Es wird in den nächsten §§ 4 – 13 ein „Zweites Hauptstück“ eröffnet, „Deduktion der Realität, und Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit“ (ebd. S 62), wobei einzelne §§ nochmals verschieden untergliedert sind. Ein Zeichen dafür, dass sehr genau und akribisch Fichte seine Gedankenführung verstanden wissen will.
Der § 4, „Deduktion eines Gegenstandes unserer Tätigkeit überhaupt“ (ebd. S 74ff) glieder sich in „Vorerinnerung“, „Erklärung“ und „Beweis“.
Es ist ein höchst interessantes und ergänzendes Teilstück zu den Prinzipien der WL selbst, wie in den §§ 1- 3 im Begriff einer absoluten Selbsttätigkeit, d. h. im Begriff der Ichheit, schon vorgetragen.
Jetzt geht es darum, wie innerhalb dieses „absoluten Ichs“ die Freiheit a) als theoretisches Denkgesetz selbst eingeführt werden kann, welches die ideale Tätigkeit der Intelligenz bestimmt, als auch, wie b) die Freiheit als praktisches Denkgesetz des Willens möglich ist.
M. Quante beschreibt die §§ 4- 7 wie folgt: „In diesem Beitrag werden die zentralen Argumente und Beweisgänge der §§ 4 bis 7 aus Fichtes System der Sittenlehre als Beitrag zur Handlungstheorie analysiert.“1
Meistens kennen wir eine „Handlungstheorie“ aus der Beobachterperspektive inklusiv realistisch vorausgesetzter Zeitfolge, doch Fichte ist hier viel genauer als manche analytische Philosophie: Hier wird a) sowohl die Freiheit als theoretische Möglichkeit einer freien Entscheidung gedacht, sogar wider das Sittengesetz – bei Kant letztlich unmöglich – und b) eine neue Grenze innerhalb der Sphäre der Freiheit bestimmt, d. h. Freiheit als theoretisches wie als praktisches Prinzip. Die Realität und die Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit ist somit durch Freiheit bestimmt, d. h. die Freiheit ist sowohl theoretisch bestimmend – ebenfalls bei Kant nicht vorstellbar – als auch als praktisches Gesetz bestimmend (bzw. auch bestimmt werdend in der ganzen Disjunktivitätseinheit von Denken und Sein).
Die These von der theoretische Bestimmung der Wirklichkeit durch Freiheit finde ich höchst wichtig: Dazu wieder M. Quante: „Fichtes These, dass unsre Freiheit selbst ein theoretisches Bestimmungsprincip unsrer Welt“ (I, 5, 77) ist, lässt sich so verstehen: Das Selbstverständnis des Ich, absolute Selbstbestimmung zu sein, schreibt nicht nur unserer praktischen Vernunft, d. h. dem Wollen, Strukturen seiner möglichen Objekte vor. Vielmehr ist diese Wesensverfasstheit des Ich auch als ,,theoretisches Denkgesetz“ (ebd.) zu begreifen, welches,,die ideale Tätigkeit der Intelligenz“ (ebd.), d. h. des Ich als denkendes und erkennendes Subjekt leitet.“2
Aus dem Begriff der Ichheit der §§ 1-3, als absolute Selbsttätigkeit verstanden, wird jetzt übergangen zu einer Anschauung dieser Tätigkeit. Deshalb die Kapitelüberschrift zu einem 1. Lehrsatz in § 4: „Deduktion eines Gegenstandes unserer Tätigkeit überhaupt“. (ebd. S. 74) „Erster Lehrsatz: Das Vernunftwesen kann sich kein Vermögen zuschreiben ohne zugleich etwas außer sich zu denken, worauf dasselbe gerichtet sei.“ (ebd. S 74)
Von einer Analyse eines höchst allgemeinen Vermögensbegriffes zu einem besonderen Vermögensbegriff wird somit übergegangen, aufgeschlüsselt, wie gesagt, in „Vorerinnerung“, „Erklärung“, „Beweis.“
Der Begriff der Freiheit wird zunehmend deutlicher und sichtbarer durch einen Begriff des „Denkens“ (ebd. S 76.77). In einer „absoluten Synthesis des Denkens“ (ebd. S 77) wird Freiheit vorausgesetzt, die aber damit ebenso bedingt ist in diesem Denken. Diese Bedingheit oder Wechselseitigkeit in einem Bedingtsein erschließt uns jetzt wiederum einen Zusammenhang des Denkens eines „Vermögens“:
Dazu wieder M. Quante: „Dieser Zusammenhang (sc. zwischen Begriff der Freiheit und seine Bedingheit) ergibt sich, wie Fichte etwas später ausführt, durch die Bedeutung von „,Vermögen“ (I, 5, 86): Ein Vermögen ist nichts anderes als ein „bloßes Mittel der Anknüpfung“ (ebd.), d. h. des Übergangs vom reinen Denken (Potentialität) in eine davon unterschiedene Wirklichkeit (Aktualität). Anders gesagt: Der Begriff des Vermögens impliziert die Möglichkeit der Aktivierung oder Manifestation und damit den Begriff der „Wirklichkeit“ (ebd.). Dadurch wird auf der formalsten Ebene die Möglichkeit eröffnet, ein vom Ich Verschiedenes, ein ,,Nicht-Ich“ (I, 5, 88) zu denken.“ 3
Die Freiheit kann so anschaulich gedacht und beschrieben werden – nämlich als Wahlfreiheit. (Ebenfalls ein Begriff, der bei Kant eigentlich entfällt, wenn er den Willen als frei unter sittlichen Gesetzen beschreibt, also intelligibel vorbestimmt sieht.)
Jedes Wahlfreiheit führt aber jetzt zur Wechselseitigkeit einer bestimmten Option d. h. zu einer bestimmten Wahl.
S 76 Die Form der Freiheit ist als Wahlfreiheit mit der Objektivität eines Stoffes verbunden.
Was ist die Materie dieser Wahlfreiheit? S 79 Das Vernunftwesen kann keine Handlung als wirklich denken, ohne etwas außer sich anzunehmen, worauf diese Handlung geht. Die Willensfreiheit muss so gedacht werden, als Modifikation der Selbsttätigkeit innerhalb des „absoluten Ichs“.
S 81 Jeder Stoff und Objektivität wird theoretisch immer schon auf eine reelle Wirksamkeit bezogen, ist ein Mittel, sich selbst zu denken. Die reelle Wirksamkeit ist dabei eingeschränkt auf das bloße Formieren. Aber erst durch diese prinzipielle Formieren gibt es Realität und kommt dem Stoff Realität zu – als die reelle Wirksamkeit Beschränkendes und Objektives.
© Franz Strasser, 10. 2. 2021
1Michael Quante, „Alles geht aus vom Handeln, und vom Handeln des Ich“ – ein analytischer Kommentar zu den §§ 4- 7 von Fichtes System der Sittenlehre (1798). Hrsg. v. Jean-Christoph Merle und Andreas Schmidt, Frankfurt a. M., 2015, ebd. S. 57
2M. Quante, ebd., S 57.
3M. Quante, ebd., S 61.
Beim Wort „Vermögen“ und „Möglichkeit“, „Wirklichkeit“ fällt mir unwillkürlich Aristoteles ein, der um dieser Begriffe herum seine Metaphysik aufbaute. Ich finde äußerst bemerkenswert, welchen abstrakten „Vermögens“-Begriff im Allgemeinbegriff Aristoteles bereits gehabt hat! Das „Nicht-Ich“ Fichtes wäre dann der Materie-Begriff bei Aristoteles, aber ebenfalls nur die Quantitabilität eines „ergons“ des Vermögens des Ichs. Ich schaute daraufhin im HANDBUCH DER ONTOLOGIE nach. Ich bringe hier nur zum Vergleich. Von Arbogast Schmid: „Wenn man sich dagegen auf die Aufgabe konzentriere, die etwas erfüllen muss, um ein Haus sein zu können, werde man alle beliebigen, selbst abgelegene Erscheinungsformen als Haus erkennen und dabei auch nur Erscheinungsformen von Häusern auswählen.
Terminologisch fasst Aristoteles dieses Erfüllen einer Aufgabe mit den Begriffen dýnamis (hier nicht ›Möglichkeit‹, sondern ›Vermögen‹, potentia), enérgeia (nicht: ›Wirklichkeit‹, sondern ›wirkliche Tätigkeit<, >Aktvollzug) und érgon (Werk‹, aktiv und als Ergebnis). Diese Begriffe gebraucht er hier nicht als Modalkategorien (der Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit), sie haben vielmehr Bedeutung für die Er- kennbarkeit des Seins von etwas. Denn bereits eine noch vorläufige Meinung über die Aufgabe, die ein Haus erfüllen muss, z. B. dass es schützenden Aufenthalt für Menschen und Sachen bietet (Metaphysik 1043a16-18), ist für eine Begriffsbildung hinreichend, bei der man anders, als wenn man sich an die materiellen Elemente oder die Strukturdispositionen hält, alles und auch nur das ermitteln kann, was ein Haus ist, d. h. die notwendigen und zureichenden Bedingungen des Haus-Seins. Sich an dem, was etwas kann und wie es dieses Können ausführt, d. h. begrifflich: sich an dýnamis und enérgeia zu orientieren, heißt also, sich an den Kriterien für das substantielle Sein von etwas auszurichten. >>Alles wird durch das, was es kann und leistet (an seiner dýnamis und seinem érgon) in seinem Sein bestimmt<«, formuliert Aristoteles daher (Politik 1253a23; Meteorologica 390a10–15; De anima 412a19– b9) und erläutert von verschiedenen Aspekten her im- mer wieder, dass die enérgeia, d. h. die Aktivität, die eine bestimmte Potenz verwirklicht, identisch mit der »Seinsheit«< (ousía, Substanz) von etwas ist (Metaphysik 1050b2; 1035b14-17; 1043a17-28; b1-2; 1048a30– 31). (Graeser 1983, 224-225, betont zu Recht, dass Sein für Aristoteles eine Form der Aktivität ist, leitet die Aktivität aber aus der strukturellen Ordnung, statt.“ (Handbuch Ontologie. Hrsg. v. Jan Urbich/Jörg Zimmer, Berlin 2020, S. 33.