Unter Affekte verstehe ich allgemein Emotionen und Gemütszustände der Seele wie Freude, Trauer, Zorn, Neid, Bewunderung, Lust etc. Wenn ich nun eine Struktur im Handeln erkennen will, so müssen diese emotionalen Regungen (Affekte) mitbedacht werden, um nicht zu vorschnellen Vermischungen von medizinischem Leib und Seele (bzw. geistigem Tun) zu kommen.
In den vielen Analysen des Handelns, worin es primär um ein praktisches Handeln geht, wird die affektive (=emotionale) Seite des Handelns oft unterbewertet oder gar nicht reflektiert. Es werden begriffliche Verhältnisse aufgebaut, z. B. zwischen Willen und Gefühlen, aber wie dieses Verhältnis zueinander gesehen werden kann, wird nicht erklärt.
Ganz anders verfuhr hier DESCARTES mit seiner Leib-Seele-Einheit in den „Passiones“ – oder FICHTE in seiner „Wissenschaftslehre“.
Ich beschränke mich hier wiederum nur kurz auf FICHTE. Die Leib-Seele-Einheit durchzieht natürlich die ganze Philosophiegeschichte bis zur heutigen Hirnforschung. Ich staune z. B. über die hohe Begrifflichkeit, die ein EPIKUR diesbezüglich an den Tag legte.
Schon im ersten Augenblick des Entstehens der WL in der PRACTISCHEN PHILOSOPHIE im Frühjahr 1794, ja bereits in § 2 der OFFENBARUNGSCRITIK 2. Auflage (1793), sind ausdrücklich die Affekte/Emotionen als Bedingungen des menschlichen Handelns reflektiert.
1) In der originär entwickelten Dialektik – hier nicht als „Dialektik des Scheins“ gebrandmarkt – leitet FICHTE in § 2 der OFFENBARUNGSCRITIK, 2. Auflage, Frühjahr 1793, den Triebbegriff aus einer höheren Bestimmung des oberen Begehrungsvermögens ab. Der Trieb wird real gedacht als „Kausalität ohne Wirksamkeit“, ideal steht er unter der Bedingung der Freiheit, denn er ist negative Einschränkungsbedingung eines sinnlichen Gefühls und zugleich positive Erfahrung eines sittlichen Gefühls. Alle kausale Wirkung, die wir in die reale Welt hineinlegen, ist aus dem inneren Streben erschlossen und vom „reingeistigen“ (SW V, 26) Affekt der Achtung ermöglicht und getragen.
2) Da einerseits der Affekt der Achtung durch sein Herkommen aus der reinen Spontaneität sich nicht dem Rezeptivitätsvermögen und der Sinnlichkeit verdanken kann, andererseits aber doch auf die Sinnlichkeit wirken soll, muss es ein synthetisches Vermögen geben, worin sowohl die Seite der Über-Sinnlichkeit wie die Seite der Sinnlichkeit synthetisch vermittelt sind, d. h. so vermittelt sind, dass weder die Rezeptivität der Sinnlichkeit verloren geht, noch die Spontaneität des freien Willens. Dies ist die synthetisch bestimmte Bestimmbarkeit eines sowohl beschränkten wie freien Wollens – der sinnliche Trieb. (SW V, OFFENBARUNGSCRITIK, S 17)
Der Wille, aufgenommen in eine bestimmte sinnliche oder später übersinnliche, geistige Form, d. h. also eingeschränkt gedacht, das ist die Form des Triebes als anthropologische Bedingung der Freiheit. In der Diktion Fichtes (OFFENBARUNGSCRITIK, ebd. S. 17.18):
„Es muss nemlich ein Medium seyn, welches von der einen Seite durch die Vorstellung, gegen welche das Subject sich bloss leidend verhält, von der anderen durch Spontaneität, deren Bewusstseyn der ausschliessende Charakter alles Wollens ist, bestimmbar sey; und dieses Medium nennen wir den Trieb. (….) Der Trieb ist also, in|sofern er auf eine Sinnenempfindung geht, nur durch das Materielle derselben, durch das in dem Afficirtwerden unmittelbar empfundene, bestimmbar. Was in der Materie der Sinnenempfindung von der Art ist, dass es den Trieb bestimmt, nennen wir angenehm, und den Trieb, insofern er dadurch bestimmt wird, den sinnlichen Trieb: welche Erklärungen wir vor der Hand für nichts weiter, als für Worterklärungen geben.
(Sc. Anmerkung 1 *[1] Es sind nemlich, bei der charakteristischen Beschaffenheit endlicher Wesen leidend afficirt zu werden, und durch Spontaneität sich zu bestimmen, bei jeder Aeusserung ihrer Thätigkeit Mittelvermögen anzunehmen, die von der einen Seite der Bestimmbarkeit durch Leiden, von der anderen der Bestimmbarkeit durch Thun fähig sind.“
Wie nebenbei kommt hier FICHTE zu einer neuen Bestimmung der Urteilskraft im Unterschied zu KANT. In deutlicher Unterscheidung zu einer zweigeteilten ästhetischen wie teleologischen Urteilskraft beginnt bei FICHTE die Urteilskraft in der Einheit der Empfindung, insofern die Weiterbestimmung des Triebes nach notwendigen Verstandesregeln erfolgt und „das gegebene Gesetz auf gegebenen Stoff anwendet“. Die Anwendung der Verstandesregeln ist also praktisch bedingt. Im Klartext heißt das, dass eine geistige und praktische und ethisch-sittliche Kraft die sinnliche Wahrnehmung steuert und den Affekt qualifiziert und bestimmt.
Die Weiterbestimmung des Triebes nach Gesetzen der praktischen Freiheit (in den späteren Wln oder z. B. in der SL von 1798 zum expliziten Thema gemacht) hört sich nach der Diktion FICHTES 1793 so an: ( GA I, Bd. 1 oder SW V 18.19)
„Soll von der anderen Seite dieser Trieb durch Spontaneität bestimmbar seyn, so geschieht diese Bestimmung entweder nach gegebenen Gesetzen, die durch die Spontaneität auf ihn bloss angewendet werden, mithin nicht unmittelbar durch Spontaneität; oder sie geschieht ohne alle Gesetze, mithin unmittelbar durch absolute Spontaneität. Für den ersteren Fall ist dasjenige Vermögen in uns, das gegebene Gesetze auf gegebenen Stoff anwendet, die Urtheils|kraft: V19 folglich müsste die Urtheilskraft es seyn, die den sinnlichen Trieb den Gesetzen des Verstandes gemäss bestimmte. — Dies kann sie nun nicht so thun, wie die Empfindung es thut, dass sie ihm Stoff gebe, denn die Urtheilskraft giebt überhaupt nicht, sondern sie ordnet nur das gegebene Mannigfaltige unter die synthetische Einheit.“
Soweit Fichte auf der Ebene der Rezeptivität bleibt, führt die erste synthetische und mediale Bestimmtheit des Triebes zum Begriff des (qualitativ-empfindbaren) Angenehmen (ebd. S 19). Erst durch die Vermittlung im Trieb, d. h. durch diesen Begriff Trieb, der die Idee eines geschlossenen Zusammenhangs sieht, kann eine transzendentallogische Bestimmung der Empfindung z. B. als „angenehm“ gewertet werden.
Man bedenke bereits den haushohen Unterschied zu den empiristischen Erklärungen, wonach „angenehm“ durch die Sinne vermittelt wird, oder womöglich noch durch neuronale Ausschüttungen chemischer Substanzen in den Axionen und Dendriten; dort wird realistisch vorausgesetzt, was aber nur ideal verstanden werden kann.
„Der Qualität nach ist das zu beurtheilende durch die Empfindung unmittelbar gegeben; es ist positiv das angenehme, welches ebenso viel heisst, als das den sinnlichen Trieb bestimmende, und keiner weiteren Zergliederung fähig ist. Das Angenehme ist angenehm, weil es den Trieb bestimmt, und es bestimmt den Trieb, weil es angenehm ist. Warum etwas der Empfindung unmittelbar wohlthue, und wie es beschaffen seyn | müsse, wenn es ihr wohlthun solle, untersuchen wollen, hiesse sich geradezu widersprechen; denn dann sollte es ja auf Begriffe zurückgeführt werden, mithin der Empfindung nicht unmittelbar, sondern vermittelst eines Begriffes wohlthun. Negativ, das unangenehme; limitativ, das indifferente für die Empfindung.“ (ebd. V, S 19. 20)
Es folgen nach der Kategorientafel Kants die weiteren quantitativen, relationalen und modalen Weiterbestimmungen dieses Angenehmen (ebd. S 20), z. B. auch eine transzendental-analytische Bestimmung des Begriffs vom „Glück“ (ebd. S 20).
Der ganze Gedankengang und die qualitative Bewertung des Angenehmen durch den Trieb ist nur so möglich, dass der Trieb selbst aus unserem Begehren durch Spontaneität transzendentalphilosophisch erschlossen ist (nicht nur realistisch festgestellt als „conatus“.) Die Spontaneität darf nicht nur regelhaft und mittels Urteilskraft erfolgen, sondern ist selbst eine „absolute“ (ebd. S 25) und „reingeistige“ (ebd. S 26) Spontaneität.
Durch die Spontaneität und ihrer Wirksamkeit im Willen gibt es eine einschränkende Bedingung eines sinnlich Angenehmen, eine „negative Affection — eine Niederdrückung, eine Einschränkung desselben.“ (ebd. S 25) und der Trieb und die Triebkraft selber wird dadurch differenziert in einen „sinnlichen Trieb“ und einen, nennen wir ihn kurz und allgemein, geistigen Trieb. Fichte argumentiert wie folgt (SW V 25.26)
„Nun aber ist das Empfindungsvermögen, insofern es | V26 blosse Receptivität ist, weder positiv noch negativ durch die Spontaneität, sondern bloss durchs Gegebenwerden eines Materiellen afficirbar; folglich kann die postulirte negative Bestimmung überhaupt nicht die Receptivität betreffen (etwa eine Verstopfung oder Verengerung der Sinnlichkeit an sich seyn); sondern sie muss sich auf die Sinnlichkeit beziehen, insofern sie durch Spontaneität bestimmbar ist (s.oben), sich auf den Willen bezieht, und sinnlicher Trieb heisst. Insofern nun diese Bestimmung auf die absolute Spontaneität zurückbezogen wird, ist sie bloss negativ — eine Unterdrückung der willensbestimmenden Anmaassung des Triebes; — insofern sie auf die Empfindung dieser geschehenen Unterdrückung bezogen wird, ist sie positiv, und heisst das Gefühl der Achtung. Dieses Gefühl ist gleichsam der Punct, in welchem die vernünftige und die sinnliche Natur endlicher Wesen innig zusammenfliessen.“ (ebd. V S 25.26)
Der Trieb wird so zum natürlichen Vermögen der Freiheit.
3) Dies hat jetzt aber noch eine andere Konsequenz, die uns zu den transzendentalen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit führt. Diese Anschauungsformen wurden von KANT zwar genial eingeführt, aber in ihrer Genese aus einem praktischen Streben wurden sie nicht gesehen. Ich gehe hier nur auf die Anschauungsform der Zeit ein:
Die Zeitdimension der Zukunft und damit die zeitliche Gliederung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie entspringt einem praktischen Streben. Streben erweist sich an der theoretischen Fähigkeit, in den Vorstellungen über die gegebenen Empfindungen hinaus zu gehen. Es gliedert unsere Empfindungen und unsere Erfahrung in ein dynamisches und zeitliches Verhältnis. 1
Es ergibt sich ein objektiv überprüfbarer, gefühlter Zusammenhang von Streben und Zeitlichkeit: Der Genuss (als sinnliche Erfahrung, sinnliches Gefühl) ist „Erfüllung einer einzigen Zeit durch einen gewissen Stoff, als Modification des empfindenden Ich“ (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, GA II,2, 197)
Die Modifikation der Freiheit bezieht sich natürlich nicht nur auf sinnliches Angenehmes oder sein Gegenteil, sondern wesentlich auch auf interpersonale Freiheit: FICHTE zählt ein reiches Spektrum von Modifikationen in der PRACTISCHEN PHILOSOPHIE auf, Affekte, wofür die Hirnforschung unerklärliche Substanzen im Gehirn fassbar machen will: Furcht und Hoffnung, Lachen, Staunen, Neugier, Liebe, Hass, Sympathie, Mitleid, Gutsein, Traurigkeit, Abscheu, Freude (PRACTISCHE PHILOSOPHIE, GA II,2, 197f)
Sie werden als Modifikationen des Strebens und Gegenstrebens aufgefasst und werden dadurch objektiv, indem sie auf die Linie der Zeit bezogen werden.
Das Denkverhältnis zur Bestimmung psychologischer Zustände, wodurch wir Punkte in einer Empfindung unterscheiden und beziehen, liegt als Ursache und Wirkung nicht in der empfindbaren Folge selbst, sondern erst durch die Zeitbildung mittels Streben kann die Wirkung als innere Erfahrung bestimmt werden. (Welche Probleme hatte bekanntlich KANT, die „geistige Natur“ der Seele nach formal-mathematischen Anschauungen wissenschaftlich zu messen! )
Wenn der Trieb bereits auf das Angenehme hingeordnet ist, mithin ein sinnliches Gefühl aus dem „Dürfen“ eines höheren Wollens darstellt, – nach der Methode der „negativen Bestimmung“ und einer klassenlogischen Dialektik -, so ergibt sich ein stufenartig aufgebautes, sinnliches wie intelligibles Selbst, ein Schema von Sinn- und Freiheitsverwirklichung. Diese Selbsterkenntnis und freie Selbstbestimmung beginnt mit „vorreflexiven“ Sinneserfahrungen und Sinneserfüllungen in den Gefühlen – und endet in einer materialen „Synthesis der Geisterwelt“ . Den Trieb des Hungers müssen wir stillen; den Sinn des Essens können wir bereits differenzieren; die sittliche Gemeinschaft streben wir frei an.
Endliche und unendliche Sinn-Erfüllung in der Zweiheit eines sinnlichen und eines geistigen Seins sind in dynamischer Weise einander zugeordnet und durch-einander wechselseitig bestimmt in der Einheit und Verträglichkeit eines formalen wie materialen Sittengesetzes.
SW V, S 29 „Wer, der dieses Vergnügen nur einmal innig empfand, möchte nur z.B., das Hinstaunen in den tobenden Sturz des Rheinfalls, oder das Aufblicken an den jeden Augenblick das Herabsinken zu drohen scheinenden ewigen Eismassen, unter dem erhebenden Gefühle: ich trotze eurer Macht*[3] — oder sein Selbstgefühl bei der freien und wohl überlegten Unterwerfung auch nur unter die Idee des allgemeinen nothwendigen Naturgesetzes, dieses Naturgesetz unterjoche nun seine Neigung oder seine Meinung — oder endlich sein Selbstgefühl bei der freien Aufopferung seines Theuersten für die Pflicht, gegen irgend einen sinnlichen Genuss vertauschen? Dass der sinnliche Trieb von einer, und der reinsittliche Trieb von der anderen Seite im menschlichen Willen sich die Wage halten, liesse sich wohl daraus erklären, weil sie beide in einem und ebendemselben Subjecte erscheinen; dass aber der erstere dem letzteren sich so wenig gleichsetzt, dass er vielmehr bei der blos|sen V30 Idee eines Gesetzes sich niederbeugt, und ein weit innigeres Vergnügen aus seiner Nichtbefriedigung, als aus seiner Befriedigung gewährt — dieses, oder mit einem Worte, das Kategorische, schlechthin unbedingte und unbedingbare des Gesetzes deutet auf unseren höheren Ursprung, und auf unsere geistige Abkunft — ist ein göttlicher Funke in uns, und ein Unterpfand, dass Wir Seines Geschlechts sind: und hier geht denn die Betrachtung in Bewunderung und Erstaunen über. An diesem Puncte stehend verzeiht man der kühnsten Phantasie ihren Schwung, und wird mit der liebenswürdigen Quelle aller Schwärmereien der Pythagoräer und Platoniker, wenn auch nicht mit ihren Ausflüssen völlig ausgesöhnt.“
4) In einer systematischen Gliederung der Gefühle können nicht nur die sinnlichen Triebe und ihre Affekte angesprochen werden: Zur Natur und zum Wesen der Reflexivität des Wissens in einem Individuum gehören deshalb notwendig interpersonale, aus der Koexistenz mit anderen Personen entstehende Affekte.
FICHTE zählt folgende auf: Sympathetische Neigungen, Eitelkeit, Ruhmsucht, Selbstliebe, sympathetische Liebe, Klugheit, Geselligkeitstrieb, Streben nach guter Meinung. Die Bewertung und Beurteilung der gesellschaftlichen Triebe, die Notwendigkeit mediatisierter Zeichen, dieses und vieles mehr – sie verlangen nach einer höheren synthetischen Ableitung aus einem höheren Trieb, der immer mehr Form der Freiheit und der freien Aufforderung annimmt. Die letzte Stufen des Triebes müsste dann schon als freie Nach-Gestaltung und Nach-Bildung einer Idee angesehen werden, „Trieb“ müsste hier schon unter Anführungszeichen gesetzt werden, denn natürlich ist die Geschlossenheit seines Sehens durch wirkliche Freiheit aufgebrochen und in eine bestimmte Richtung freier Selbsttätigkeit gelenkt.
5) Worauf ich noch eingehen will: Quasi nebenbei, in der transzendentalphilosophischen Herleitung der Affekte – und wenn man so will, der Ästhetik überhaupt, wenn die Zeitform und Raumform einbezogen wird, zu einer neuen Bestimmung der Gottesidee: Er entgeht nämlich den Widersprüchen einer von Gott zu garantierenden „Glückseligkeit“, wie sie von KANT beschrieben – und von SCHOPENHAUER ziemlich kritisiert worden ist.
Bei KANT bleibt, mit Verlaub gesagt, eine Konfusion: Die Postulatenlehre ist bei ihm nicht wirklich apriorisch und gilt nur bedingt. (vgl. dazu R. LAUTH, Der Sinnbegriff in Kants praktischer Postulatenlehre. In: Transzendentale Entwicklungslinien von Descartes bis zu Marx und Dostojewski, Meiner Verlag, Hamburg 1989 S 123 – 139.)
Nach R. Lauth: Kant hat einerseits die Forderung des Sittengesetzes illegitim ausgeweitet auf den Begriff der Glückseligkeit, insofern die Glückseligkeit apriorisch in der Allgemeinheit der Sittengesetzes liegen müsse. Das Sittengesetz fordert aber nur die völlige Angemessenheit der Gesinnungen, nicht auch die reale Kongruenz des Glücks. Bei aller uns sonst bei Kant begegnenden Abwehr von sinnlichen Neigungen in der moralischen Qualität der Handlung liegt eine seltsame eudaimonistische Doppeldeutigkeit in dem Begriff des „höchsten Guts“ bzw. der Glückseligkeit! Die Glückseligkeit darf zwar nicht Triebfeder des moralischen Handelns sein, aber soll doch, zumindest für das jenseitige Leben, ein Gottespostulat sein? Kommt das nicht einer seltsamen Anthropomorphisierung Gottes gleich?
Andererseits hat Kant die Forderung des Sittengesetzes wieder ungerechtfertigt eingeschränkt. Die Forderung des Sittengesetzes ist total und wendet sich unaufhebbar gegen alle Unsittlichkeit. Wenn die Forderungen des Sittengesetzes, wie von KANT selber aus praktischer Vernunft abgeleitet und postuliert, nicht phantastisch und leer sein sollen, so müssen diese Forderungen erhalten bleiben – und münden in ein berechtigtes Postulat der Existenz Gottes mit einer spezifischen Sinn-Forderung. 2
Das Sittengesetz fordert im Allgemeinen eine Übereinstimmung der sinnlichen Bedingungen mit den sittlichen Bedingungen in der Erscheinungswelt, doch im Einzelfall vermag es sogar eine sinnliche Neigung verbieten. FICHTE zählte dafür einige Beispiele in § 2 der OFFENBARUNGSCRITIK auf – und kommt am Schluss von § 2 nochmals auf die möglich Kongruenz von Sittengesetz und sinnlicher Neigung zu sprechen, die er bei KANT widersprüchlich findet:
„Diese Gesetzlichkeit des Triebes fordert nun die völlige Congruenz der Schicksale eines vernünftigen Wesens mit sei|nem sittlichen Verhalten, als erstes Postulat der an sinnliche Wesen sich wendenden praktischen Vernunft: in welchem verlangt wird, dass stets diejenige Erscheinung erfolge, welche, wenn der Trieb legitim durch das Sittengesetz bestimmt, und für die Welt der Erscheinungen gesetzgebend gewesen wäre, hätte erfolgen müssen. — Und hier sind wir denn zugleich unvermerkt über eine, von keinem Gegner der kritischen Philosophie, soviel ich weiss, bemerkte, aber darum nicht minder sie drückende Schwierigkeit hinweggekommen: wie es nemlich möglich sey, das Sittengesetz, welches an sich nur auf die Willensform moralischer Wesen, als solches anwendbar ist, auf Erscheinungen in der Sinnenwelt zu beziehen; welches doch, zum Behuf einer postulirten Congruenz der Schicksale moralischer Wesen mit ihrem Verhalten, und der übrigen daraus zu deducirenden Vernunftpostulate, nothwendig geschehen musste. Diese Anwendbarkeit nemlich erhellet bloss aus der, von der negativen Bestimmung des Glückseligkeitstriebes abgeleiteten, Gesetzlichkeit desselben für die Welt der Erscheinungen. (SW V, 37.38)
Nach FICHTE ist eine totale, gesinnungsmäßige Übereinstimmung mit dem Sittengesetz gefordert, worin sich sittliche Neigung und sinnlicher Genuss zwar treffen können, aber die zeitliche Erfüllung des Strebens nach Übereinstimmung ist damit nicht gefordert bzw. die zeitliche Nicht-Erfüllung ist noch kein Widerspruch zur berechtigten Forderung des Sittengesetzes und zur Sinn-Forderung. Die Sinn-Forderung ist der reine Gedanke der Seligkeit, der unter endlichen Bedingungen ein Negativkriterium bleibt, weil die Sinnerfüllung in der Konkretion ipso facto keine universelle und absolute Sinnerfüllung sein kann.
Mit dem Postulat der Seligkeit gewinnt aber das Postulat nach der Existenz Gottes in dem Sinne, dass die Idee des Sinns erfüllt werden müsse, d. h. dass der sittlichen Forderung eine göttliche Erfüllung in der Seligkeit entsprechen muss, eine neue Charakteristik: Die (kantisch) postulierte Gottesidee und der Gottesbegriff enthält notwendig die Forderung und Aufgabe, dass es eine sinn-hafte Restitution und Wiedergutmachung von allem Bösen und allem Leid geben müsse. Es ergibt sich ein Überstieg nicht nur zu einer möglichen positiven Offenbarung Gottes, sondern zu einer notwendigen! Offenbarung Gottes.
Aus den Schlusspassagen des § 2 der OFFENBARUNGSCRITIK:
„Werden endlich im dritten Momente der Modalität Recht und Würdigkeit in Verbindung gedacht, in welcher Verbindung das Recht seinen positiven Charakter, als Gesetzmässigkeit der sinnlichen Neigung*[4], und die Würdigkeit ihren negativen, als durch Aufhebung eines Rechts durch ein Gebot entstanden, verliert; so entsteht ein Begriff, der positiv für uns überschwänglich ist, weil alle Schranken aus ihm hinweggedacht werden, negativ aber ein Zustand ist, in dem das Sittengesetz keine sinnliche Neigung einzuschränken hat, weil keine da ist — unendliche Glückseligkeit mit unendlichem Rechte, und Würdigkeit**[5] — Seligkeit — eine unbestimmbare Idee, die aber dennoch durch das Sittengesetz uns als das letzte Ziel aufgestellt wird, und an die wir uns, da die Neigungen in uns immer übereinstimmender mit dem Sittengesetze werden, folglich unsere | Rechte sich immer mehr ausbreiten sollen, stets annähern; aber sie, ohne Vernichtung der Schranken der Endlichkeit, nie erreichen können“ (SW V, 38.39)
6) In der späteren Philosophiegeschichte, so nach K. Hammacher, ist der Trieb oft nur mehr als naturales Kausalgeschehen interpretiert worden. Er bringt eine leise Kritik an FICHTE selbst: FICHTE stellt die in einem Verfahren der „Dialektik“ gebotene Aufgabe des Denkens in den Vordergrund, ferner die Aufgabe im praktischen Sinn, die durch bloße Schlüsse (Syllogismen) ersetzt wird, ferner den Pflichtbegriff KANTS, der aber die sinnliche und intelligible Wertmaterie nicht recht zusammenbringt, sodass eine positive Bestimmung der Affekte in den Hintergrund gerät. Die anfänglich scharfsinnig entworfenen, transzendentalen Ursprungsbedingungen des Triebes in der Selbstbestimmung durch Spontaneität und freien Willen, geraten in Vergessenheit.3
© Franz Strasser, 16. 10. 2016
1Die Vorstellungsfähigkeit ist ebenfalls bereits ein Trieb, wobei der Trieb in der Vorstellung durch die ursprünglich produzierenden Einbildungskraft immer erfüllt und befriedigt wird, sofern eine Anschauung entsteht und in objektivierender Weise abgesetzt wird.
2Zu dieser ganzen Frage der Postulate bei Gott siehe R. LAUTH, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, München 1953.
3Vgl. dazu: Klaus Hammacher, Die Vollendung der WL in einer Affektenlehre. Eine ungenutzte Chance. Fichte-Studien, Bd. 11, 379 – 396.
Ein ausgezeichneter Artikel! Nach der Sicht Hammachers versteht FICHTE diese „Aufgabe“ tlw. nur theoretisch, d. h. als theoretische Forderung (Postulat), einen Ableitungsgrund transzendentallogisch zu finden, anstatt praktisch das Postulat als einzuübende Idee des Verhaltens zu bestimmen. Deshalb Hammachers Ansicht, die WL hätte durch eine Affektenlehre vollendet werden können, wäre sie praktisch-ethisch in den höchsten Prinzipien interpretiert worden. M. a. W. FICHTE bemühte sich – nach Hammacher – zu einseitig um eine transzendentallogische Ableitung und Erklärungsform der Gefühle und Affekte und vernachlässigte die praktische Idee der zu realisierenden Gefühle und des einzulernenden Verhaltens. Er konnte damit nur mehr an die Gefühle appellieren (z. B. in den ANWEISUNGEN), anstatt sie anthropologisch-konstitutiv dem Willen als Voraussetzungen der Freiheit und als eingelernte Übung zugrundezulegen.
Trotzdem ist das Konzept für sich selbstständig und theoretisch schlüssig: aus einer inneren, phänomenologischen Beschreibung des höchsten Affektes (der Achtung oder auch Selbstachtung) kommt FICHTE zu einer transzendentallogisch-systematischen Ableitung und Erklärungsform der Affekte, ferner zu einer inneren Ordnung und rationalen Struktur des affektiven Lebens.