Der Weg zur Transzendentalphilosophie – 1. Teil

1) Fragen der heutigen Leib-Seele-Forschung, Fragen nach dem Anfang der Welt, Fragen nach der Welterklärung (Stichwort: „Intelligent Design“), Fragen nach der Würde des Menschen angesichts vieler naturalistischer Theorien, Fragen der Ethik, Fragen der positiven Offenbarung Gottes,  lassen sich meines Erachtens nur von einem grundlegend transzendentalen Standpunkt aus lösen. DESCARTES, KANT und FICHTE stellen hier eine Wende dar. Prinzipiell verstehe ich unter einem transzendentalen Standpunkt, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung – so nach Kant – bzw. die Bedingung der Möglichkeit des Wissens und der Wissbarkeit – so nach Descartes und Fichte – bei jedem Erkenntnisakt mitreflektiert werden müssen. Ein realistischer oder idealistischer Erkenntnisgrund erklärt nicht, was er erklären soll – den Grund der Erkenntnis und des Wissens. Realismus oder Idealismus sind beiderseits abgebrochene Erkenntnisstandpunkte, die sich gegenseitig bezweifeln und in Frage stellen können. J. G. FICHTE hat z. B. in der WL 1804/2 die prinzipiell möglichen Standpunkte der Einseitigkeit des Realismus bzw. Idealismus durchgespielt, worunter alle naturalistischen und rationalistischen Standpunkte von damals wie heute fallen, sofern nicht von einer Selbstbegründung und, wie er sagt, „genetischen“ Evidenz, einem Wissen-in-actu,  ausgegangen werden kann. Das faktisch angesetzte Wissen kann sich nicht  aus sich selbst begründen, deshalb muss ein übergeordneter Standpunkt gefunden werden: Der übergeordnete Standpunkt heißt aber nicht, dass die WL selbst den übergeordneten Standpunkt wählen und aussuchen könnte, denn sie ist gleichermaßen bedingt durch die Erscheinung des Absoluten. Die WL begründet zwar alles Sich-Wissen, alle Reflexionsformen des theoretischen und praktischen Wissens, mithin alle Standpunkte des Wissens, sie selbst aber gilt ebenfalls nur als Ableitung aus dem Sollen der Erscheinung des Absoluten. Das Sich-Wissen als Ich ist erzeugt: „ „[…] die W. = L. hat stets bezeugt, daß nur als erzeugt sie das Ich für rein anerkenne, und es an die Spitze ihrer Deduktionen, nicht etwa ihrer selbst, als Wissenschaft, stelle, indem ja doch die Erzeugung höher liegen wird, als das Erzeugte.“ WL 1804/2, 13. Vortrag, hrsg. v. R. Lauth, S 136.

2) Wie kam es zur Transzendentalphilosophie?
„Hinter den großen spekulativen Systemen des 17. (17./18.) Jahrhunderts bleiben die metaphysischen Leistungen des 18. Jhd. weit zurück“, so die Sicht von Heinz HEIMSOETH, Metaphysik der Neuzeit, 1967, 79.

Es hat sich in der Schule CHRISTIAN WOLFFS und seiner Schüler ein rationalistischer Begriff des Seins und des Wissens durchgesetzt, wodurch es allein genügt, die widerspruchsfreie Möglichkeit eines Begriffes zu denken, um sein Sein zu erkennen. Metaphysik, und damit die höchsten Dinge des Seins wie Gott, Welt, Seele, schienen als deduktiv-logische Systeme ausführbar und hatten deshalb ihre apodiktische Evidenz.
Wenn es widersprüchlich wäre, B nicht anzunehmen, weil ja A existiert,  muss B angenommen werden – und umgekehrt, weil es widersprüchlich wäre, ein B ohne A anzunehmen, muss A existieren. 

Die Frage, wie sich Begriffe auf das Sein beziehen,  mithin auch die Frage nach der strukturellen Totalität der epistemischen Relation Begriff/Sein und nach ihrer epistemologischen Bildung,  mithin aber auch die Begründung und Rechtfertigung des epistemologischen Bildungsaktes selbst – Fichte nenne sie in einem Brief an Appia einmal „logologische“ Begründung (GA III, 5, 246/47) – wurde aber nicht mehr gestellt.  Das Moment einer  inhaltgebenden Anschauung, worauf KANT dann in der KrV –  bzw. in der GMS und KpV auf die Anschauung moralischer Werte  – , insistieren wird,  war aus dem  Erkenntnisbegriff verdrängt.  
Die ontologischen Fundamentalprinzipien waren identisch mit den Prinzipien der Logik, d. h. mit dem
Satz vom Widerspruch und dem Satz vom Grunde. Die Metaphysik oder allgemeine Ontologie (metaphysica generalis) vermag den Grund des Seinssystems festzulegen und zu erkennen. Es folgen ergo die abgeleiteten Disziplinen 1.) der rationale Kosmologie,  von aller empirisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen einzelner Naturerscheinungen noch abgelöst; ferner 2.) die Disziplin der  rationalen, natürlichen Theologie, aber als eine von allem Offenbarungswissen abgelöste Gotteslehre; und schließlich die Disziplin 3.) der rationalen Psychologie, abgelöst vom empirischen Beobachten des Psychischen. Aus der ersten allgemeinen Wissenschaft des Seins (der Ontologie) können die Prinzipien und Gegenstände der Erkenntnis, dreigeteilt, abgeleitet und erkannt werden.   In demonstrativer Form kann a) das Dasein und Wesen Gottes, b) die immaterielle Substanz und Unsterblichkeit der Seele, und c) die Erkenntnis der Welt dargelegt werden. Die Metaphysik, so schien es, war in den gesicherten Zustand eines vollendeten oder doch leicht vollendbaren Wissenschaftssystems übergegangen.

3) Entwicklungsgeschichtlich sollte sich ab den 50-er Jahren des 18. Jhd. die Situation schlagartig ändern: Es traten CRUSIUS und KANT auf die Bühne.
HEIMSOETH stellt in den Mittelpunkt des Interesses der beiden Denker die Realität der menschlichen Willensfreiheit. Wo bleibt die Individualität und die Freiheit des Menschen, wenn alle Monaden religiös-teleologisch eingerichtet sind und  im Sinne einer prästabilierten Harmonie wirken bzw. wenn alles, was geschieht, nach der Theodizee der besten aller möglichen Welten aufgelöst werden kann? Und wo bleibt die einzelne endliche Substanz, die extensional  sinnliche oder die geistige, wenn sie nur ein Attribut der einen göttlichen Substanz ist (SPINOZA)? (Zu LEIBNIZ und SPINOZA siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Wilhelm_Leibniz

http://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_Spinoza )

Freiheit ist nach der rationalistischen Metaphysik etwas ganz und gar Irrationales. Ebenso tauchten andere Fragen auf, die unter dem Problem der Antinomien bei KANT später zusammengefasst wurden.  Eine neue Forderung nach der Kritik der erkennenden Vernunft, d. h. auf Festlegung der Grenzen menschlicher Erkenntnis und auf Sichtung ihrer Kriterien,  stand im Raume und wartete auf eine Ausarbeitung. Die Erkenntnis der Wirklichkeit kann nicht auf eine logische  Zusammenfügung von Begriffen reduziert werden.  Was widerspruchslos gedacht werden kann, muss noch nicht wirklich sein und existieren, und was existiert, wie kann es begrifflich erkannt werden? Und soll es so sein, wie es ist, und ist es so, wie es sein soll? Die drei Fragen von KANT sind ja bekannt: Was können wir erkennen (wissen)? Was sollen wir tun? Was können wir erhoffen? Es war die Geburtsstunde einer Neubegründung des philosophischen Erkennens, natürlich in einzelnen Aussagen der Tradition schon da gewesen: Deshalb der bezeichnende Titel von KANT   „Kritik der reinen Vernunft“. Es sollten die Grenzen der Erkenntnis einerseits, andererseits die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung als ausgewiesene Erkenntnisbedingungen dargestellt werden. Von KANT dann so zusammengefasst: Auf solche Weise sind synthetische Urtheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungserkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen | der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori.“ (KrV, B 197)
Bevor an eine gegenständliche oder objektive Erkenntnis gegangen werden konnte, musste sich das Wissen selbst zum Objekte machen, aber auch nicht wieder verobjektiviert und bloß negativ der positiven Wirklichkeit gegenübergestellt (wie später dann bei Schelling) oder als absoluter Geist sich  manifestierend (wie bei Hegel),  sondern selbstkritisch und ethisch sich hinterfragend, nach welchen Bedingungen der  Erfahrung (bei Fichte der Wissbarkeit) erzeugt sich naturwissenschaftliches oder gesellschaftliches Erkennen und Wissen.  

HEINZ HEIMSOETHS Verdienst – auf den ich hier nur verweisen kann – ist es gewesen, bei KANT sowohl den Unterschied zur rationalistischen Metaphysik als auch die kritische Renaissance der Metaphysik erkannt zu haben. Es kann mit KANT auf den breiten Strom der  vergangenen Tradition zurückgeblickt werden, aber auch  auf die nächstfolgenden Zeitabschnitte der Philosophiegeschichte.  Es ist sagenhaft, wie in ca. 30 Jahren mit dem Erscheinen der kritischen Werke Kants  und den Wissenschaftslehren FICHTES die Transzendentalphilosophie ihren Höhepunkt und ihre Vollendung erlangt hat (1781 – 1814), und wie abrupt und bedauerlich, dramatisch und dogmatisch, der eingeschlagene Weg von Kant und Fichte durch SCHELLING, HEGEL u. a. abgebrochen wurde. 

Literatur HEINZ HEIMSOETH, Metaphysik der Neuzeit, 1967.

(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015

Am prägnantesten hat die neue Erkenntnisart und generelle Revolutionierung der Philosophie J. G. Fichte einmal in einem Brief 1804 zum Ausdruck gebracht. (Brief an Appia vom 23. Juni 1804,  GA III,5, 244–248): „Alle Philos.ie bis auf Kant, hatte zu ihrem Gegenstande das Seyn (objectum, ens) – (im Dualismus z. B. wurde das Bewußtseyn selber, als bewußtes (Geist, Seele, u.s.f.) zum Seyn). Der Zweck dieser Philosophie war, den Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen dieses Seyns zu begreifen. […] Alle übersahen, lediglich aus Mangel an Aufmer[k]samkeit, daß kein Seyn, außer in einem Bewußtseyn, und umgekehrt, kein Bewußtseyn, außer in einem Seyn, vorkomme; daß daher das eigentliche Ansich, als Objekt der Philos.ie weder Seyn, wie in aller vorkantisch. Philos.ie, noch Bewußtseyn, wie freylich nicht einmal versucht worden, sondern Seyn + Bewußtseyn, oder Bew. + Seyn=der absoluten Einheit beyder, jenseit ihrer Geschiedenheit, seyn müße. Kant war es, der diese große Entdeckung machte, und dadurch Urheber der Transcendental-Philosophie wurde. […] Es versteht sich, daß auch nach dieser totalen Umänderung des eigentlichen Objekts, die Philosophie noch immer ihre alte Aufgabe behalte, den Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen jenes Grundobjekts begreiflich zu machen. […] In diesem leztern Geschäfte der Ableitung kann man nun, Entweder also verfahren, daß man gewiße Grundunterschiede, welche nur in empirischer Selbstbeobachtung gefunden seyn können, als nicht weiter zu vereinigend, voraussetze; und auf jede dieser besonderen GrundEinheiten nun das aus jeder abzuleitende zurükführe; welches theils eine unvollständige, in sich selber nicht zum Ende, d.h. zur absoluten Einheit, gekommene; theils eine zum Theil auf empirische Data gegründete, drum nicht streng wißenschaftliche, Philosophie geben würde, die doch […] Transc.ale bleibt. – Eine solche Philos.ie ist die Kantische. […] Oder man kann also verfahren, daß man jene ursprüngliche Einheit des Seyns und Bewußtseyns [… ] in dem, was sie ansich, und unabhängig von ihrer Spaltung in Seyn und Bewußtseyn, ist, durchdringe und darstelle. (…) Wird man sie, jene Einheit, recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie in Seyn, und Bewußtseyn sich spalte, einsehen; ferner einsehen, warum es in dieser Gespaltenheit, auf eine bestimmte Weise sich weiter spalte; alles schlechthin à priori, ohne alle Beihülfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; und also wahrhaftig das All in dem Einen, und das Eine im Allen begreifen; welches von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen. Diese jetz[t] beschriebene Philosophie ist die Wissenschaftslehre.“ 

 

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser