Marie-José Mondzain, L’image peut elle tuer?, Paris 2002. Dt. Übersetzung 2006, „Können Bilder töten? (nicht korrekt übersetzt!)
Zufällig stieß ich in „Kunst und Kirche“ 1/2008 auf dieses Büchlein und war davon sehr angetan. Die Autorin verteidigt, durch die Terroranschläge vom 11. 9. 2001 veranlasst, den Wert und die Würde der Bilder, falls man sie nicht manipulativ einsetzt.Es sieht ja durch das „Spektakel der Sichtbarkeiten“ (ebd. S 13) und der Vermarktung der Bilder so aus, als seien die Bilder geradezu Verursacher der alltäglichen Gewalt.
Der Text ist wohl nur als Essay geplant, – „eine kurze Skizze dessen, was heute eine kollektive Hinterfragung des politischen Schicksals unserer Emotionen sein könnte“ (ebd. S 61). Man darf wegen der Kürze wohl nicht die Genauigkeit einer Begründung und einer genauen Analyse erwarten, doch allemal bemerkenswert ist diese, wie möchte ich sagen, liberalistisch, politische Richtung eines Nachdenkens über Ikonik. Der Sinn des Büchleins wird im letzten Abschnitt einsichtig, S 61 – 63.
Die Welt folgt in ihrer Form der Demokratie einem „unerbittlichen Gefolge“, „auf dem die unzuweisbaren Orte eines gemeinschaftlich geteilten Sinns zuerst verraten und dann preisgegeben werden. Das Sichtbare ist ein Markt, der unaufhörlich die Bilder und mit ihnen jede Hoffnung auf Freiheit tötet.“ (ebd. S 61)
Das Bild und das deutende Wort, sie ergänzen sich und gehören zusammen – und vermögen dem Menschen seine Freiheit zu retten. Sie gibt an folgender Stelle eine m. E. treffende Kurzfassung ihres ganzen Anliegens: „Jeder einzelne ist für die Sichtbarkeiten verantwortlich, die er zu sehen gibt, die er zu erkennen gibt und die er teilen will. Bei einer Politik des Sichtbaren geht es nicht darum, Stimmen zusammenzuzählen, sondern der Stimme den Platz zu geben, von dem aus sie sich vernehmbar machen kann, indem sie dem Zuschauer den Platz gibt, von dem aus er seinerseits antworten und sich vernehmbar machen kann.“ (ebd. S 61)
Mondzain verbindet mit ihrer Ikonik, wenn ich es richtig verstanden habe, das politische Anliegen, der Adressierungsmacht der Bilder, also dem Betrachter (oder oft unfreiwilligen Zuschauer) gerade durch die Bilder und das Bild einen je größeren Freiraum und eine Entscheidungsfreiheit wieder zurückzugeben. Ich halte das für legitim und wichtig, ist doch in gewissem Sinne die politische und bürgerliche Freiheit Bedingung einer tieferen Entscheidungsfreiheit – zusätzlich zu den anderen ästhetischen und emotionalen Bedingungen, die Freiheit ermöglichen.
Die Analyse einiger Filme (Parodie auf Hitler von Charly Chaplin, das „Stahltier“, die Konstruktion von Leni Riefenstahl) im II Hauptteil scheint mir zweifellos richtig und erklärt einiges von der Suggestivmacht der Bilder, ihrer Manipulierbarkeit, aber auch ihrer Kraft, den Adressaten eine Freiheit der Stellungnahme wieder zurückzugeben.
Die im I Hauptteil eingeführte Unterscheidung zwischen Inkarnation (als eigentlichen Bildwert) und Inkorporation (am Beispiel der Magie) und Personifikation zeigt sich in diesem II Hauptteil (S 43 – 63) mit dem Titel „Auf dem Schirm inkarnieren, inkorporieren, personifizieren“ in konkreter Anwendung. Die zuvor herausgearbeitete Begrifflichkeit bewährt sich in konkreten Beschreibung.
Aber was ist wirklich die innere Natur des Bildes und wie können wir seinen ontologischen Status offenlegen? Mondzain beruft sich zum Teil auf die christliche Tradition, greift zur Psychoanalyse eines Lacan – und verwendet gerne den Begriff des „Dispositivs“ (ebd. S 21. 34. u. a. ), um a) einerseits den faktischen Missbrauch der Bilder zu beschreiben, andererseits b) die in den Bildern selbst liegende Differenz zu dem, was sie wirklich zeigen, aufzuzeigen.„Um zu verstehen, worin der Macht des Bildes liegt, muss man nicht nur sagen, dass es immer Bild von etwas ist, sondern auch, dass das, wovon es Bild ist, ihm substanziell fremd ist.“ (ebd. S 21) Woher weiß Mondzain das?
Worin die gegenseitige Abhängigkeitsstruktur des Bildes und seines Inhalts wirklich besteht, das wird über die Ebene der „Dispositive“, der mannigfaltigen gesellschaftlichen Diskurse und Machtverhältnisse auseinandergelegt – aber wird damit der Inhalt des Seins des Bildes rein vom Denken her erhellt? Kehrt damit nicht umgekehrt wieder ein relativer, faktischer Maßstab ein? Wenn das, was im Bild erscheint, dem Bild „substantiell fremd“ ist, wie sie sagt, ist das transzendental richtig gedacht? M. E. muss der ursprüngliche Sinn des Gehaltes eines Bildes in der Vorstellung richtig erfasst werden können, sonst gäbe es überhaupt keine Vorstellung. Im weiteren räsonnierenden Denken kann man diesen Gehalt der Vorstellung bezweifeln und verfälschen, aber damit ist die ursprüngliche Erscheinung im Bild der Vorstellung nicht „substantiell fremd.“?
Hier wird es M. E. ziemlich dunkel und eigenartig in der Begründung von Mondzain: Da wird z. B. die Bildlehre eines Gregor von Nyssa in seinem „Der Aufstieg des Mose“ zitiert, aber wie? In psychoanalytischer Weise wird diese Bildlehre nach Lacan gedeutet, als sei das Begehren und die ganze Trieblehre des Menschen verantwortlich, dass er Bilder produziert und Bilder gebraucht (ebd. S 28). Es ist umgekehrt: Der Trieb ist ebenfalls Bild für das Streben und Wollen des Menschen.
Weil sich der Hl. Gregor des Wortes „Begehren“ bedient, kann er so ausgelegt werden? Sollte nicht umgekehrt die Bildlehre selbst den Begriff und den Sinn des Begehrens erklären? Hier tun sich Untiefen einer bloß psychoanalytischen Erklärung des Denkens und Handelns auf, die transzendental gesehen gerade andersherum interpretiert werden müssen! (Siehe z. B. meine Blogs zum Triebbegriff) Der sinnliche Trieb enthält in sich bereits eine Vernunfttendenz – und das Begehren ist eine erste Vorstufe eines vernünftigen Realisierung des Wesens des Menschen. Die Triebhaftigkeit kommt nicht von außen, vom Nicht-Ich des Begehrten – was in weiterer Folge einen Bildbegriff sowieso unmöglich machen würde. Lacan führt, wenn ich das richtig deute, bildhaftes Erkennen und Wollen auf bio-psychische Faktoren zurück, was im letzten nicht denkbar und dogmatisch ist. Leider übernimmt m. E. Mondzain unkritisch diese materialistische Philosophie – und hängt sie auch noch einem Gregor von Nyssa hinauf.
Das zweite wäre, worin ich meine Bedenken habe, b) der Begriff des Dispositivs selbst. Es würde uns hier zu weit führen, näher darauf einzugehen: Diskurse und Herrschaftsverhältnisse, die die Bilder faktisch bestimmten und auslegen – das kann nur eine faktische, empirische Wahrheit ergeben, nicht aber die von sich her sich begründende absolute Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die in der Sichtbarkeit der Bildform (bzw. Ichform der Reflexivität) sich äußert. Die Darstellung im Sinne der Realisierung dieser Erkenntnis der Erkenntnis der Wahrheit – das wäre dann die christliche Inkarnationslehre. Das Absolute verdoppelt sich darin nicht zu einem Bild seiner selbst, sondern im Bildsein sittlich-praktischer und ästhetischer Verwirklichung wird das Gesetz der apriorischen und positiven Offenbarung nachkonstruiert.
E. Mondzain verlässt hier m. E. der Mut, das Dispositiv auf die Erkennbarkeit und Darstellbarkeit der Wahrheit und des Guten hin zu behaupten.
Weil sie das Dispositiv m. E. im materialistischen Sinne nimmt, kann sie eine solche Disposivität das Handeln und Bilden der Freiheit und der Selbstbestimmung nach dem Gesetz der Erscheinung des Absoluten nicht mehr erreichen. E. Mondzain meint es geradezu so, dass das Dispositiv, das in den Weltverhältnissen liegt, den Wahrheitscharakter des Bildseins bestimmen. Das wäre Determination – und widerspräche eigentlich ihrem ersten Anliegen des Freiheitsgewinns durch Bilder.
Umgekehrt aber, weil sie gläubig irgendwie doch noch festhalten will, dass in der Menschwerdung JESU CHRISTI, also in einer ideellen Sinnidee, alle Bilder beschlossen sind, darf, vom Glauben her gesehen, ein solches materielles Dispositiv doch nicht letztes Kriterium der Beurteilung des Seins der Bilder sein. Es scheint mir hier die positive Offenbarung plötzlich auktorial eingeschoben. ?
Im letzten Abschnitt, II Hauptteil, appelliert Mondzain für eine menschliche und politische Botschaft – sehr brilliant, rhetorisch gut – , die „Alterität der Bilder“ nicht zu vergessen, „die die Unsichtbarkeit des Sinns konstruieren“ (ebd. S 62).
Der Sinn, das wäre aber die Frage, wird hier wie konstituiert? Er müsste m. E. eine Einheit von Sein und Sollen ausmachen. Ist er in der politischen Freiheit schon erfüllt? Wie könnte der Sinn des Leidens, der Widersinn des Bösen u. a. transzendentale Fragen und Anforderungen ohne absolute, göttliche Sinnidee in einem konkreten und geschichtlichen Ur-Bild (der positiven Offenbarung) ertragen werden?
„Die Schlachten, die auf den Schirmen geschlagen werden, fordern die Bürger auf, das Sichtbare und das Unsichtbare als ausschlaggebende Einsätze in der politischen Analyse zu denken. Es ist somit dringend erforderlich, die Erziehung der Blicke ernstzunehmen, denn jeder heutige Krieg wird zur Gelegenheit, Krieg gegen das Denken selber zu führen.“(ebd. S 62). Eine richtige, wichtige Botschaft, die sich hier auf der kunsttheoretischen Ebene abspielt – und die Begrifflichkeit eines Fragens nach Freiheit, Entscheidungsfreiheit, moralisch-ethischer Freiheit, generell für jede Bildwelt, aufschließt. Denn alles Sprechen ist ein Sprechen in Bildern, aber gibt es dafür keine prinzipientheoretische Reflexion?
Mondzain behilft sich hier, so scheint mir, mit einem gewissen Dualismus und einer gewissen zirkelhaften Hermeneutik: Zu den Bildern muss das beurteilende Wort nachträglich, kritisch, hinzukommen! Ja natürlich gibt es keine Bilder ohne Beschreibung derselben. Aber jede Beschreibung, sollte sie nicht in der Wahrheit intuiert und intelligiert sein, verwendet ihrerseits wieder Bilder. So dreht sich alles im Kreis. Bilder werden beurteilt durch Worte und Worte beschrieben durch Bilder. In einer ständigen negativen Dialektik halten sich Bild und Wort die Waage: das Bild schränkt das Wort ein mit seinem Potential an Unsichtbarem und umgekehrt schränkt das Wort das Bild ein. Aber dieser Wechsel ist für mich unbefriedigend. E. Mondzain will das Unsichtbare hinter den Bildern retten, m. a. W. das in den Bildern liegenden Freiheitspotential, aber das wird nicht begründet, worin es wirklich liegt. Es wird nur appelliert, den interpersonalen Freiheitsraum eines „gemeinsamen Sehens“ nicht einzuschränken. Was begründet und rechtfertigt das „gemeinsame Sehen“? Ein Terrorist lässt sich von einem gemeinsamen Ethos nicht beeindrucken. Für ihn gibt es kein „gemeinsames Sehen“. Für ihn sind die Bilder der Gewalt gerechtfertigt und populistisch gut zu gebrauchen.
„Das Bild zu denken bedeutet, sich mit dem Schicksal der Gewalt zu beschäftigen. Dem Bild in dem Moment Gewalt vorzuwerfen, in dem der Markt des Sichtbaren sich gegen die Freiheit wendet, bedeutet, dem Unsichtbaren Gewalt anzutun, das heißt, den Platz des anderen bei der Konstruktion eines „Gemeinsamen Sehens“ zu beseitigen.“ (ebd. S 62.63)
Das ist alles humanitär, freiheitlich gedacht, völlig d’accord, aber die Freiheit im Bilden und als Bilden und im Bild eines Bildes ist damit gar nicht erreicht und prinzipientheoretisch nicht begründet.
(c) Franz Strasser 4. Sept. 2014
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Noch ein paar Auszüge:
„Wer würde heute bestreiten, dass das Bild als das Instrument einer Macht über den Körper und den Geist gesehen werden kann? Diese Macht, die in den zwanzig Jahrhunderten des Christentums als befreiend und erlösend verstanden wurde, wird gegenwärtig verdächtigt, ein Instrument von Entfremdungs- und Herschaftsstrategien zu sein.“ – (ebd. S 11)
Es waren die christlichen Denker des Bildes (ebd. S 12), die das Bild zu einem philosophischen und politischen Streitpunkt machten. Es wurde mit gleicher Gewaltsamkeit verboten wie gerühmt.
Das Bild will das Unsichtbare sichtbar machen. „Das war der Sinn der Inkarnation, die einem Bild Fleisch und Körper gab, indem sie ihm die Macht zuwies, zur Unsichtbarkeit seines göttlichen Vorbilds zu führen.“ (ebd. S 12)
„Mit der Inkarnation kam es in der griechisch-lateinischen Kultur zu einer neuen Definition des Bildes, die zur ikonischen Matrix aller gemeinsamen Sichtbarkeiten wurde. Es entstand eine gemeinsame Welt, die ihre Kultur als einen artikulierten und simultanen Umgang mit dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren definierte.“ (ebd.)
Das Bild der Passion Christi wurde zur Passion des Bildes. (ebd.)
„Die Geschichte der Inkarnation ist die Legende des Bildes selber.“ (ebd. S 13.)
Jetzt, so Mondzain, ist die „seltsame Besorgnis“ aufgetreten, dass das Bild uns zur „Nachahmung“ anstiften könnte, „und dass der narrative Inhalt des Bildes somit direkt Gewalt ausüben könnte, in dem er eine Handlung auslöst. Früher warf man dem Bild vor, etwas sichtbar zu machen (sc.in der Zeit der Ikonoklasmen), heute beschuldigt man es, eine Handlung (sc. gemeint ist eine gewalttätige) auszulösen.“ (ebd. S 13)
Mondzains These darauf: „(…) dass nämlich eine Inflation von „Sichtbarkeiten“ keineswegs ein Inflation von Bildern bedeutet.“ (ebd., S 13)
Wenn das Bild verdächtig wird, Gewalt auszulösen und ein riesiger Markt der Bilder entstanden ist, so kann man nicht über die Gewalt des Bildes und über das Bild der Gewalt sich Gedanken machen, ehe man nicht weiß, „was ein Bild überhaupt ist?“ (ebd. S 14)
Nach der Schilderung einiger Bilder, die für sich schon zeigen können, dass das Bild selber nicht tötet, schreibt sie: „Diese Ikonen der Furcht und der Lust am Sehen lassen nichts zur ihrer Nachahmung geschehen. Das Problem betrifft also die innere Natur des Bildes und nicht seine narrativen oder referentiellen Inhalt. Die Geschichte der Gewalt kann in keiner Weise von den Bildern getrennt weren, solange man das, was sich in ihnen abspielt, vom Schicksal der kritischen Urteils und des Wortes trennt, also von der Frage, welchen Platz unsere Köper und unser Denken bei der Begegnung mit diesen Objekten einnehmen. Allein das Wort wirkt sich auf die Ökonomie unserer Begierden aus, und das insbesonders in der visuellen Welt, in der man allzusehr zu dem Glauben tendiert, dass das sprechende Wesen hier stumm geworden ist.“ (ebd. S 19).
Am Schluss ihres eindrücklichen Essays kommt sie nochmals auf die das Bild erläuternde Wort zu sprechen, auf eine im Bild liegende „Stimme des Bildes“ (ebd. S 58) – ganz wie JESUS CHRISTUS die Stimme des Vaters (eines anderen) sichtbar machte.
Das Bild ist als Inkarnationsbild zu unterscheiden von der Personifikation, worin eine identitäre Verschmelzung mit etwas angestrebt wird – aber damit den Menschen unfrei machen kann.„Wenn das Bild stirbt, beginnt die Barbarei“ (ebd. S 54).