Dem formal freien Willen in den §§ 4 – 13 der WLnm sind zwei zwei Bedingungen vorgegeben:
a) Die für den Zweckbegriff und Zweckentwurf immer wieder vor-gegebenen Mannigfaltigkeiten in den Sinnengefühlen und
b) die über die Sinnengefühle hinausgehende Bedingung von Sollensgefühlen, wie sie dem reinen Willen selbst entspringen.
Die methodische Rechtfertigung des Überstiegs von der Wechselbestimmung eines freien Zweckentwurfes und dem dazugehörigen Objekt des Gewollten in eine reine Einheit von Wollen und Gewollten, mithin, der Überstieg zu einer Einheit muss deduktiv erfolgen – durch den durch sich selbst bestimmten, reinen Willen.
Die sinnliche und erscheinungsmäßige Vermittlung der Aufforderung, oder m. a. W., die transzendentale Anwendungsbedingung des Wollens im Bereich der sinnlichen Bestimmtheit des Selbstbewusstseins, das führt zur Notwendigkeit einer leiblichen Verfasstheit des Selbstbewusstsein – siehe WLnm §13 und folgende §§.
FICHTE durchdenkt immer wieder diese Dialektik, die im Schweben der Einbildungskraft, oder, was dasselbe meint, im freien Bilden des Ichs, liegt: Im Erkennen der Welt finde ich mich gebunden. Die Welt ist etwas, deren Grund nicht in mir liegen kann und soll, aber ich bin das, wovon der Grund in mir liegen soll. Die Freiheit der Reflexion scheidet sich deshalb von der Welt. Das Anschauen von Welt wird ihm deshalb zufällig, weil das Ich auch handeln könnte. 1
FICHTE differenziert in den Platner-Vorlesungen treffend zwischen einer bloßen Vorstellung und Rezeption (oder Attention) eines Objektes – und davon ist unterschieden das verändernde Handeln auf das Objekt.
In der bloßen Vorstellung ist die Wirksamkeit des Ichs gesetzt und auch nicht gesetzt, d. h. sie ist „bloß“ vorstellend gesetzt. Die Wirksamkeit des Ichs ist eine nachbildende in der Vorstellung.2
Erkenntniskonstitutiv heißt das: Es gibt a) die Freiheit der Reflexion und b) die selbst im theoretischen Erkennen enthaltene, praktische Intention, insofern eine sinnliche Hemmung oder ein Aufruf bereits eine Intention und Tendenz enthält. Die Vernunft ist immer nur die eine Vernunft, die sich in einer natürlich-ästhetischen und in einer praktisch-sittlichen Art und Weise äußert, sich bildet in einem freien wie gebundenen Bilden.
Die Sinnesempfindung wird durch die ursprünglich produzierende Einbildungskraft umgewandelt in die Vorstellung eines Geruchs, eines Geschmacks, eines Tast-Gefühls, in ein Gehörtes und Gesehenes, und weiterverarbeitet in ein Ganzes einer sinnlichen Natur. Die Einbildungskraft dient bereits dem Wollen und der Selbstbestimmung durch Freiheit.
Ich referiere aus einer der R. LAUTH-Vorlesungen: Wir bleiben als Bewusstsein an die Zufälligkeit der Hemmung gebunden. Dass die Hemmungen so oder anders ausfallen und diese Arten der Formen zu klassifizieren erlauben, wie die Naturwissenschaft dann von „Natur- Gesetzlichkeiten“ sprechen, das kann aber nicht mit Sicherheit angenommen werden. In der sinnlichen Natur müsste vielmehr – der Interpersonalbereich noch ganz ausgenommen – ein nicht auf Zwecke ausgerichtetes Substrat angenommen werden, falls man naturalistisch, aber dann nicht begründbar, an einer Substanz festhalten möchte. Aber selbst diese Bestimmtheit der Hemmung wäre ohne Aufgenommensein in das Formensubstrat des Geistes nicht denkbar.
Resümierend gesagt: Nur dank der freien und regulierenden Tendenz der Vernunft werden kategorial verschiedene Stufen der Natur beschrieben: Der anorganische Bereich ist durch die Verstandesformen aufzufassen, der biologische Bereich durch die Formen der reflektierenden Urteilskraft und der geistige Bereich durch nochmals höhere Formen der Zwecksetzungen, wie wir sie Personen zubilligen. Spätestens dort überschreiten wir die physikalischen und biologischen Formen.
Wo sind jetzt genau die Insertionspunkte zwischen sinnlicher Natur und Freiheit? Wo die Grenze zwischen Außenobjekt in der Natur und Vernunft als Immanenz des Sich-Bildens? Dafür sind drei verschiedene Bereiche zu unterscheiden:
a) Der innere Bereich der Vernunft, des Reflektierens, des Vorstellens, der Intelligenz.
b) Der äußere Bereich der Natur, worin eine modale Notwendigkeit besteht. Das was ist, muss zugleich notwendig so sein. Die Bewegung und die Zweckhaftigkeit und die distributive Einheit im Organischen beurteilen wir nach modaler Notwendigkeit.
c) Es sind jene „Objekte“, die fremde Personen sind, von bloßen Tieren und Pflanzen in ihrer Zwecksetzungsmöglichkeit und Absichten zu unterscheiden. Sobald wir Möglichkeiten im Objekt ansetzen, d. h. dass die Bewegung so oder anders hätte ausfallen können, setze ich etwas über die Natur Hinausgehendes an, ein nicht in der Natur selbst liegendes, projektives Zweckdenken. (Das ist für die bloß sinnliche Natur nicht möglich – wie Schelling hier zu weit gegangen ist.)
Ausgehend vom transzendentalen Akt des Sich-Bildens der Vernunft liegt im reinen Anschauen und Reflektieren des Ichs ein von einem Gegenwartspunkte ausgehendes Linienziehen, mithin die Zeitvorstellung – und die in Räumlichkeit sich verbreitende Gleichzeitigkeit mehrerer Setzungen.
Es gibt nicht nur eine verstandliche, logische Grund-Folge-Ordnung, sodass notwendig (modal notwendig oder fakultativ-notwendig) eine Setzung zur anderen führt, sondern ebenso notwendig und konstitutiv muss für das Bewusstsein eine appositionelle Ordnung vorausgesetzt werden, die durch Zeit und Raum gebildet wird. Speziell im bereits angesetzten Substrat einer sinnlichen Natur und einer dazugehörenden Naturlehre muss, wie R. LAUTH es nennt, vom Linienziehen (bei sinnlichem Substrat) übergegangen werden zu einem „Deklinieren“ 3 als grundlegende, erste Handlungsweise des Bewusstseins.
Das Linienziehen im Deklinieren ermöglicht, dass Objekte in einen Raum hineingestellt werden, und sie damit zugleich den Raum aufbauen. Die notwendige Bedingung der Möglichkeit des Deklinierens setzt dabei a) eine Faktizität der Hemmungen voraus und generell b) eine Mannigfaltigkeit der Hemmungen.
Das heißt aber nicht, dass diese Hemmungen jemals außerhalb des Bewusstseins angesetzt werden könnten! Es kann zwar nicht die spezifische Reihe der auftretenden Hemmungen abgeleitet werden, aber jede Bestimmung der Hemmungen wird durch apriorische Bedingungen des Erkennens und Handels geordnet. Das beginnt mit der Erstellung einer Zeitreihe, wodurch die Hemmungen nachgeordnet gesetzt werden, ferner werden sie räumlich koexistent (nebeneinander) gesetzt, ferner durch Kategorien des Verstandes weiterbestimmt. Bei den Hemmungen wird dann unterschieden, ob es sich um anorganische Materie oder organisches Leben handelt, schließlich wird das anorganische und organische Sein eingeordnet in einen natürlichen Zusammenhang, und wiederum wird die ganze Natur in einen deduktiven Vernunftzusammenhang zusammengestellt, oder anders gesagt, sie wird als ein teleologisches Ganzes zwecks Möglichkeit von Freiheit und sein sollender Realisierung von Werten und Gehalten zweckhaft begriffen.
Diese Deklination in der Reflexion kann noch genauer analysiert werden:
a) Indem die freie Reflexion bestimmt wird, muss sie selbst, als Bedingung der Möglichkeit ihrer Reflexion, bestimmen und wählen können, d. h. deklinieren können. Nicht abstrakt, sondern wirklich wählen können. Das heißt praktisch wählen und bestimmen können, sich bilden können in Hinsicht des einfachen Bildens, d. h. in der Wirklichkeit wählen können.
b) Wenn wir wirklich wählen können sollen, muss es eine wirkliche Alternative geben. Wenn nur eine einzige, bestimmte Hemmung in uns fallen würde, müssten wir sie passiv über uns ergehen lassen, abgesehen davon, dass wir die Hemmung nicht als solche im Unterschied zu anderen bestimmen könnten.
c) Wenn wir eine Alternative realisieren sollen, heißt das, dass wir zwischen wirklichen Alternativen auswählen können müssen. Wir müssen notwendig die Möglichkeit haben, Realität umzukonstellieren! Die Hemmung selbst kann dabei nicht aufgehoben werden, aber sie muss umgestellt werden können. In der Möglichkeit des Umstellens und Umreihens liegen die Anfänge des Begriffes der Urteilskraft.
Wir müssen befähigt sein, innerhalb der Wirklichkeit zu selegieren, welche Konstellation an Hemmungen wir heraufführen. Dass wir in der Vorstellung abweichen können von der gegebenen Konstellation zugunsten einer neuen Konstellation, d.h. eine neue Richtung nehmen können, ist diese Möglichkeit der Deklination – und umgekehrt ist das wirkliche Vorhandensein mehrerer Hemmungen Bedingung der Möglichkeit der Deklination.
Dass das Verbreitern (Umkonstellieren) seinerseits möglich ist, verdient nochmals genauerer Analyse: Dies verlangt als Bedingung der Möglichkeit, dass a) die Hemmungen überhaupt in der Zeit nacheinander (appositionell und alternativ) gesetzt werden und b) wir aus dem alleinigen Zwang der zeitlichen Folge austreten können.
Zum Vergleich: ein Tier kann sich zwar auch bewegen, aber es ist durch die je stärkere Hemmung zweckbestimmt determiniert in seiner Bewegung. Der Mensch kann sich im Unterschied dazu frei bewegen, weil er nicht nur determinierende Zwecke kennt, sondern freie Zwecke. Dessen ist er sich bewusst. Die freie Zwecksetzung wird zur Bedingung der Möglichkeit in die Einsicht des reellen Wirken. Es ist letztlich eine Einsicht in das Wollen: 4
Die ganze sinnliche Natur ist ein universelles Ganzes von der anorganischen Materie angefangen bis zur Organisation des Lebens. Die Natur ist notwendiges Korrelat der sittlichen Forderung der Vernunft. Wenn das Wollen sich zeigen soll, in der Erscheinung als reelles Wirkens, a) in einem Sensorium des Linienziehens, b) in einem Motorium des inneren Sinns als Artikulation, schießlich c) in einer Organisation des Lebens, so bedarf es eines besonderen, äußeren Organs. Der Leib ist diese konstitutive Bedingung des erkennenden und wollenden und handelnden Bewusstseins.
Ich kann von diesem Organ (Leib) des freien Selbstbewusstseins im Erkennen und Handeln nicht absehen, als sei der Leib bloß scheinbar zweckgerichtet und handle er bloß regulativ zweckgerichtet, oder als sei er bloß scheinbar lebendig! Denn nur kraft des äußeren Organs (als Ganzes gesehen, als Leib) kann ich der in der Hemmung/im Objekt liegenden Kraft entgegenwirken und frei vorstellen und handeln. Ich brauche einen Ausgangspunkt, wo ich aus meiner Beschränkung hinausgehen kann als Bedingung der Möglichkeit des Wirkens und überhaupt des freien Setzens.
Es ist mit dem Leib ein Punkt innerhalb mehrerer möglichen Linien im Raume gesetzt; ein Anfangspunkt für den inneren Sinn, ein Wirkansatz immanenter Kraft, eine gefundene Freiheit des Konstruierens, absolut in einem Punkte. Das Ich umfasst sich dabei, so wie es sich als Kraft fasst, notwendig als lebend und sich äußernd in einem Momente. Der philosophische (nicht medizinische) Leib ist ein Ganzes sinnlicher (sensorischer) Wahrnehmungsstellen und motorischer Insertionsstellen und bildet als solcher eine Organisation, die von einer distributiven, nicht additiven, Wechselwirkung gesteuert wird. Die aufeinander bezogenen, verschiedenen Sensations- und motorischen und zweckhaften Insertionspunkte bilden eine Mannigfaltigkeit von Anfangspunkten, die mit den Hemmungen kommunizieren, sodass eine lebendige Wechselwirkung zwischen Hemmung/Empfindung und Gefühl in einer distributiven Einheit des Lebens möglich wird.
Diese Anfangspunkte müssen unmittelbar mit den Hemmungen kommunizierend vorgestellt werden, sonst wäre eine reelle freie Wirksamkeit nicht möglich denkbar. Wenn vermittelnde, materielle Instanzen in den Dingen selbst objektivistisch angesetzt würden und der Übergang im Wollen nicht eingesehen werden könnte, ja dann bleiben die offenen Fragen der kognitiven Psychologie oder Neurophysiologie oder der body-mind-Forschung. Aus scheinbaren Messungen und neuronalen Spannungszuständen und Spannungsabfällen soll Bewusstsein abgeleitet werden?! Es bleibt bei diesen Theorien immer ein quid pro quo übrig, eine Explanandum durch ein bereits hineingelegtes Explanans.
Transzendental gesehen ist hingegen definierbar: Der Leib ist Sensorium, Motorium und Organisation des Lebendigen die Synthese von Freiheit und Natur. Er ist die Form der äußeren Anschauung des freien Wollens.
Dazu jetzt ein Zitat aus der Wlnm:
„Eine Materie, die das wollen, die ursprüngliche Kraft selbst – als Materie im Raume (…) ausdrückt – diese ist unser Leib, in wiefern er Werkzeug ist. Er ist die fortdaurende Darstellung unseres Wollens in der materielen Welt. (…) Resultat eines ursprünglichen allem empirischen (cf. selbstbewussten) vorausgehenden wollens.“ (Wlnm, GA IV, 2, § 13 S 155)
Diese Anfangspunkte des Sensoriums und Motoriums und des Lebens sind doppelt zu sehen: für die innere Sinnlichkeit Leib als Punkte der Kraft und der Zwangsgefühle; für die äußere Sinnlichkeit Leib als Punkte räumlicher Gegebenheit und als Ausgangspunkte des Wirkens bzw. Eingangspunkte des Fühlens. 5
(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015
1Vgl. dazu R. Lauth, Naturlehre, 1984, S 81.82. (GA II, 4, S 73). Das weitaus beste aller Bücher zur Naturphilosophie Fichtes, gerade weil R. LAUTH als Herausgeber und Transkribent der Fichteschen Manuskripte ebenso philologisch die beste Kenntnis hat! Als zweites Buch zur Naturphilosophie Fichtes kann ich nur empfehlen: A. Mues, Die Einheit der Sinnenwelt.
2Vgl. Plattner-Vorlesungen GA IV, 1, S 333.
3„Zum reellen Handeln kommt es nun nur dadurch, dass wir nicht an die einander folgenden je einzelnen Hemmungen in der Linie der bloßen Zeitfolge gebunden sind, sondern innerhalb der Zeitlinie Alternativen (nichtzeitlicher) Art) präsent haben.“ (R. Lauth, Naturlehre, S, 86). R. LAUTH nennt das „Deklination„, die Möglichkeit der Verbreitung der Vorstellung auf Koexistenz mehrerer Hemmungen hin (R. Lauth, Naturlehre, 60ff). (Übrigens ähnlich schon bei Epikur nachzulesen).
4Es sei ein Zitat der SITTENLEHRE von 1798 beigefügt, etwa zeitgleich entstanden wie die WLnm: „Wir sind (wenn wir eine reelle Handlung initieren) uns unmittelbar bewusst unsers Begriffs von Zweck, des eigentlichen Wollens; einer absoluten Selbstbestimmung, wodurch gleichsam das ganze Gemüth auf einen einzigen Punkt zusammengefasst wird. Wir werden uns ferner unmittelbar (danach) bewusst der Realität, und (veränderten) wirklichen Empfindung (…). Keinesweges bewusst sind wir uns des Zusammenhanges zwischen unserem Wollen und der (nachfolgenden) Empfindung der Realität des gewollten.“ (FICHTE, Sittenlehre von 1798, GA I, 5, S 78f)
„Was ich wollte, ist, wenn es wirklich wird, Object einer Empfindung. (…) Mein Wollen (ist) sonach in diesem Falle von einem, auf das Gewollte sich beziehenden Gefühle begleitet.“ (ebd. S 79)
5Es sei zum Begriff der Bewegung ein Zitat gebracht. Dieser physikalisch so objektivistisch genommene, theoretische Begriff ist bei weitem nicht nur theoretisch und führt bei weitem nicht zu einem Naturgesetz an sich, sondern ist praktischer Herkunft und Reflexionsidee zur Relationskategorie Substanz und Akzidens. Durch Übertragung des Wollens im freien Linienziehen, im geistigen Vertauschen von Substanz und Akzidenzien, wird die Bewegung gebildet.
Das „physische Wirken (…) ist (…) immer ein concretes einer Linie, nicht discreter Punkte, ist Bewegung. (….) Das Wissen (als Wollen) reisst sich her (…) vom Seyn los.“ (WL 1801/02, GA II, 6, S 298/299.)
Sein Handeln besteht im „Richtung geben. Hier ist das freiseyn absolutes formales Gesez. Zwar, wie das Ich eine Richtung nimmt, fällt es wieder unter das Naturgesez, das der Concretion (d. h. es läuft, wenn kein erneuter Richtungswechsel erfolgt, in der nunmehr vorgegebenen Ordnung nach c, d, e… fort. (…) Die Natur bestimmt (dann) die Intelligenz allerdings, aber (nunmehr) nicht nach ihrem, sondern nach der Intelligenz immanentem Gesetze (weil, diese ja jene Linie gewähl hat.) (…) Inwiefern (nunmehr) die Intelligenz (…) dem Naturgesetze der Concretion sich hingiebt, wie sie allerdings muss, wenn es zu etwas kommen soll, denkt sie (…) sich denn doch in jedem Punkte (…) frei; sie macht daher die NaturReihe – schematisierend, keinesweges erschöpfend – auch zu ihrer eigenen (….) BewegungsReihe“. „Ich habe (nunmehr) (…) einen Naturplan u. -Zwek, den ich (…) verfolge.“ (ebd.)