Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters – 4. Vorlesung

Bemerkenswert gleich der erste Satz zur Methode: Die angestrebte Beschreibung und Bestimmung seines gegenwärtigen Zeitalters will Fichte durch das zeitüberhobene, dialektische Denken erreichen, ansonsten er in einem hermeneutischen Zirkel befangen bliebe: Dieser besagt, was verstanden wird, ist selber bloß zeitlich relativ. Aus der modalen Entscheidungssituation einer fakultativ zu bestimmenden Erscheinung kann nicht ausgestiegen werden, die Wirklichkeit gibt die Möglichkeit des Denkens vor.

Anders Fichte, er geht von apriorischen Ideen aus: Aus dem Denkverhältnis soll das Zeitliche bestimmt werden.

Der bestimmte Gegensatz des Lebensprincips des von uns zu charakterisirenden dritten Zeitalters, nemlich das Princip des vernunftmässigen Lebens, hatte sich in der vorigen Rede ergeben; – dieses: dass das persönliche Leben an das Leben der Gattung, oder wie wir dies weiterhin bestimmten, an die Ideen gesetzt werde; (…)“ (ebd. S 48)

1) Auf ein vernünftiges, werthaftes Selbstsein und einer psychologisch positiven Selbsteinschätzung wurde in der dritten Vorlesung eingegangen.
Dieses Bild von sich könnte aber nur a) billigend
und selbstgefällig ausfallen, es muss b) ein höheres Sein geben, woran sich das Selbst zu binden vermag.

In dem ersten Falle liebt es sich selber und gefällt es sich selber in dieser Vorstellung, weil diese wenigstens die des Vernunftgemässen, und selber vernunftgemäss ist, und es entsteht die erwähnte Billigung, Achtung und Bewunderung; im zweiten Zustande erfasst es sich in einem unendlichen Selbstgenusse, welcher Seligkeit ist. Den ersten Zustand, den der Billigung, wollte ich in der vorigen Stunde an Ihnen versuchen, für heute versprechend eine schwache Beschreibung des letzteren. –„ (ebd. S 49)

Eine geschichtliche Reihe von „Religiosen“ und „Heroen“ ist nicht zu übersehen, die uns dieses höhere Sein gezeigt haben:

(…) welche, die einen so wie die anderen, ihr Leben und allen Genuss desselben für ihre Ideen aufopferten.“ (ebd. S 49)

Fichte geht dann auf verschiedene Ideen ein, die über das dritte, sein gegenwärtiges, oberflächliches Zeitalter, bereits hinausweisen.

Da wäre die „Ehre“ zu nennen, wofür manche Vorfahren lebten (vgl. ebd. S 50-52), oder gewisse Entdeckungen „(…) dieses Licht hält in diesen ihren Augen ihr ganzes Leben gefesselt und gefangen, so dass alle ihre übrigen Sinne ruhig ersterben. Sie bedürfen keiner Entschädigung; sie haben einen unermesslichen Gewinn gemacht.“(vgl. ebd. S 52f)

2) Geschichtlich sehr prägsam für alle Vernunftwesen und die Menschheit war die Religion. Umso höher und wichtiger ist das befreiende Gottesbild des christlichen Glaubens einzuschätzen. Das Christentum war eine Wende.

In drastischen Worten beschreibt Fichte die alte Religion im Gegensatz zur neuen:

Das furchtbare Schreckbild einer menschenfeindlichen Gottheit ist entflohen, sagten wir, und dem Menschengeschlechte Ruhe und Freiheit von diesem Schreckbilde erworben. Wer war es, der diesen allgemein verbreiteten und so tief in allen Völkern eingewurzelten Wahn ausrottete; geschah es ohne Aufopferungen; was hat für diese Opfer entschuldigt? Die christliche Religion ganz allein ist es, welche dieses Wunder vollbracht, und durch jedes Opfer der ihr ergebenen und von ihr ergriffenen durchgesetzt hat. Was diese, was der erhabene Stifter derselben, was seine nächsten Zeugen, was deren nächste Nachfolger lange Reihen von Jahrhunderten hindurch bis auch auf uns, als eine späte Geburt, ihr Wort kam, – gearbeitet, und unter blödsinnigen und abergläubischen Völkern erduldet, – lediglich begeistert von der beseligenden Wahrheit, die ihnen innerlich aufgegangen war, und ihr Leben ergriffen hatte, – will ich nicht erinnern. Das Zeitalter erinnert sich dessen sehr wohl. und bringt es häufig in Erwähnung, um ihrer Schwärmerei zu spotten. Lediglich durch das Christenthum, und durch das ungeheure Wunder, wodurch dieses entstand und in die Welt eingeführt wurde, ist die Verwandlung geschehen. (…)“ (ebd. S 53.54)

3) Es folgt weiter die Aufopferung persönlichen Lebensgenusses für die Ideen der Gattung in einem allgemeinen, apriorischen Sinne, und dann konkret in Ideen.

Definitiv genau wird bestimmt, was eine Idee ist: „Es ist hier der Ort, zuerst bestimmter zu erklären, was Idee, als Idee, in ihrem eigentlichen Wesen sey; eine Erklärung, welche selber wir durch das bisherige vorbereiten wollten.

Ich sage: die Idee ist ein selbstständiger, in sich lebendiger und die Materie belebender Gedanke.“ (ebd. S 55)

Die Idee, ein selbstständiger und lebendiger Gedanke, eine Ur-Tätigkeit. (vgl. ebd. S 54-58)

Die Idee ist selbständig, genügt ihr selbst, und geht auf in sich selber. Sie will leben und daseyn, schlechthin um dazuseyn, und verschmäht jeden Zweck ihres Daseyns, der ausserhalb ihrer selbst liege. Sie schätzt daher und liebt ihr Leben keinesweges nach dem fremden Maassstabe irgend eines Erfolges, Nutzens oder Vortheils, den dasselbe ertrage. Wie sie in der ganzen Gattung keinesweges das Wohlseyn, sondern nur die absolute Würde, – nicht etwa Würdigkeit der Glückseligkeit, sondern Würde durchaus für sich – anstrebt: ebenso ist sie, wo sie zum besonderen Leben gediehen, in sich selber durch diese Würde vollkommen ersättigt, ohne des Erfolgs zu bedürfen. Die Unsicherheit desselben kann daher ihre innere Klarheit nie trüben, noch der wirkliche Nichterfolg ihr jemals Schmerz verursachen, da sie auf den Erfolg nicht rechnete, und ihn ebenso aufgegeben hat, wie die sinnliche Begierde. Wie könnte in diesen in sich geschlossenen Cirkel des Lebens Leid und Schmerz, oder Störung je eintreten?“ (ebd. S 57.58)

Die Idee schenkt Seligkeit und ewiges Leben. Das ganze Leben und die vielen Ideen sind zusammenhängend in und durch eine einzige Idee. (Fichte – ein Platon redivivus.)

4) Fichte geht dann über zu den ersten Äußerungen der in sich zusammenhängenden Ideen – zur Idee der Kunst: 1

Die erste, unter der Menschheit am frühesten ausgebrochene, und dermalen am weitesten verbreitete Art jenes Ausflusses der Urthätigkeit ist die in Materie ausser uns vermittelst unserer eigenen materiellen Kraft: und in dieser Art des Ausflusses besteht die schöne Kunst. Ausfluss der Urthätigkeit habe ich gesagt, – der nur aus sich selber strömenden und sich selbst genügenden, keinesweges der auf Erfahrung und Beobachtung in der Aussenwelt sich stützenden; (…)“ (ebd. S 58f)

5) Eine andere Form der Idee, die in manchen Vernunftwesen durchgebrochen ist, ist dann eine Art „Urthätigkeit in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschheit, (…)“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 59).

6) Schließlich gibt es die Idee von Wissenschaft (ebd. S 60) – und die höchste Idee wird geschaut und dargebracht in der Religion:

Endlich, die umfassendste, alles in sich aufnehmende und durchaus an jedes Gemüth zu bringende Form der Idee, das Hinströmen aller Thätigkeit und alles Lebens, mit Bewusstseyn, in den Einen, unmittelbar empfundenen Urquell des Lebens, die Gottheit: oder – die Religion. Wem dieses Bewusstseyn in seiner Unmittelbarkeit und unerschütterlichen Gewissheit aufgeht, und ihm zur Seele wird alles seines übrigen Wissens, Denkens und Sinnens, der ist eingegangen in den Besitz nie zu trübender Seligkeit. Was ihm begegne, es ist Lebensform jenes Urquells des Lebens, welches in jeglicher Gestalt heilig ist und gut, und welches in jeglicher Gestalt zu lieben er sich nicht entbrechen kann; es ist, falls er etwa mit anderen Worten sich ausdrückte, der Wille Gottes, mit welchem sein Wille immer Eins ist. (…)“ (ebd. S 60.61)

Kurz repliziert auf die früheren Schriften Fichtes: Das Thema der Religion begegnet von allem Anfang an im Seh-Akt des Sich-Wissens und Reflektierens: „Religion“ steht auf der Seite der idealen Bestimmbarkeit, d. h. dass in einem Aufruf-Anwort-Schema das Subjekt sich selbst beschränkt und bestimmbar macht durch den Aufruf Gottes bzw. überhaupt durch den Aufruf Gottes sein darf, leben darf  – siehe z. B. zur Fünffachheit des Wissens in der Wlnm 1796-1799, oder siehe Schrift „Glauben an die göttliche Weltregierung“, oder siehe Begriff des Absoluten in der WL 1801/02, WL 1804 u. a.

7) Fichte fasst seinen philosophischen Höhenweg nochmals zusammen (vgl. ebd. S 61f) in dem Begriff einer einzigen, systematischen Idee. (Analog zu Platons „Idee des Guten“.) Der Edle wird sich angezogen fühlen von dieser Idee, von diesem Ewigen und Dauernden, „welche die Religion ihm darbietet!“ (ebd. S 62)

Man könnte jetzt mit Bedauern feststellen, dass Fichte zwar zum „Gott der Philosophen“ aufsteigt, aber nicht zum „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ – wie B. Pascal formuliert haben soll?
Umgekehrt könnte
kritisch gewürdigt werden, dass Fichte nur bei einem Abbilden (verbal verstanden) bleibt. Die angestrebte vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit  im Sinne einer gemeinschaftlichen sittlichen Idee und im Sinne eines individuellen Auftrags steht unter dem Gesetz des Denkens. „Die „göttliche Idee“ tritt niemals selber ein in die Sinnenwelt, sondern immer nur im Bild, und gerät so unter die Gesetze der Bedingtheit.“ 2

Und so verhält es sich mit jeder von uns erwähnten besonderen Gestalt der Idee, und mit jeder möglichen; wovon ich die Ausführung Ihrem eigenen Nachdenken überlasse.

So, sagte ich, windet die ewig sich selbst ganz erfassende, in sich selber lebende, und aus sich selber lebende Eine Idee sich fort durch den Einen Strom der Zeit. Und, setze ich hinzu, in jedem Momente dieses Zeitstroms erfasst sie sich ganz, und durchdringt sich ganz, wie sie ist in dem ganzen unendlichen Strome; ewig und immer sich selber allgegenwärtig. Was in ihr in jedem Momente vorkommt, ist nur, inwiefern war, was vergangen ist, und weil da seyn soll, was in alle Ewigkeit werden wird. Nichts geht in diesem System verloren.(…)“ (ebd. S 62)

8) Es kommen dann noch poetische Beschreibungen einer zu erhoffenden Seligkeit, von „unaussprechlicher Liebe“ und von einem „Gesetz der Geisterwelt“ (ebd. S 63).

(…) alles, was zum Gefühle des Daseyns gekommen, falle zum Opfer dem ins unendliche fort zu steigernden Seyn; und dieses Gesetz waltet unaufhaltbar, ohne irgend eines Einwilligung zu erwarten. Nur dies ist der Unterschied, ob man mit der Binde um das Haupt, wie ein Thier, sich zur Schlachtbank wolle führen lassen; oder frei und edel, und im vollen Vorgenusse des Lebens, das aus unserem Falle sich entwickeln wird, sein Leben am Altare des ewigen Lebens zur Gabe darbringen.“ (ebd. S 63)

So ist es, E. V.; unter dieser heiligen Gesetzgebung, willig oder unwillig gefragt oder nicht gefragt, stehen wir alle; (…)“ (ebd.)

© Franz Strasser 6. 2. 2025

1Ich denke hier an die ersten steinzeitlichen Malereien in verschiedenen Höhlen Frankreichs und Spaniens. Man kann sie wohl so deuten als erste apriorische Schau von Ideen.

2Vgl. K. Hammacher, Fichtes Weg zur Geschichte, a. a.O., S 192.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser