Fichtes Rigorismus? – § 13 (ebd. S 150 – 153) – 11. Teil (Schluss)

Fichtes Rigorismus? – § 13 (ebd. S 150 – 153)

Ehe das Zweite Hauptstück der realen Anwendungsbedingungen des Sittengesetzes abgeschlossen wird, könnte uns der Gedanke kommen, dass hier Fichte ein viel harmonischeres Bild zeichnet zwischen sinnlicher Neigung und sittlichem Soll, als wir  bei Kant finden, denn sowohl sinnlicher Naturtrieb wie reiner, moralischer Trieb entspringen einem gemeinsamen Urtrieb nach Selbstbestimmung?

Allen W. Wood beschreibt es so: „Wenn wir uns den Gegensatz zwischen Kant und Fichte ansehen, so wie er sich uns bisher dargestellt hat, könnte es scheinen, als ergriffe Fichte Partei für die menschliche Natur, für Harmonie und Versöhnung. Wo Kant gesetzgebende Vernunft und sinnliche Neigung bloß einander entgegensetzt, ist Fichte darum bemüht, ihre gemeinsame Quelle aufzuzeigen. (…)“ 1

Und doch wird Fichte oft als „moralischer Fanatiker“ (Allen W. Wood, ebd. S 105) dargestellt?

Bei Kant wird die Art des Handelns nach den sinnlichen Neigungen bereits als unmoralisch gesehen verglichen mit der einen moralischen Maxime des Sittengesetzes, bei Fichte ist die Art des Handelns nach dem Naturtrieb von sich her noch nicht unmoralisch, sondern erst durch die Zwecksetzung des reinen Triebes bekommt der sinnliche Naturtrieb die moralische Beurteilung, d. h. ob er um des Genusses und Eigennutzes gewählt wird, oder um der Freiheit willen.

Es muss immer die Freiheit, die in den Trieben liegt, unterschieden werden, „(…) wie sie geschehen müsse; um eine freie zu sein, und was geschehen müsse, nach der Form der Freiheit und nach ihrer Materie. Über die Materie derselben haben wir bis jetzt untersucht; die Handlung muss liegen in einer Reihe, durch deren Fortsetzung ins Unendliche das Ich absolut unabhängig würde. (…)“ (§ 13, ebd. S. 150)

Denkt man jetzt Fichte weiter, dass jede theoretische Erkenntnis schon freiheitstheoretisch mitbestimmt ist, ferner jede Handlung einem sittlichen Trieb unterliegt, zusätzlich zur Handlung aus einem natürlichen Trieb, so könnte jetzt die rigoristische Konsequenz auftauchen, dass alles aus reiner Pflicht geschehen müsse. Ich soll als „Intelligenz auf eine bestimmte Weise handeln“ (ebd. S 151), d. h. mir also des moralischen Anspruchs in allem Tun und Lassen bewusst sein und darf nur aus Pflicht handeln!?

Dieser Grund nun kann kein anderer sein, weil es kein anderer sein darf, als der, dass die Handlung in der beschriebenen Reihe liege; oder da dies nur eine philosophische Ansicht ist, keineswegs die des gemeinen Bewusstseins nur der, dass diese Handlung Pflicht sei. Also ich soll handeln lediglich nach dem Begriffe meiner Pflicht; nur durch den Gedanken mich bestimmen lassen, das etwas Pflicht sei, und schlechthin durch keinen anderen.“ (ebd., S 151)
Nichts soll blind geschehen und ausgeführt werden, weder der natürliche Trieb, noch der sittliche Trieb, und beide müssen aufeinander harmonisch abgestimmt sein und bestimmen sich sogar gegenseitig auf je größere Freiheit und Gewissheit hin.

Es kommt zu einer interessanten Weiterinterpretation, oder besser gesagt, genetischen Erklärung des kantischen „Kategorischen Imperativs“. Dieser Imperativ – mehrere Versionen finden sich bei Kant – taucht nicht unerklärlich, unerwartet auf, sondern wird gebildet in der gegenseitigen Erkenntnis und wechselseitigen Bestimmung von sinnlichem und sittlichem Trieb:

Hier erst entsteht ein kategorischer Imperativ; als welcher ein Begriff sein soll, und kein Trieb. Nämlich der Trieb ist nicht der kategorische Imperativ, sondern er treibt uns, uns selbst einen zu bilden; uns zu sagen, dass irgend etwas schlechthin geschehen solle. Er ist unser eignes Produkt; unser, inwiefern wir der Begriffe fähige Wesen, oder Intelligenzen sind.(Hervorhebung von mir; ebd., S. 152)

Das Kategorische und Rigoristische, alles aus Pflicht tun zu müssen, muss deshalb nicht moralin-sauer und zähneknirschend vermittelt werden, sondern im Gegenteil, durch die  Begrifflichkeit des Triebes ist eine sehr pragmatische, moralisch-tolerante Begrifflichkeit einer Pflicht der „Freiheit um der Freiheit willen“ begonnen und eingeleitet.  Die Pflicht zur Freiheit gilt formal immer – das bleibt rigoros und kann so rigoros formuliert werden -, aber inhaltlich ist sie stets angepasst und pragmatisch anzuwenden. 

Es gilt, mit dem Wortlaut der vorhergehenden §§ gesagt, das Freiheitsgesetz des ursprünglichen Ichs, aber immer nur in Komplementarität und Realisierung durch das wirkliche Ich mit seinen ebenfalls sinnlichen Naturtrieben.

Moral und Pflicht geschehen nur zu Bedingungen der Freiheit, nicht aufgrund eines heteronom klingenden, kategorischen Gesetzes:

„Dadurch wird nun das vernünftige Wesen, der Form nach, in der Willensbestimmung, ganz losgerissen, von allem, was es nicht selbst ist. Die Materie bestimmt es nicht, und es selbst bestimmt sich nicht durch den Begriff eines materialen, sondern durch den lediglich formalen, und in ihm selbst erzeugten Begriff des absoluten Sollens.“(ebd. S. 152.)

Es gibt „keine gleichgültigen Handlungen“ (ebd., S.153), aber der Inhalt ist material weit zu fassen.

(…wird nachgefragt), ob sich nicht etwa der Pflichtbegriff auf sie (sc. sinnliche Neigungen, sinnliche Triebe) beziehe; um diese Nachfrage zu begründen, bezieht er sich ganz gewiss auf sie. Es lässt sich sogleich nachweisen, dass er sich auch materialiter auf sie beziehen müsse; denn ich soll nie dem sinnlichen Triebe, als solchem, folgen; nun aber stehe ich, laut obigem, bei jedem Handeln unter ihm: mithin muss bei jedem der sittliche Trieb hinzukommen: außerdem könnte, dem Sittengesetze zufolge, gar keine Handlung erfolgen; welches gegen die Voraussetzung streitet. (sc. ergo ist er in seinem berechtigten Dasein zu achten) (Hervorhebung von mir; ebd. S 153)

© Franz Strasser, 22. 4. 2024

1Allen A. Wood, a. a. O., S. 105. Es finden sich allerdings auch Stellen, in denen Kant sinnliche Neigungen ebenfalls als durchaus pflichtmäßig und tugendhaft beschreibt (MS, VI 390. 409 u. a.). Pflichtethik und Tugendethik widersprechen sich selbstverständlich nicht. Nur in der begrifflichen Bestimmung des Willens selbst  gäbe es  für Kant wohl keinen Ermessensspielraum: Rigoros darf  der Wille nur durch das Sittengesetz bestimmt werden, nicht durch sinnliche Neigungen!? 

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser