Es folgt mit der quantitativen Bestimmung eines Urrechts die ebenso dialektisch mitgegebene Grenze des Urrechts, wiederum aus dem genetischen Reflexionsakt und der Disjunktionseinheit einer geltenden eigenen wie fremden Freiheit. Mithin aus einem Geltungsgrund gegenseitiger Anerkennung wird auch die Beschränkung der jeweiligen Freiheitssphären festgelegt – nicht durch reine Negation oder einen Machtspruch von Gewalt oder anderer äußerer Autorität wie z. B. durch ein parlamentarisches Verfahren oder durch göttliches Gebot.
1) „Ein erstes, unaufhebbares Kriterium für die Beschränkung des eigenen Freiheitsspielraums ist der Leib des anderen. Der Leib des anderen als materiale Möglichkeitsbedingung seiner Zwecksetzung in der Sinnenwelt kann nicht als Sache betrachtet werden, die ohne weiteres den eigenen Zwecken dient.“ (v. Manz, ebd. S 113)
„Nun ist der Leib eines vernünftigen Wesens, zufolge des Urrechts, notwendig frei, und unan tastbar. Der Erkennende müßte daher, zufolge seiner Erkenntnis, seine Freiheit notwendig be schränken auf eine Wirksamkeit außerhalb dieses Leibes, und außerhalb des Raumes in der Sinnenwelt, den er einnimmt. Er kann jenen Leib nicht setzen, als eine Sache, auf die er will kürlich einwirken, sie seinen Zwecken unterwerfen, und dadurch in Besitz nehmen könnte, sondern als etwas, das die Sphäre seine Wirksamkeit beschränkt (GNR § 12, „Uebergang zur Untersuchung des Zwangsrechtes durch die Idee eines Gleichgewichts des Rechtes“ ebd. S 123.124)
2) Mit der quantitativen Beschränkung des Urrechts durch den Leib eines anderen ist weiters dessen (des anderen) Zwecksetzung mit seinem Eigentum einhergehend. Der Andere muss die Objekte seiner Zwecksetzung dabei als Eigentum deklarieren, sonst könnte es zu keiner rechtmäßigen Abgrenzung der Rechtsansprüche kommen. „Fichte löst dieses Problem mittels der Idee einer gegenseitigen Verständigung über die jeweiligen Handlungssphären und deren Anerkennung. Fichte fasst dies unter dem Begriff eines Eigentumsvertrags. In einem ersten Schritt müssen die Betroffenen ihre Ansprüche kundtun. Sie müssen sich entscheiden, auf was sie Anspruch erheben, und dies vor den anderen deklarieren. Dazu sind sie rechtlich verbunden.“ (v. Manz, S 113)
Die gegenseitigen Ansprüche werden a) entweder verträglich und einvernehmlich gelöst oder b) durch Vergleich und Schlichtung über einen Dritten. Dieser Dritte wäre das Gemeinwesen:
„ (Sie müssen … die Entscheidung ihres Streites)…… einem Dritten übergeben, ihm ohne Vorbehalt ihr Rechtsurteil, über den gegenwärtigen Fall, und die Garantie seiner Entscheidung, für die Zukunft, überlassen, also ihr Recht zu urteilen, und ihre physische Macht ihm unterwerfen: – d. h. nach dem obigen, sie müssen sich miteinander an ein gemeines Wesen anschliessen (GNR § 12, S 127-128).
Wie immer die Einigung vollzogen worden ist, sie beruht darauf, dass eine gegenseitige Anerkennung transzendental vorhergehend schon zustande gekommen sein muss.
„Also ihr Eigentumsrecht, d. i. das Recht des ausschliessenden Besitzes wird vollendet durch die gegenseitige Anerkennung, ist durch sie bedingt, und findet ohne diese Bedingung nicht statt. Alles Eigentum gründet sich auf die Vereinigung des Willens mehrerer zu Einem Willen“ (GNR § 12, S 129).
„Das Rechtsgesetz fordert nicht nur die Einigung in Bezug auf Ansprüche gegebener Objekte, sondern ein generelles Verfahren der Aneignung, das Rechtsansprüche auch für die Zukunft regelt. Es müsste ein Vertrag geschlossen werden, in dem die Einwilligung für künftige Aneignung gewährleistet wird. (…)“ (v. Manz, ebd., S 114)
3) Damit sind wir bei einer objektivierten, materialen Form gegenseitiger Anerkennung angekommen, dem sogenannten Vertrag. Zuerst wieder v. Manz, dann FICHTE:
„Im Vertrag äußert sich der gemeinsame Wille, das Rechtsgesetz zu verwirklichen. Durch ihn ist eine quantitative Bestimmung des individuellen Handlungsspielraums möglich. Die Beschränkung der eigenen Freiheitssphäre geschieht freiwillig vermittels des gemeinsam stipulierten Willens und der darin erscheinenden gegenseitigen Anerkennung im Vertrag. Mit dem Eigentumsvertrag erfährt die formale Forderung des Rechtsgesetzes nach Einschränkung eine materiale Realisierung.“ (v. Manz, ebd. S 114)
„Dadurch, daß beide den aufgezeigten, und bestimmten Vertrag über das Eigentum schließen, beweisen sie einander gegenseitig, daß sie sich dem Rechtsgesetze unterwerfen, wenn derselbe lediglich zufolge dieses Gesetzes geschlossen werden kann: daß sie demnach Wesen sind, welche Rechte haben“ (GNR, § 12, ebd. S 135f.)
Es ist deshalb der Vertrag von entscheidender Bedeutung für die Konstitution des Rechtsbegriffes, weil er die apriorischen Anforderungsbedingungen erfüllt, dass die gegenseitigen Anspruchs- und Einschränkungsbedingungen nicht durch Machtentscheid oder Gewalt gelöst werden sollen, sondern wiederum durch eine frei gewählte und in der Form des Vertrages eingebrachte Einigung in einem gemeinsamen Willen.
Eine Sache sei hier an dieser Stelle besonders erwähnt, auf die z. B. K. Hammacher in diversen Schriften zur Rechtsphilosophie hingewiesen hat: Die Beständigkeit eines gemeinsamen Willens und eines gemeinsamen Vertrages verweist à la longue auf einen transzendenten Ursprungs des gemeinsamen Willens, d. h. auf einen transzendenten beständigen Willen Gottes, der selbst unwandelbar, durch sich selbst bestimmt ist, wodurch ein Vertrag Gültigkeit erlangt.1
Ein Vertrag wird dann rechtsverbindlich durch eine Willenserklärung in einem öffentlichen Akt.2
Der Staat kann nur ein verantwortbarer Staat sein, ein durch und innerhalb der konstitutiven Grenzen des Rechts funktionierendes Exekutiv-Organ, ein das Urrecht und das Eigentumsrecht (als Handlungsrecht verstanden) respektierendes Organ mit möglichst kontrollierbaren Begriffen der Gewaltenteilung, der Aufsicht und der Exekution.
4) Ich möchte im weiteren hier meine Blogs zur Rechtslehre FICHTES (vorläufig) beenden und verweise des weiteren auf v. Manz, ebd. S 115 – 131. (Hauptsächlich zu den §§ 16- 17, GNR, ebd. S 150- 209)
Ich gebe hier nur noch einen Überblick seiner Kapiteln und Abschnitte, nicht zwecks Abschreibübung, sondern zwecks Überblick a) über die logische Stringenz FICHTES in seinem Aufbau einer aus dem „Urrecht“ folgenden Rechtsordnung und b) zwecks Überblick des inhaltlichen Zusammenhangs der rechtlichen Argumentation.
Die drei Schemata der Rechtsidee (Urrecht, Zwangsrecht, Gemeinwesen) sind transzendentale Ideen eine idealen Staatsordnung mit den korrespondierenden drei Vertragskonstruktionen Eigentumsvertrag, Schutzvertrag und Vereinigungsvertrag.
Die konkrete Verfassung dieses idealen Rechtsstaates für ein bestimmtes Volk wäre nochmals eine Art transzendentale Anwendungsbedingung in § 21 (SW III, S 286 – 203), aber nur mehr im regulativen Prinzipien.
Ich zitiere nach H. G. v. Manz, Fairness und Vernunftrecht. Er bringt durch seine Einteilung eine gute Übersicht der §§ 8 – 20 in ihrem inneren Zusammenhang:
Das Zwangsrecht ist eine Idee der Rechtssicherung;
das Zwangsrecht ist ein Abwehrrecht; (ebd. S 115-116);
das Zwangsgesetz als Form der Bestimmung des Zwangsrechts (ebd. S 116-117);
das Gemeinwesen als notwendige Anwendungsmöglichkeit des Zwangsgesetzes (Deduktion des Gemeinwesens) (ebd. S 117 – 118);
das rechtliche Gemeinwesen als verantwortbarer Staat
der Begriff des rechtlichen Gemeinwesens (ebd. S 118);
der Rechtswille als gemeinsamer Wille (ebd. S 118-119);
die Realisierungsmöglichkeit des Gemeinwesens als Vertragsschluss (ebd. S 119)
die Form des Gemeinwillens als Gesetz (ebd. S 119);
die Beständigkeit des Gemeinwillens durch seinen reellen Vollzug (der Rechtswille als mit Macht ausgestatter) (ebd. S 119)
die formale Kontrolle der staatlichen Machtausübung durch ein konstitutionelles Gesetz (ebd. S 120);
die Notwendigkeit der Repräsentation als Voraussetzung der Verantwortungsmöglichkeit der Ausübung staatlicher Gewalt (ebd. S 121);
das Ephorat als absolute Verantwortungsinstanz der Machtausübung (ebd. S 121 – 122);
die Rechtlichkeit der Machtübertragung (ebd. S 122)
die Unabhängigkeit der Repräsentanten und Öffentlichkeit des Machtvollzugs (ebd. S 122)
die Form der absoluten Machtverantwortung (Form des Ephorats) (ebd. S 123 – 125),
die Einheit und Anwendungsmöglichkeit des Staates: Der Staatsbürgervertrag (ebd. S 125; § 17 GNR);
die Struktur des Staatsbürgervertrags (ebd. S 125 – 126);
die Festlegung und Abgrenzung der Rechtssphären durch den Eigentumsvertrag (ebd. S 126);
die Erfüllung des Schutzvertrags durch den Vereinigungsvertrag (ebd. S 127 – 129);
die Charakteristik von Fichtes Staatsbürgervertrag (ebd. S 129) – der Staatsbürgervertrag als Schematismus, die Art der Konstitution des Ganzen, das Leben des Schemas (ebd. S 129 – 131).
25. 5. 2021
© Franz Strasser
1Oder siehe z. B. Argumentation bei A. Schurr: Die Aufforderung in der Wechselwirksamkeit von Individualität und Interpersonalität muss auch verstanden werden. Das Verstehen setzt aber wiederum einen Zweckbegriff voraus, und bedeutet ein transzendierendes über sich Hinausverwiesen-Sein zu einem absoluten Bestimmtsein. Im absoluten Bezugspunkt liegt der Sinn menschlichen Existenzvollzuges, die tragende Gemeinsamkeit alles kommunikativen, sittlichen Austausches – und der gemeinsame Eine-Welt-Bezug. Dieses Grundsein als Grundlage jedes Selbstvollzuges des Bewusstseins muss deshalb in einem fraglosen Seinsollen begründet sein – das im Gegensatz zu jedem faktischen Bestimmtsein als nicht wandelbar gedacht werden muss –, weil eine gegenteilige Annahme von der Undenkbarkeit ausgehen müsste, dass ein absolutes Grundsein beides setzen könne, ein sich selbst begründendes und ein nicht sich selbst begründendes Bestimmtsein. Zur nochmaligen, höchsten Begründung einer Vernunfttendenz aus dem absoluten Soll siehe A. SCHURR, Die Funktion des Zweckbegriffes in Fichtes Theorie der Interpersonalität. In: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluss an Kant und Fichte, Stuttgart 1979, S. 371.
Oder diverse Argumentation bei K. Hammacher.
2Wiederum hier sehr klärend, was die historischen Wurzeln des Rechts betrifft siehe K. HAMMACHER, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit, Baden-Baden, 2011, S. 44 u. v. a. Er arbeitet dort die elementaren Schichten des Rechts aus dem ethnologischen Verhalten heraus, stellt die historische Entwicklung des Rechtsgedanken dar, und analysiert den Rechtsbegriff mittels der Transzendentalphilosophie J. G. FICHTES.