1) In der POLITEIA PLATONS wird das rechte Gemeinwesen aufgebaut und beschrieben. Der Glück- und Gerechtigkeitsbegriff spielt dabei eine wichtige Rolle. „Lohnt es sich, gerecht zu leben. Ist Gerechtigkeit, wie es die sophistische These behauptet, nur eine Konvention, der wir uns notgedrungen fügen, um größere Übel zu vermeiden, obwohl sie unsere wahre Natur vergewaltigt und unserem Glück im Wege steht, oder ist sie ein Wert in sich selbst?“ (FRIEDO RICKEN, Philosophie der Antike, 88.)
PLATONS Lösung des Problems einer Definitions- und Sinnerklärung für Gerechtigkeit ist der dahinterliegenden Begriff der Einheit.
„Glück ist Einheit der Menschen in der Gemeinschaft des Staates und Einheit des einzelnen mit sich selbst. Beide bedingen einander.“ (vgl. F. RICKEN, 88). Diese Einheit wird nicht vorgefunden, sie ist erst zu leisten. Dazu kann die Gerechtigkeit befähigen.
Für das Verhältnis der Menschen untereinander liegt das auf der Hand: Menschen haben verschiedenen Begabungen und Interessen, die sie zum gemeinsamen Besten aufeinander abstimmen müssen. Die Funktion der Gerechtigkeit ist, diese Abstimmung zu schaffen und Einheit zu erzeugen.
Der einzelne Mensch ist durch seinen Leib eine Vielheit.
Es gibt nach der POLITEIA drei Seelenvermögen (435e-441c)
S435e Ist es nun nicht uns ganz notwendig, sprach ich, zu gestehen, daß in einem jeden von uns diese nämlichen drei Arten und Handlungsweisen sich finden wie auch im Staat? Denn nirgends andersher können sie ja dorthin gekommen sein. (Politeia)
Die Seelenvermögen werden im apriorischen Vorwissen und nach einer bestimmten Weise durch die Definition ihres Gegenstandsbereiches voneinander abgegrenzt und definiert: PLATON geht dabei nach dem formalen Gesetz des Nichtwiderspruchsprinzip vor, dass dieselbe Sache nicht unter derselben Rücksicht und in Beziehung auf denselben Gegenstand zugleich Entgegengesetztes tun oder erleiden kann. Wenn es den Durst gibt, der auf Trank hingerichtet ist, trotzdem aber es ein höheres Begehren als Trank gibt, so muss dem ein anderes Seelenvermögen entgegengesetzt sein. Jede seelische Tätigkeit ist auf einen spezifischen Gegenstandsbereich bezogen, aber auch unterschieden gegenüber anderen seelischen Tätigkeiten, sonst könnte sie als solche nicht abgegrenzt werden. Es gibt das Vermögen der Begierde und das Vermögen der Vernunft, es gibt ein Aggressions- und Affektvermögen – und die Vermögen sind begründet in der Lebendigkeit und Kraft der Ideen, die in diesen endlichen Formen sich faktisch verwirklichen und in der Einheit eines qualitativen Totalitätsallgemeinen gebündelt sind.
Es gibt so drei Seelenvermögen: Begierde – Affekt – Vernunft.
Das Verhältnis der Vernunft zu den beiden unteren Seelenvermögen wird verglichen mit der politischen Metapher der Herrschaft. Der Staat ist der Mensch im Großen und der Mensch ist der Staat im Kleinen. Die Beziehungen zwischen dem Seelenvermögen entsprechen denen zwischen den Ständen des Staates. Durch ein abgewogenes Verhältnis zueinander – von Begierde, Affekt und Vernunft – funktioniert sowohl der Staat wie die Harmonie sämtlicher Antriebe in der Seele des Menschen – zusammengehalten durch das qualitative Totalitätsallgemeine der Ideen und einer höchsten Idee.1
Aber, o Glaukon, dorthin müssen wir unsere Blicke richten.
Wohin? fragte er.
S611e Auf ihr wissenschaftliebendes Wesen, und müssen bemerken, wonach dieses trachtet und was für Unterhaltungen es sucht, als dem Göttlichen und Unsterblichen und immer Seienden verwandt, und wie sie sein würde, wenn sie ganz und gar folgen könnte, von diesem Antriebe emporgehoben //V365// aus der Meerestiefe, in der sie sich jetzt befindet und das Gestein
S612a und Muschelwerk abstoßend, welches ihr jetzt, da sie auf der Erde festgeworden ist, erdig und steinig, bunt und wild durcheinander angewachsen ist, von diesen sogenannten glückseligen Festen her.
2) Wie PLATON den Begriff der EINHEIT zur Lösung des Problems im Staat und in der eigenen Seele paradigmatisch durchhält – so begegnet mir ähnliches Paradigma in den verschiedenen Schriften FICHTES. Der Begriff der Einheit führt alle Mannigfaltigkeit im Bewusstsein zurück auf ein qualitatives Totalitätsallgemeines (wie bei PLATON) – und leitet zugleich über zur Konkretisierung und Anwendung in den verschiedenen Lebensbereichen – bei PLATON eben zum eigenen Körper und den Seelenvermögen bzw. zum Staat und seinen Ständen kommt.
Die WISSENSCHAFTSLEHREN schildern die letzte transzendental-reflexive Einheit der Erkenntnis, die übrigen Schriften zeigen deren Anwendung und praktische Verwirklichung an. Ideen bei PLATON sind die Voraus-Bilder möglicher Realisierung von Freiheit; die Wissensprinzipien bei FICHTE sind die Wissensbedingungen konkreter Erfahrung. Nach der WL – oder oft gleichzeitig – folgen die materialen Wissensbedingungen der Gesellschaft, der Moralität, der Gotteslehre, der Pädagogik, der Aszetik u. a. m. Aber jede einzelne Schrift bleibt systematisch auf den Begriff der Einheit der Vernunft zurückbezogen, integrativ zusammengehalten durch das platonische Paradigma ideeller Vor-Bilder in realer Anwendung und Konkretisierung.
Die Aufgabe der Philosophie bestehe darin, „das Mannigfaltige in der continuierlichen Einsicht des Philosophen“ auf die absolute Einheit zurückzuführen: „(…) eben in der continuirlichen Einsicht des Philosophen selber, also: daß er das Mannigfaltige durch das Eine, und das Eine durch das Mannigfaltige wechselseitig begreife, d.h. daß ihm die Einheit =A als Princip einleuchte solcher Mannigfaltigen; und umgekehrt, daß die Mannigfaltigen ihrem Seinsgrunde nach nur begriffen werden können, als Principiate von A. „(WL 1804/2; 1. Vortrag, SW X, 93)
Es muss nach FICHTE das genetisch evidente Urprinzip der Wahrheit geben, sonst könnte überhaupt keine Erklärung oder keine Begreifbarkeit von etwas folgen. Hier gleichen sich in ihrem wissenschaftlichen Eros ein PLATON wie FICHTE vollkommen: Nur in Evidenz zu diesem Einheitsprinzip, das zugleich ein Transzendenzbezug zum Göttlichen darstellt, kann es Wissen geben – und nur durch diese systematische Einheit wird Wissen und Wissenschaft erst möglich.
(c) Franz Strasser
6. 7. 2015
1 Nach FRIEDO RICKEN, Philosophie der Antike, 90, ist diese Dreiteilung der Seele im vierten Buch der POLITEIA für PLATON eine vorläufige Sicht. Weil die Seele unsterblich ist, kann sie nicht zusammengesetzt sein. Die Vielheit ergibt sich erst aus der Verbindung mit dem Leib.
Das wahre Wesen der Seele ist ihr Transzendenzbezug (POLITEIA, 611e).