieder zusammensetzen, denn ich betrachte ja das zuvor herausgenommene Teil in der Analyse stets in Zusammenhang mit einem davon negierten, defizitären Teil ihrer selbst – und nochmals in Zusammenhang mit mir als Freiheitswesen.
„So sind Notwendigkeit (sc. des Zusammenhangs in der sinnlichen Natur) und Selbstständigkeit vereinigt, und wir haben nicht mehr den einfache Faden der Kausalität, sondern den geschlossenen Umkreis der Wechselwirkung.“(ebd. S 113)
VII) Es wird nochmals der Begriff des reellen Ganzen in seiner Wechselwirkung beschrieben – wodurch die Hauptüberschrift des „Zweiten Hauptstückes“ (ebd. S 62, beginnend mit § 4) „Deduktion der Realität, und Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit“ erst voll und ganz eingeholt wird:
„Realität wird bestimmt durch einen Zwang der Reflexion, da im Gegenteil in der Vorstellung des Idealen sie frei ist.“ (ebd. S 114)
Der Begriff der Realität stand unbewusst immer in Gegensatz zum Trieb, der als objektivierte Tätigkeit zu einer sinnlichen Natur konkreszierte; jetzt ist durch diese Selbstbestimmung im Triebe ein organisches, zusammenspielendes, reelles Ganze abgeleitet worden, ja, ein „System reeller Ganzer“ (ebd. S 115).
Kann die dem reellen Ganzen entgegengesetzte „Realität“ noch näher bestimmt werden?
„Wir setzen jetzt diesen neuen Begriff (sc. reelles Ganze) noch mehr auseinander, und verbinden dadurch unser gegenwärtiges Räsonnement mit unserem obigen. Nach dem zuerst aufgestellten Begriffe hatte jedes Aufgefasste sein Maß Realität, und für das übrige Trieb. Trieb und Realität standen in Wechselwirkung, und erschöpften sich gegenseitig. In keinem war ein Trieb nach einer Realität, die es hatte; noch ein Mangel, auf dessen Ersetzung nicht ein Trieb ginge. Diese Betrachtungsart konnten wir nach Belieben fortsetzen oder abbrechen; sie / passte auf alles, was wir nur antreffen konnten, und alles war ganz gleichförmig. Jetzt soll ein Bestimmtes = X gegeben sein, das nach diesem Gesetze sich nicht begreifen lässt. Wie müsste es denn so nach beschaffen sein?“ (ebd. S 115)
Fichte kommt hier zu einem naturphilosophischen Thema, das er aber nicht weiter verfolgen will: Es können nie alle Teile objektiv zu einem bestimmten X als es bestimmend aufgefasst werden (vgl. ebd. S 116); außer „ich selbst wenigstens bin ein solches Naturganzes. Ob es außer mir noch mehrere dieser Art gibt, ist vorderhand nicht zu entscheiden.“
Fichte weist in diesem Zusammenhang einer im Raum stehenden Naturphilosophie ausdrücklich auf die transzendental zu klärende Frage hin, dass nicht einfach „übersinnlich“ das freie Vernunftwesen erklärt werden möge, weil so Sinnlichkeit und Freiheit nie sich vereinen könnten: „(Also man nehme nicht etwa in einem Argumente der faulen Vernunft seine Zuflucht zu einer Intelligenz, als Weltschöpfer, oder Weltbaumeister; denn unter anderem auch ist es im ersten Falle schlechterdings undenkbar, dass eine Intelligenz Materie erschaffe; im zweiten ist noch nicht begreiflich, wie die Vernunft Einfluss haben könne auf die Natur, sondern dies eben haben wir im gegenwärtigen Hauptstücke zu erklären. Dann mag eine Intelligenz zusammensetzen und verknüpfen immerfort, so lange sie will, so entsteht daraus Aggregation, Alligation, (….)“ (ebd. S 117)
Es ist äußerst bemerkenswert, dass einerseits die Basis der sinnlichen Natur und ihre objektivierte Tätigkeit im Triebe (als unbewusste Selbstbestimmung) und das System reeller Ganzer nicht einfach verlassen wird, aber andererseits doch die dringende Frage gestellt wird, ja, wie kann jetzt das freie Vernunftwesen daraus erklärt werden.8
Fichte beschreibt am Ende von § 8 noch die Kategorien Substantialität und Kausalität als ideale Beschreibungsmöglichkeiten sowohl der sinnlichen Natur allgemein (vgl. ebd. S 118), als auch für das freie Vernunftwesen selbst als sinnliche Natur. Die Triebe sind „allgemeines Naturgesetz“ (ebd. S 118). Sie bilden alle zusammen einen einzigen „Bildungstrieb“ (ebd.) – natürlich, nota bene, nur denkbar als reflexive Trieberfassung im objektivierten Wollen und Tun, d. h. im Sehen des Selbstbewusstseins. Es ist aber deshalb nicht möglich, das Selbstbewusstsein selbst hier zu substantialisieren oder zu lokalisieren. Das würde einen paralogistischen Schein erzeugen – mit Kant gesagt. Es ist nur „Akzidens“ im ganzen „Bildungstrieb“ der sinnlichen Natur. (ebd.)
Fazit: Das Wechselverhältnis von objektivierter Tätigkeit im Trieb, schließlich ein reelles Ganzes und ein organisiertes Universum des Ganzen, lässt unbeantwortet, was der auslösende Geltungsgrund zwischen der Selbstbestimmung im Trieb und der Bestimmung durch anderes (als notwendiges Teil zur Bestimmung des obigen X) sein kann. Die ab § 4 konzipierte Wahlfreiheit und die Wirklichkeit des Wollens und Handelns wurden in gewissem Sinne befriedigend vermittelt. Es entstand aber jetzt nur ein Rollentausch, dass jetzt die Bestimmung der Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit vom Triebe und allgemein von einem Bildungstriebe ausgehend gedacht wurde, aber nicht direkt vom freien Vernunftwesen? Wird ein höherer Geltungsgrund zwischen triebhafter, naturaler Wirklichkeit und Freiheit nicht gefunden, fällt die ganze Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit (§§ 1- 4) im Triebe und als Trieb zurück zu einer mannigfaltigen, unendlichen Unbestimmtheit der Teile durch das Ganze, durch das negativ Andere. Es bleibt bei einer unbestimmten, letztlich unbegründeten Wechselseitigkeit und Wechselwirksamkeit?
Dabei sollte das Andere gerade als „Realität“ und als Anwendbarkeit des Sittengesetzes abgeleitet werden – in jedem Gefühl basal manifest oder als sittlicher Wert geistig perzipierbar.
Es fehlt also jetzt nochmals eine höhere Evidenz über die sinnliche Natur hinaus, die diese Wechselseitigkeit begreift.
(c) Franz Strasser, 11. 2. 2021
1Am Ende des § 8 führt Fichte noch aus, dass er in der SL die „Kausalität außer uns“ nicht mehr ausführen werde. Das wäre ein eigenes Thema der Naturphilosophie. „Und so haben wir denn dadurch, dass wir die Organisation des Ich, als Resultat eines Naturgesetzes gesetzt, soviel gewonnen, dass wir aufs mindeste den Trieb zur Organisation durch die ganze Natur verbreitet finden: denn ob dieser Trieb auch außer uns bis jetzt Kausalität gehabt habe, darüber soll hier noch nichts entschieden werden.“ (ebd. S. 118).
2Friederike Schick, Vermittlungen zwischen Natur und Freiheit – der Naturtrieb in § 8 des Systems der Sittenlehre, a. a. O., 2015, S. 75.
3Vgl. dazu sehr kurz und prägnant J. Widmann, Die Grundstruktur der Evidenz, a. a. O., 1977, S. 187 – 190. Über die Evidenz der Naturerkenntnis muss es transzendentallogisch notwendig Evidenz des Logos, der Geschichte und des Sinns folgen.
4 In der etwa zur SL 1798 zeitgleich vorgetragenen WLnm verläuft die Argumentation ähnlich. Die Auflösung des Gegensatzes Zweck/Wollen wird erreicht in § 12 im „durch sich selbst bestimmten Willen“.
5Bekanntlich ist das genau das Problem in der KdU von Kant, dass das gemeine Bewusstsein die Zweckhaftigkeit voraussetzt, aber transzendental es sich dazu nicht für berechtigt erklären darf. (Es ist nur sinnliches Bedürfnis)
6Fr. Schick,Vermittlungen zwischen Natur und Freiheit, ebd., S 81.
7 Bei Kant wird im Anwendungsfall des Kategorischen Imperativs natürlich auch vorausgesetzt, damit sei das Gute getroffen (oder das Böse abgewehrt), aber das geschieht immer erst post factum, nachträglich. (Ich gebe zu, das ist mir selber bei Kant nicht ganz klar, ist aber ein schwerwiegendes Problem.)
8 Es geht ja darum, das freie Vernunftwesen, wenn es real wirksames, Wirklichkeit veränderndes Subjekt sein will, es a) als objektiv zweckmäßig verfasstes und organisiertes Wesen hinzustellen, wie bereits geschehen, das aber b) eine Weiterbestimmung und Ableitung dieser organisierten Zweckeinheit noch verlangt wird, – durch eine höhere Sinn-Bestimmung. Vgl. auch Fr. Schick, Vermittlungen zwischen Natur und Freiheit, a. a. O., S 89.