1) Wie teilweise schon gesagt (Teil 4): Eine kirchliche Ordnung unterscheidet sich m. E. von einer säkularen Gesellschaftsordnung dahingehend, dass a) der Rückbezug auf eine apriorische und positive Offenbarung explizit gemacht wird und b) die sakramentale Sinnordnung in einer von Gott selbst garantierten Einheit von Intention und Leistung erfüllt ist – während in einer bloß säkularen Ordnung juridische und sittliche Ordnung zwar gewollt, aber nicht garantiert werden können. Außerdem bietet eine sakramentale Sinnordnung zusätzliche Zeichen und Mitteln an, wie Gebet, Liturgie, Kunst, um die Heilsordnung zu erreichen – die eine staatliche Ordnung in dieser Fülle nicht kennt.
Die performativen Sprechakte des Hl. Ignatius/des Autors/der Gemeinde in den „Sieben Briefen“ zielen nicht auf die Etablierung und Repräsentation a) einer starken, machtpolitischen Einrichtung ab, ja zielen b) nicht einmal auf eine höchste, sittliche Ordnung und Disziplin an sich ab, als ginge es um eine perfekte Idee eines vollkommenen Gesamtwillens des Volkes, um eine „societas perfecta“ (siehe zu diesem Begriff LTHK). Die Sprechakte sind zuerst Appelle an den Glauben und das Herz jedes einzelnen, dass c) jeder/jede individuell den Zugang zur Gnade finde und d) kollektiv sich diese Gnade auswirke und sichtbar werde. Die kirchliche Hierarchie, hier als sakramentale Weiheämtern zu lesen – noch nicht und im Gegensatz als Jurisdiktionsämtern zu interpretieren -, ist dazu ein Mittel und ein Werkzeug, diese individuelle wie gemeinschaftliche Wirksamkeit zu erreichen.
2) Gehen wir nicht gleich vom Missbrauch der Macht und des Repräsentationsbegriffes aus, sei es in der Kirche oder im Staate: In vielen modernen Demokratien wird der Macht- und Herrschaftsanspruch mit dem Begriff der „Repräsentation“ gut begründet und nach bestem Wissen und Gewissen gelebt. In den autoritären Staaten säkularer oder religiöser Herkunft ist es ja gerade nicht so!
a) Ein rein laizistischer Staat oder eine a-religiöse, atheistische Herrschaft werden immer wieder mit ihrer fehlenden Legitimation kämpfen müssen, falls der Geltungsbezug zum Unsichtbaren und Transzendenten einer Repräsentation des Göttlichen oder des Naturrechtes ausdrücklich abgelehnt wird.
b) Eine rein theokratische Herrschaft, die sich nicht auf die Vernunftform einer freien Realisierung der Menschenrechte und Bürgerrechte berufen will bzw. auf die Vernunftform der Freiheit des einzelnen und seines Urrechtes, ist ebenfalls illegitim, weil eine direkte Berufung auf Gott nicht möglich ist. Das wäre ein anmaßender, religiös verbrämter Machtmissbrauch.
Der Begriff der „Repräsentation“ kann ein sinnvoller, wertvoller Begriff sein, wenn der transzendentale Gebrauch gesehen und beachtet wird: Repräsentation einer Idee, Repräsentation eines Urrechtes von Freiheit, Schutz, Sicherheit, differentielles Recht jedes einzelnen gegenüber ungebührlichen Rechtsansprüchen einem säkularen Staat gegenüber – wie gegenüber einem Machtmissbrauch im Namen einer Religion – moralische Repräsentation einer hohen sittlichen Wertes, religiöse Idee eines Vertrauens.
Ich berufe mich zur positiven Charakteristik des Begriffes „Repräsentation“ in der Rechtssphäre – für die Moral, für die Religion, in der Natur, wären andere Begriffe zu gebrauchen – hier auf eine rechtstheoretische Lektüre von R. Schottky1 und wiederum auf eine grundlegende Ableitung des Begriffes der Repräsentation in FICHTES „Grundlage des Naturrechts“ von 1796.2
2) Der Einfachheit und Kürze halber darf ich zum Einstieg zitieren zum Begriff einer „repräsentativen Demokratie“: wikipedia: „In der Herrschaftsform der repräsentativen Demokratie (auch indirekte Demokratie oder mittelbare Demokratie genannt) werden politische Sachentscheidungen im Gegensatz zur direkten Demokratie nicht unmittelbar durch das Volk selbst, sondern durch Abgeordnete getroffen. Die Volksvertreter werden gewählt und entscheiden eigenverantwortlich. Da die Volksvertretung meist ein Parlament ist, nennt man das System häufig auch parlamentarische Demokratie. Davon zu unterscheiden ist das parlamentarische Regierungssystem.“ (Hervorhebung von mir)
Es gibt hier in der Geschichte begriffliche Unklarheiten:
2. 1) Ein J. J. Rousseaus (28. Juni 1712; † 2. Juli 1778) kennt in seinem „Gesellschaftsvertrag“3 zwar eine vertragliche Autorisierung eines Herrschers, aber die Volkssouveränität, als Kollektivwesen, ist unteilbar und unrepräsentierbar, unvertretbar und unveräußerbar.4 Träger legitimer Herrschaft kann nur das ganze Volk als Kollektivwesen sein. Dieses kann, wie Kap. II/1 proklamiert, „nur durch sich selbst dargestellt werden“. „(…) le souverain […) ne peut être représenté que par lui-même“, formuliert Rousseau und macht so von vornherein deutlich, dass er zusammen mit jeder Veräußerung oder Abtretung der Souveränität auch den Gedanken ablehnt, die Gesamtheit könne oder solle ihre Souveränität durch Repräsentanten, z.B. durch gewählte, ihr verantwortlich bleibende Vertrauensleute, ausüben.
Folgerichtig heißt es dann in III/15: „La souveraineté ne peut être représentée, par la même raison qu’elle ne peut être aliénée“ (96). Nur die Bürgergesamtheit selbst darf die Souveränität ausüben, weil nur ihr Wille sich mit innerer Notwendigkeit auf „le bien commun“ richtet.“ 5
2. 2.) Vor Rousseau wurde bei T. HOBBES (5. April 1588; † 4. Dezember 1679) der Repräsentationsbegriff zum Theorie- und Legitimationsbegriff neuzeitlicher Herrschaft schlechthin aufgewertet. Bekanntlich ist in seinem „Leviathan“ (1. Auflage 1651) der Herrscher zu einer unumschränkten Machtinstanz befugt, weil er nur so gesetzgebende und richterliche und strafende Funktion ausüben kann bzw. aus Sorge um den Frieden und die Sicherheit muss er diese absolute Souveränität erhalten. Anfänglich wird der Herrscher in gewisser Weise noch vertraglich vom Volk autorisiert, aber die einmal abgetretene Macht und Gewalt ist dann uneingeschränkt gültig und kann nicht mehr aufgehoben werden. Der Souverän „repräsentiert“ dann die Macht, die politische Einheit – aber nicht mehr das Volk!
Die ihm ergebenen und angestellten Beamten repräsentieren weder ein direktes Mandat des Volkes, noch entscheiden sie mit eigener Freiheit und mit Gewissen, sie sind nur Vollzugsorgane des alleinigen „Repräsentanten“ und üben dessen Exekutiv- und Strafvollmacht aus.6
Der Herrschafts- und Souveränitätsbegriff eines T. HOBBES sollte sich immer mehr durchsetzen, wie ich z. B. bei Pufendorf (gest. 1694 Berlin) gelesen habe.
Dazu aber kritisch eine Analyse von G. Duso: „Hält man sich vor Augen, dass das juristisch-politische Denken Pufendorfs in den Zusammenhang der modernen Souveränität eingebettet ist, dann wirkt es weniger verwunderlich, dass Pufendorf trotz der vertraglichen Begründung der persona moralis composita den Willen der civitas (als Wille einer überindividuellen Person) mit dem Willen des souveränen Organs vertauscht: In der Demokratie wird das Volk mit dem concilium populi identifiziert und in der Monarchie mit dem König. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn es handelt sich um ein recht schlüssiges logisches Verfahren, das aber eine grundlegende Aporie aufweist. Denn eigentlich darf es nicht heißen, trotz der Konzeption der civitas als überindividuelle Person, die ihre Grundlage im Vertrag zwischen den Individuen hat, komme es zum Bruch der Repräsentation und somit zur Gleichsetzung des Willens der persona moralis composita mit demjenigen des repräsentativen Organs, sondern eben wegen der auf die Vielheit der Individuen gegründeten Konzeption der Einheit der Person der civitas.“ 7 (Hervorhebung von mir)
Ich verstehe hier Duso so: Sobald es in der Rechtssprache zu einer überindividuellen, öffentlichen Rechtsperson z. B. des Staates kommt, ist durch die ganze Vermittlung und Symbolik die Rechtsperson der „civitas“, also wegen der delegierten Vermittlung, eine unsichtbare Machtübertragung geschehen, die die unmittelbare, ideelle Repräsentation nicht mehr erkennen lässt. Eine Delegation ist per se schon Machtübertrag und ipso facto Machtentzug auf der anderen Seite. Die Aporie ist eröffnet – und je mächtiger die delegierte Macht ist, umso unkontrollierbarer, gefährlicher ist sie – und umso weniger repräsentativ in der ursprünglichen Absicht des Begriffes.
Der jetzt in einer repräsentativen Demokratie angedachte politische Mitvollzug und die politische Teilhabe muss immer möglich und möglichst partizipativ und transparent gestaltet sein. Aber viele Probleme bleiben. Sobald die Vermittlungsinstanz eines Delegierten oder Repräsentanten zur überindividuellen Person aufgewertet ist, geschieht eine Verwechslung zwischen reeller und ideller Repräsentation – und die Repräsentationsform eines Gesetzes oder eines Staates wird zu einem reellen Machtgefälle. Man denke nur an Fehlurteile bei Gerichten, man denke an Rechtsstreitereien und leere Rhetorik, die bewusst von Anwälten durchexerziert werden, man denke an manipulierte Wahlen im Namen einer „Demokratie“, man denke an Abstimmungen nach der Mehrheit durch Parteien. Da geschieht nicht immer „Repräsentation“ und Recht. Die größten Despoten der Erde dürfen sich als ideell gewählt bezeichnen und ein Landraub wird politisch legitimiert, falls das Völkerrecht zu schwach ist, dagegen vorzugehen.
2. 3) Die Macht-Legitimation und Herrschaft durch Repräsentation wurde wegen des anfälligen Machtmissbrauchs von J. J. ROUSSEAU abgelehnt. Er traute der Delegation der Macht nicht. Das Problem der Begründung der Macht tauchte aber immer wieder auf: In der französischen Verfassung 1791, die noch wesentlich Bezug auf Rousseau nimmt, kommt seltsamerweise der Begriff der „Repräsentation“ bereits wieder vor: „La Nation de qui seule émanent tous les pouvoirs, ne peut les exercer que par délégation. La constitution française est représentative; les représentants sont le Corps législatif et le Roi.“8
Nochmals zurückgeblendet auf Rousseau: Nach dem II Kapitel seines „Gesellschaftsvertrages kann nur die Bürgergesamtheit die Souveränität ausüben, weil nur sie das „Gemeinwohl“ („le bien commun“) wollen kann, während ein einzelner, denkbarer Repräsentant auch seine privaten Interessen mit dem Gemeinwohl vermischen würde. Deshalb ist und muss der „Gesellschaftsvertrag“ („contrat social“) unteilbar und unveräußerlich und unrepräsentierbar sein. Die repräsentative Veräußerung widerspräche dem Begriff des „contrat social“. Das Volksganze kann und darf seine Gewalt nicht abgeben.9
Dies führt bei Rousseau aber immer wieder zu mannigfaltigen Problemen und Widersprüchen, „die Regierung kämpft (…) ständig gegen die Souveränität (des Volkes)“ (Kap III/10).
Seine normative Sichtweise der Herrschaftsbegründung und die tatsachengesetzliche, soziologische und historische Wirklichkeit kommen sich ständig in die Quere – und das fundamentale Problem der begrifflichen Anwendung der legitimen Herrschaft lässt sich praktisch nicht lösen. 10
Um der normativen Begründung des Rechts willen (als Gesamtwillen des Volkes) nimmt er die drohenden Widersprüche in der Anwendung und Realisierung des Rechts in Kauf. Die Volksgesamtheit ist sogar so souverän und unvertretbar, dass selbst ein hypothetisch in einem Naturzustand vorgestelltes Naturrecht eines einzelnen, welches es historisch nicht gab und gibt, dem staatlichen Recht untergeordnet werden müsse. „Denn wenn einem einzelnen (beim Abschluß des „contrat social“) Rechte verblieben, so wäre er, da kein gemeinsames Oberhaupt zwischen ihm und der Gemeinschaft entscheiden kann, diesbezüglich sein eigener Richter in seinen eigenen Belangen und bald in allen anderen Angelegenheiten auch. Der Naturzustand würde fortbestehen […].“ (Kap. 1/6)
Es ist, so denke ich, leicht erkenntlich, dass diese Form von Souveränität, wenn sie anscheinend im demokratischen Gesamtwillen des Volkes (im „contrat social“) begründet sein soll, schnell umschlägt in eine Diktatur. Man lese die unmittelbaren grausamen Folgen des anfänglichen Rufes Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der französischen Revolution 1790 – 1792. Die Manipulation des Volkes ist leicht, wenn und weil gewisse Grundrechte nicht mehr gelten. Wie sollte aber die Autorisierung des Gesetzes durch die Masse eines Gemeinwillens geschehen? Genauso wenig wie es eine begründete und gerechtfertigte Autorisierung durch die Form einer positiven Rechtssprechung geben kann – wie es H. Kelsen verstand – gibt es eine sich selbst regulierende, bloß administrierende, Machtausübung durch künstliche Intelligienz.
(Zu Hans Kelsen – siehe zwei Blogs – Link zu Teil 1)
2. 4) Wenn die Legitimation der Herrschaft in den Staatstheorien des 17. u. 18. u. 19. Jhd. und nach dem 1. u. 2. Weltkrieg, immer noch durch den Begriff der „Repräsentation“ oder durch die Eigenschaft „repräsentativ“ begründet worden sind, so bleibt zwar der Begriff nicht unproblematisch, ganz abgesehen von den begrifflichen Widersprüchen des „contrat social“ bei ROUSSEAU oder den diktatorischen Folgen bei Hobbes, bei rechtem Verständnis ist er aber gut einsehbar und ideell bestimmbar und in gewissem Sinne unverzichtbar! Repräsentiert kann eine Idee werden, sei es die Idee eines freien und friedlichen und gerechten Zusammenlebens auf Staatsebene, oder sei es die Idee einer sakramentalen Heils- und Sinnordnung in einem kirchlichen Rahmen. 11
3) Der Begriff der Repräsentation auf die kirchlichen Ämter übertragen trägt den Vorteil in sich, dass die Wechselseitigkeit von Recht und gewünschter, sittlich-freier Ordnung letztlich nicht vom einzelnen, schwachen Menschen abhängt, sondern von der Gnade Gottes. Die kirchliche Rechtslehre hat dafür auch verschiedene Instrumente gefunden, z. B. den Begriff des forum externum und des forum internum u. a. m., um einem Machtmissbrauch vorzubeugen und das Grundrecht und Gewissensrecht des Menschen zu schützen.
Konkret auf meine Frage zur Priesterweihe der Frauen bezogen darf aber wohl gefragt werden: Warum sollte die repräsentative und gnadenhafte Vermittlung einer sakramentalen Heils- und Sinnordnung an das männliche Geschlecht gebunden sein?
Sicherlich wird stets gesagt, Frauen vermitteln genauso „priesterliche“ Dienste, haben im metaphorischen Sinne ebenfalls eine Mission, eine Art „Weihe“ usw. Warum darf das aber nur metaphorisch verstanden werden, nicht offiziell, von Amts wegen, juridisch-exekutiv und administrativ? Eine historische Tradition, verstanden als „immer-schon-so“, ergibt nicht von selbst eine Repräsentation. Aber ebenso eine rein normative, positivistische Rechtssprechung kommt schnell an die Grenzen der Begründung und Rechtfertigung, falls der reflexive und genetische Rückbezug zur positiven Offenbarung – oder im Staate die Sinnidee von Recht und Gerechtigkeit – nicht mehr durchsichtig sind. Um diesen Rückbezug bemühen sich sicherlich die in den letzten Jahren herausgebrachten päpstlichen Schreiben! Papst Franziskus hat z. B. am Mo. 28. 11. 2022 wieder auf die verschiedenen Berufungen hingewiesen, die Männer wie Frauen haben – siehe dort das petrinische und das marianische Prinzip – Link Papst Franziskus_ Keine Weiheämter für Frauen – print – Vatican News
Alles ist mystagogisch sehr schön beschrieben und gerade durch die geschichtliche Reihe und Reflexion in gewissem Sinne inhaltlich beglaubigt und autorisiert, weil auf einen Geltungsgrund rückbezogen. In der Gesamtdeutung von Gesellschaft und Geschichte und des Sinns einer sakramentalen Ordnung fließen aber stets neu die Anwendungsbedingungen der Realisation mitein, sodass stets neu nach der Form der zu vermittelten mystagogischen Inhalte gefragt werden darf. Der ungeschichtliche, unwandelbare Geltungsgrund ändert sich nicht, aber das normative Soll daraus verlangt die besten Anwendungsbedingungen.
Es ist uns aufgrund der genetischen Erkenntnis in das Wesen der positiven Offenbarung vermittelt, dass das Menschengeschlecht, Männer, Frauen, Kinder, gleich welchen Volkes, welcher Sprache, sich einer übernatürlichen, göttlichen Bestimmung und Vergebung teilhaftig sehen dürfen, konstitutiv. Die Umsetzung, d. h. Anwendung dieser Bestimmung ist immer regulativ, pragmatisch, weil sie ja diskursiv und faktisch erfolgen muss, zeitlich und geschichtlich – gemäß unserer diskursiven Vernunftnatur.
Nochmals anders gesagt: Dass es der Form nach eine sakramentale Vermittlung der Sinnidee überhaupt geben müsse, das ist transzendental-konstitutiv im Erkennen (als Geltungsanspruch) fassbar; wie diese Anwendung zeitlich und geschichtlich angewandt werden soll, ist transzendental-regulativ, weil sowohl theoretisch wie praktisch die jeweiligen Sinngehalten und Hemmungskonstellationen für die Vernunft nicht vorhersagbar sind Hätte der Hl. Ignatius oder der Autor im 2. Jhd. (oder das dahinterliegenden Kollektiv) eine andere Hemmungskonstellation oder Sinnanforderung vorgefunden, hätte er natürlich anders reagiert und vielleicht eine feminine Hierarchie für richtig empfunden – so wie ich ihn verantwortungsbewusst einschätze! Ich höre eine realistische Verantwortung und Besonnenheit aus den Briefen heraus, aber nicht aus eigensüchtigen, egoistischen oder patriarchalen Gründen, sondern aus genetischen Gründen, wie der absolute Geltungsgrund zu erkennen war – zwecks Kontinuität und Erreichung der Rettung, der Erlösung, der Vergebung von allen für alle zu jeder Zeit. Die Argumente des Heiligen/des Autors/des Kollektivs antworten notwendig auf historische Gegebenheiten, sind aber überzeitliche Geltungsansprüche von Wahrheit und göttlicher Offenbarung, klug, pragmatisch, faktisch-relativ bezogen auf zeitliche Faktizität.
© Franz Strasser, 29. 11. 2022
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1Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert: Hobbes, Locke, Rousseau, Fichte : mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte, 1995.
2J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, 3 für die „Grundlage des Naturrechtes“ (abk.=GNR) in: Band 3: Werke 1794-1796,
hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Richard Schottky. 1966
3Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/Deutsch. (1762) In: Reclams Universal-Bibliothek. Philipp Reclam jun., Stuttgart 20
4Wie das freilich gehen sollte, dass der allgemeine Volkswille herrsche und regiere , das sagt uns Rousseau nicht und ist praktisch unmöglich. Die Rede vom „volonté générale“ ist eine „Chimäre.“ (R. Schottky)
5Zitiert nach R. Schottky, ebd., S 325.
6Siehe zur Darstellung des Vertragsinhaltes des autoritären Staates bei Hobbes, R. Schottky, ebd., S 10 – 17; zum Begriff der Repräsentation des Souveräns bei Rousseau und Hobbes, R. Schottky, ebd., S 325, Anm. 8.
7G. Duso, ebd. S 92.93.
8Zitiert nach R. Schottky, ebd. S 325, Anm. 9.
9Dem Wortlaut nach wird allerdings in Kap. III/1 diese „unrepräsentierbare“ Sicht des Volksganzen wieder etwas zurückgenommen, indem Rousseau neben der Legislative des Volkes doch einen Zwischenkörper einer eigenständigen Exekutive einschiebt. Also gibt es doch eine repräsentative Macht des Souveräns? R. Schottky führt das Verständnis Rousseaus dahingehend aus, dass jener die eigenständige Macht der Exekutive nur als logisch-praktische und mechanische Fortsetzung der Legislative sehen will. Sie hat im Grunde doch keinen Eigenwillen und repräsentiert deshalb nicht eine andere Macht. (R. Schottky, ebd., S 327f) Generell wird die Legislative des Volkswillens über jede Regierung gestellt, die jederzeit vom Volk abgesetzt werden könnte.
10R. Schottky, ebd. S 329-331.
11Inwieweit FICHTE die in der „Repräsentation“ liegenden Aporie eines möglichen Machtmissbrauchs in allen seinen Facetten wirklich gesehen hat, mag dahingestellt sein. Er baute in der GNR das „Ephorat“ als Instrument der Machtkontrolle ein. In der Rechtslehre 1812 ist ihm das bereits suspekt geworden.