Nach einer anfänglichen Beschreibung des 3. Zeitalters der „leeren Freiheit“ und des positivistisches Erkenntnisbegriffes, der auf „Erfahrung“ gegründet ist – es wird in den folgenden Vorlesungen das 3. Zeitalter noch viel umfangreicher beschrieben werden – , will Fichte jetzt genauer erläutern, was eine vernünftige Durchdringung und Gestaltung der Wirklichkeit denn sein soll.
1) Das ideale Zweck und Ziel ist, „Dass das Menschengeschlecht mit Freiheit alle seine Verhältnisse nach der Vernunft einrichte, war als Zweck des gesammten Erdenlebens unserer Gattung hingestellt; (…) „ (ebd. S 34).
Zuerst müsse einmal das individualistische Denken abgelegt werden: „(..) Sonach besteht das vernünftige Leben darin, dass die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, dass die Person nichts denke, denn sich selber, nichts liebe, denn sich selber und in Beziehung auf sich selber, (…)“. (ebd. S 35)
Es ist eine sehr hohe, geradezu altruistische Ethik gefordert, wobei wiederum nicht das natürliche Bedürfnis der Zusammengehörigkeit und Liebe und Sympathie das Ziel wäre, das ist noch die Stufe des „Vernunftinstincts“ (vgl. S 37), sondern die Gattung der Menschheit in genere soll mit Freiheit das ethisch-teleologische Ziel erreichen.
Das Leben dieser Gattung ist ausgedrückt „in den Ideen, deren Grundcharakter sowohl, als die verschiedenen Arten derselben wir im Verlaufe dieser Vorträge. sattsam werden kennen lernen. Die obige Formel: sein Leben an die Gattung setzen, lasst daher sich auch also ausdrücken: sein Leben an die Ideen setzen; denn die Ideen gehen eben auf die Gattung als solche, und auf ihr Leben; und sonach besteht das vernunftmässige und darum rechte, gute und wahrhaftige Leben darin, dass man sich selbst in den Ideen vergesse, keinen Genuss suche noch kenne, als den in ihnen und in der Aufopferung alles anderen Lebensgenusses für sie.“ (ebd. S 37)
2) Diese Ideen werden dann aufgeschlüsselt und expliziert: Zuerst kommt die Idee einer vernünftigen Selbstliebe, in der vierten Vorlesung die Idee der Kunst, und weiter die Idee des gemeinschaftlichen Lebens, der Wissenschaft und der Religion.
Dabei ist Fichte wichtig, dass durch seinen Vortrag die Hörer/Hörerinnen selbst die apriorischen Ideen nachvollziehen und finden, um sie selber dann schematisieren und versinnlichen zu können. Sie mögen mit „ihrem eigenen hellen, klaren Bewusstseyn, und dass er Ihnen sichtbar werde, und dass er nicht durch seine blosse Existenz wirke, sondern damit er in dieser seiner Existenz bemerkt und aus derselben weiter geschlossen werde.“ (ebd. S 38)
Fichte beginnt beim Affekt, bei einer notwendigen und berechtigen „Liebe des vernunftmässigen Lebens zu sich selber (…)“ (ebd. S 39). Das versteht er in Richtung einer erkenntnishaften Vorstellung von sich selbst, als „Vernunftleben im Bilde“ (ebd. S 40).
Die nicht egoistische, überhebliche, sondern werthafte Selbsterkenntnis ist bereits entscheidend, „Inwiefern auf die erste Weise des Vernunftleben lediglich im Bilde und als ein uns fremder Zustand an uns gebracht wird, wird eben dieses Bild selber sich liebend ergreifen und fassen, und mit Wohlgefallen auf sich selber ruhen; denn insoweit wenigstens sind wir sodann in die Sphäre des Vernunftlebens hineingekommen, dass wir eine Vorstellung besitzen, wie sie seyn sollte. „ (ebd. S 40)
In diesem Bilde von sich selbst liegt bereits eine höhere Sendung und ein Gefühl von Seligkeit, „(…) Denn alle Empfindungen des Misfallenden und Widerwärtigen, so wie die der Sehnsucht und der Leere sind nichts anderes, denn die Geburtsschmerzen des seiner vollendeten Entwickelung entgegenringenden höheren Lebens.“ (ebd. S 41) 1
Ganz konkret und geschichtsbedingend ist diese erste, werthafte Selbsteinschätzung schon gewachsen und entstanden – durch andere Personen, die sich apriorischen Ideen „aufgeopfert“ haben.
„Ich behaupte für unseren nächsten Zweck folgendes: Alles grosse und gute, worauf unsere gegenwärtige Existenz sich stützet, wovon sie ausgeht, und unter dessen alleiniger Voraussetzung unser Zeitalter sein Wesen treiben kann, wie es dasselbe treibt, ist lediglich dadurch wirklich geworden, dass edle und kräftige Menschen allen Lebensgenuss für Ideen aufgeopfert. haben; und wir selber mit allem, was wir sind, sind das Resultat der Aufopferung aller früheren Generationen, und besonders ihrer würdigsten Mitglieder.“ (ebd. S 41)
Das Beispiel der Vorfahren soll nicht überheblich und müde belächelt werden, als hätten wir quasi von selbst einen gewissen Erkenntnisstand erreicht.2 Alles verdankt sich vielmehr einer zeitlichen, unableitbaren und geschichtlichen Bedingtheit. Fichte beschreibt das so: Die Menschheit hat sich durch gemeinschaftlichen Sinn technisch-praktisch, ökonomisch und zivil weiterentwickelt, ist eine Ständegesellschaft geworden (vgl. ebd. S 42. 43), hat es bis zu einem „Völkerrecht“ (ebd. S 44) gebracht, und hat sich sogar von einem feindseligen Gottesbild und einer unterdrückerischen Religion befreit. Das alles ist nicht von selbst gekommen, sondern dank der apriorischen Idee und dank hellsichtiger Individuen. 3
Es wird dann angespielt auf religiöse Heroen – wohl Gestalten der Bibel – schließlich wird ein politischer Heros genannt, Alexander der Große, der die griechische Kultur weitergetragen hat (vgl. ebd. S 45 – 48).
© Franz Strasser, 6. 2. 2025
1Ein Anspielung auf Röm 8, 19, obwohl Fichte es mit Paulus nicht so hat – vgl. z. B. 7. Vorlesung: „Denn die Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. 20 Gewiss, die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin: 21 Denn auch sie, die Schöpfung, soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt.“
2So interpretiere ich zumindest diese schöne Wendung „(…) dass ich Sie durch die Betrachtung des Nutzens, den jene Opfer Ihnen bringen, zur Toleranz gegen jene Vorgänger besteche; (…)“ (ebd. S 41) Nur dank geschichtlicher Bedingtheit sind wir, was wir sind.
3Zur Religion: „ die Gottheit, als ihren Feind. Durch kriechende Demüthigungen und Supplicationen, durch Aufopferung dessen, was ihnen am liebsten war, durch freiwillig sich zugefügte Martern, durch Menschenopfer, durch das Blut des eingeborenen Sohnes, wenn es galt, – suchten sie dieses auf alles menschliche Wohlseyn eifersüchtige, Wesen zu bestechen, mit ihren unerwarteten Glücksfällen es auszusöhnen, sie ihm abzubitten.
Dies ist die Religion der alten Welt und der noch vorhandenen Wildlinge, und ich fordere Jeden Geschichtsforscher auf, in diesem Gebiete eine andere nachzuweisen. Uns ist jenes Schreckbild längst entschwunden, und die Erlösung, und Genugthuung, von der in einem gewissen Systeme gesprochen[44] wird, ist offenbare Thatsache, wir mögen nun daran glauben oder nicht; und sie ist um So mehr Thatsache, je weniger wir daran glauben wollen. Unser Zeitalter, weit entfernt die Gottheit zu scheuen, (…)“ (ebd. S 44.45)