Die Zentrierung des Wissens bei PLATON

Die Zentrierung des Wissens bei PLATON – oder: Die Reflexionseinheit des Wissens

Glyptothek, München

Es ist eine alte Geschichte, dass die Einheit der Sinneswelt nicht durch die Wahrnehmung der Sinne geleistet werden kann. Ich möchte die schöne Argumentation PLATONS, THEAITETOS 184d ff in einem längeren Auszug – zwecks Beibehaltung der griechischen Orthographie nur als pdf-Datei zugänglich – bringen  –Platon, Theaitetos 184c ff

Die Sinneswahrnehmung muss in einem selbst nicht räumlich ausgedehnten Zentrum der „Seele“ („du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen“ ebd. 184d) geschehen. 

Ich beziehe mich hier auf transzendentalphilosophische Interpretationen von F. BADER, weil gerade die transzendentalphilosophische Ausarbeitung der Einheit des Wissens bei DESCARTES, KANT und FICHTE m. E.  am besten PLATONS Aussagen zu interpretieren vermag. Besonders diese schönen Stellen in „Theaitetos“ 184c – e bezeugen klar eine selbstbewusste Bewusstseinseinheit, sozusagen ein „primäres Wissen“ (in Anspielung auf Auseinandersetzungen mit ARISTOTELES) im Unterschied zu einem Sekundärwissen der Sinneswahrnehmung. Das „primärreflexives Wissen“, hier als Einfachheit der Seele formuliert,  ist die Ermöglichungsbedingung für die Zentrierung der Sinneswahrnehmung  1 

1) KANT beschäftigt eine ähnliche Frage. Er aporetisiert dazu in den „Träume eines Geistersehers“ (1766) : Das Geistwesen müsste äußeren Bedingungen nach existieren, um den Bezug zur Sinnenwelt herstellen zu können. Wenn das Geistwesen (die Seele) aber einen gemeinsamen Beziehungsgrund mit der Sinnenwelt hätte, ist es nicht mehr unausgedehnt und könnte die Sinneswahrnehmungen nicht mehr in einer letzten Einheit zentrieren. Es würde selbst in gegenständlicher Weise in den Raum aufgenommen, würde zeitlich, endlich – und könnte nicht mehr alle Wahrnehmungen  zentrieren und generell alles Wissen zentrieren.  

Es muss die Seele ein unausgedehntes und zugleich unteilbares Prinzip sein, dass die Sinneswahrnehmung ordnet – so KANT, so schon die Antike: PLATON, (ähnlich dann auch PLOTIN; Enneade IV, 7, 6; CICERO, Tusculanae Disputationes I, 46  oder AUGUSTINUS, de trinitate 9, 3)  

KANT aporetisiert (wie in den „Träume eines Geistersehers“ 1766)   das Unausgedehntsein der Seele zu sinnlichen Bedingungen in den berühmten Antinomien der KrV 1781 nochmals. Aber hat er damit das Verhältnis von Einfachheit und Teilbarkeit wirklich gelöst? 

F. BADER vermittelte das so: Auf der Ebene der Erscheinungen ist nach KANT die Antinomie von entweder behaupteter Unausgedehntheit und Einfachheit oder von behaupteter unendlicher Teilbarkeit nie lösbar! Man muss das Sinnenweltliche als Erscheinungen (nicht Schein!) sehen – und die ganze Welt erscheint nur unter intelligiblen Bedingungen mit einem unterlegten Schema. So muss – so die halbherzige Lösung bei KANT –  nach der Perspektive der Erscheinung  entschieden werden, ob etwas unteilbar oder teilbar sein soll (2. Antinomie), ob es Freiheit oder Notwendigkeit in der Natur gibt  (3. Antinomie). Nur bei den verschiedenen Weisen der Ansicht zu  bleiben, d. h. nur auf der Ebene der Erscheinung zu bleiben, ist aber keine begründete Antwort.  Es muss das einheitliche Prinzip hinter den Antinomien selbst erkennbar sein, der Grund der Disjunktion und der verschieden-möglichen Ansichten. 2

2) Zur weiteren Problematisierung der Antinomie Unteilbarkeit, Teilbarkeit  greife ich jetzt auf Literatur von A. MUES zurück.3

Im kleinsten Bereich des Mikrokosmus kann (nach der Quantenphysik) die Position eines Elektrons weder rational/idealistisch noch real angegeben werden, weil es erst durch den Akt des Bestimmens selbst bestimmt werden kann. Eine zu messende Zeit und ein verobjektivierter Raum ist ohne Reflexion auf den Akt des Bestimmens nicht möglich. Zeit und Raum sind hochkomplexe Gebildes der Anschauung und des Denkens, die weder idealistisch noch realistisch (an Materie gebunden) gemessen werden können. Ein DEMOKRIT und LEUKIPP gingen von fixen Elementar- und Materieteilchen der Natur aus. Die Reduktion auf materialistische Verhältnisse oder materielle Disponibilitäten in der Natur war aber für PLATON in besagter Stelle des Theaitetos (184) kritisch nicht möglich. Also muss unausgedehnt (und unzeitlich) die Einheit der Seele vorausgesetzt werden, um mit den Sinnen erkennen zu können.  Nichts darf idealistisch als geistige Gegebenheit oder realistisch als materielle Gegebenheit vorausgesetzt werden! Vor aller idealistisch/realistischen Vorstellung muss die apriorische Denkmöglichkeit der Realität aus der unzentrierten und unzeitlichen Einheit des Geistes (der Seele, des Wissens) abgeleitet werden.

Im Klartext mit FICHTE gesprochen: Es ist der Akt des Bestimmens selbst,  das „Schweben der Einbildungskraft“, worin die Quelle der Anschauung liegt – und die verschiedenen Formen von Idealismus oder Realismus lassen sich in verschiedenen Abstufungen daraus ableiten.  Der Teilchen-Welle-Dualismus, oder Demokrit und Leukipp mit ihren Atomen, oder umgekehrt ein LEIBNIZ mit der Leugnung von kleinsten Teilen und dem Existieren eines Kontinuums – die Transzendentalphilosophie weiß um diese auftretenden Antinomien, weil sie die EInheit kennt und den Grund der disjunktiven Standpunkte reflektieren kann. Es muss aus dem Akt des Bestimmens selbst, aus dem Freiheitsakt, die Teilungsantinomie gelöst werden.  PLATON hat bemerkenswerter Weise, wie ich beim Nachlesen feststellte, in diesem Abschnitt des THEAITETOS das geistige (seelische) Zentrierungsargument indirekt sogar mit der Freiheitsantinomie schon zusammengebracht, weil die Seele auch für die Reflexion über Gut und Böse verantwortlich ist. 

3) Mit FICHTE gesprochen, aber durchaus auf PLATON übertragbar: Das Wissen (=Seele bei PLATON) erkennt sich in einer sinnstiftenden und sinnverstehenden, mithin in einer theoretisch wie praktisch zu bestimmenden Bildlichkeit, die wiederum in einem Begriff des wahren Bildseins gerechtfertigt wird. Das „bilden“ ist dabei das zentrale Verbum, wodurch Wissen und Sein zu einem Bildsein und in einer Bildform vereinigt werden, dessen Vereinigungsgrund und -wahrheit aber nochmals in einem absoluten Geltungsgrund gerechtfertigt sein muss. (Dies würde jetzt  nochmals eine höhere Ableitung verlangen direkt aus der Erscheinungsform des absolutum, das sich zu quantitierenden Bedingungen und in Sollensform im Bilden und im Akt der Freiheit hervortritt. Eine Bildvermittlung in einer endlichen Bildensform wäre zu wenig. Dr. Bader hat in Vorlesungen immer darauf  hingewiesen.) 
PLATON hat das wohl gehabt: Das wahrhafte Bildsein setzt  eine unausgedehnte und unteilbare und unzeitliche Einheit voraus, die Seele. 

Im 1. Vortrag der TRANSZENDENTALEN LOGIK von FICHTE heißt es: „Denken heißt ein Verbinden eines Mannigfaltigen von Bildwesen zur Einheit eines Bildes“ [SW IX, 110]; noch klarer im 3. Vortrag: „Das Wissen ist Bild, setzen eines Seins. Das Denken ist: ein Bild, das schlechthin ein Bild seiner selbst setzt“. [SW IX, 124]

Wissen, Denken, Begreifen, Verstehen werden durchgehend als Darstellungsverhältnisse der Bildlichkeit und Darstellungsprozesse des Bildens aufgefasst. Durch den Trieb ist bereits eine Hinordnung und eine realistische Vermittlung von Wert und Werthaftigkeit in einem unmittelbaren Gefühl bzw. in der Sinneswahrnehmung geschaffen. Ein Sinn-Bild zu haben, das ist notwendiges Gesetz der hinzukommenden Reflexion, wenn  das Vernunftwesen sich durch Einbildungskraft und Verstand weiter bestimmen will. Diesem Sich-Bestimmen durch reflexives Bestimmtwerden liegt immer ein sittlich-praktischer Wert in der prinzipiellen Vernunfttendenz zugrunde. Diese Vernunfttendenz ist dabei primär ein interpersonal sich beziehendes Wollen auf ein anderes Wollen, wodurch es ein Wollen wird, ein rückbezügliches Wollen in Zweiheit. Das Bilden als Verhältnis des Bildes zum Abgebildeten vorgestellt, bzw. als Verhältnis des Begriffes zum Sein, ist somit in seiner letzten Konsequenz ein Selbst-Wollen, ein Verhältnis des Wollens zu einem anderen Wollen in der Einheit eines Willens. 4 

4) Zurück zu THEAITETOS: Ein Geistwesen muss einfach sein, weil sonst die Ermöglichungsbedingung für die Zentrierung der Sinneswahrnehmungen in der Einheit des Wissens nicht erfüllbar wäre (vgl. 185b bis 185e). Jeder Sinn hat nur seine ihm eigene Welt und bezieht die anderen Sinne und ihre Welten nicht auf sich. Er synthetisiert selber nicht. Kein Sinn ist reflexiv, es gibt keine Wahrnehmung ihrer selbst, kein optisches Sehen seiner selbst, kein Hören des Hörens. Der jeweilige Sinn bezieht nicht einmal seine eigenen Wahrnehmungen auf sich, geschweige dass er sie selbstbewusst mit allen anderen in Einheit zusammenfasste.5
„… sondern die Seele scheint mir vermittelst ihrer selbst das Gemeinschaftliche in allen Dingen zu erforschen.“ (ebd. 185e)

Diese Einfachheit ist, so im Schlussteil dieser Textstelle im THEAITETOS,  ausdrücklich als eine zeitlose, überzeitliche Geistseele  gedacht.

THEAITETOS: Auch hiervon besonders dünkt mich die Seele das Verhalten gegeneinander zu erforschen, indem sie bei sich selbst das

S186b  Geschehene und das Gegenwärtige in Verhältnis setzt mit dem Künftigen.“ (siehe pdf-file.)

F. BADER: „Dies ist die Entdeckung des Unterschiedes einer überzeitlichen Gegenwart von einer zeitlich immer neu entstehenden und vergehenden Gegenwart, und der überzeitlichen Gegenwart als eines letzten, stehenden Bezugspunktes.“ 6

Das unausgedehnte, einfache und zeitlose Prinzip der Seele macht den substantiellen Denkakt aus, der allen zeitlich diskursiven Denkakten zugrundeliegen muss. Die Bestimmung der Seele ist wesentlich „kinesis“ und „autokinesis“, Bewegung und Selbstbewegung, (Phaidon 102a ff, Phaidros 245e), primär-reflexives Wissen, im Unterschied zu alle diskursiven, sekundär-reflexiven Wissensakten. Das anamnetische Wissen liegt dem sekundären Wissensvollzug zugrunde.

© Franz Strasser, 11. 7. 2015

 

1Siehe z. B. F. Bader, Untergräbt die Transzendentalphilosophie Kants Grundpositionen der katholischen Glaubenslehre, in: Norbert Fischer [Hrsg.], Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg 2005, 160-186.

2 Das geistige, unausgedehnte und zeitlose Zentrum darf nicht auf sinnliche, ja nicht einmal auf mathematische Verhältnisse bezogen werden. Denn dort wiederholt sich die Antinomie. Siehe da, das ist  ebenfalls bei PLATON schon zu finden – entweder unendliche Zählbarkeit oder einfache, reale Zahlen – die sog. mathematische Antinomie.
F. Bader hat in obigem Artikel, Anm. 1.,  die Auflösung der Teilungsantinomie durch die Freiheitsantinomie angesprochen, ebd. S 165.

3 A. MUES, Der Grund der Dualität der Materie und des Indeterminismus in der physikalischen Natur. Die Lösung des quantenphysikalischen Rätsels. In: Fichte-Studien, Bd. 6, S 277 – 302, 1994.

A. MUES, der Grund der Dualität der Materie. 2. Teil. Der Wellencharakter. In: Fichte-Studien Bd. 22, 107 – 120, 2003.

4Es gibt inzwischen viel Literatur zur Transzendentalen Logik FICHTES. Siehe z. B. M. SIEMEK, Bild und Bildlichkeit als Hauptbegriffe der transzendentalen Epistemologie Fichtes. In: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge aus der aktuellen Fichte-Forschung. Hrsg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo und Giovanni Moretto, Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2001

5Vgl. F. BADER, Untergräbt…, S 164.

6F. BADER, ebd., S 164. Anm. 8.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser