Dies ist ein Exzerpt aus einer erneuten Lektüre der WLnm, rein aus persönlichem Interesse, getan für’s eigene Denken und Schreiben.
Im Unterschied zu KANTS „Kritik der Urteilskraft“ wird von Fichte aus drei Gründen der Zweckbegriff als konstitutiv für unser Erkennen und Handeln herausgestellt:
1) Einmal für den sittlich-praktischen Bereich. Wir könnten nicht Gut und Böse projektiv ansetzen und implizit auch erkennen, hätten wir nicht diese konstitutive Idee des Zwecks und des Zweckbegriffes. Dies hat gravierende Folgen für eine zukünftige Wertlehre und Ontologie. Eine bloß phänomenologische Wertlehre,d. h. dass die Werte objektivistische vorgegeben wären, kann nicht angenommen werden, ebenso nicht eine existentialistische Wertlehre, dass sie kraft Selbstsetzung des Bewusstseins geschaffen werden.
2) Der Zweckbegriff ist konstitutiv für den naturphilosophischen Bereich. Wir könnten keinen Leib und kein Leben in seinen Funktionen verstehen. Auch die sich unabhängig von einer höheren Teleologie gebärdende Entwicklungstheorie „Evolution“ könnte ohne Rekursion auf den Zweckbegriff bzw. auf eine Selbstbezüglichkeit des Lebens, nicht verständlich sein.
3) Schließlich verwenden wir den Zweckbegriff konstitutiv für die ganze Sphäre des Interpersonalbereiches.
Kant hat in der KdU (1790) den Zweckbegriff in seiner großen Bedeutung und Sinnhaftigkeit herausgearbeitet, aber dann eher verdunkelt mit dem Ausdruck, dass wir ihn „regulativ“ verwenden. Er ist eine subjektive Maxime, weder Naturbegriff noch Freiheitsbegriff, „weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt (…)“
Wie ist das „regulativ“ zu verstehen, wenn nicht letztlich doch wieder anschauungsbezogen und konstitutiv?
„Dieser transscendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objecte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjectives Princip (Maxime) der Urtheilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten.“ (KdU, Einleitung, Ausgabe W. Weischedel, Bd V, 184.)
Eindeutig und klar wird alles bei FICHTE. Ich verweise hier nur beispielhaft auf die WLnm (1796-1799): Diese Wissenschaftslehre mit ihrem zugestandenen realistischen Gegenstandsbereich des empirischen Bewusstseins1, geht von einer Synthesis des Lebens aus, die im aufsteigenden Sinne analysiert wird: Es wird mit einem Zwangs- und Kraftgefühl auf der realen Seite und einem Streben und einem Trieb der Selbstbestimmung auf der idealen Seiten ausgegangen. Analytisch-synthetisch ist alles zweckhaft bereits in einer distributiven Einheit des Lebens geordnet.
KANT verwunderte sich über die Notwendigkeit, eine solche Maxime der Zweckgerichtetheit in die lebendige Natur hineinlegen zu müssen (siehe Zitat oben aus der Einleitung der KdU), deren Rechtsgrund er aber nicht angegeben konnte; von FICHTE her muss umgekehrt gesagt werden, dass ohne konstitutiven Zweckbegriff weder eine Einheit des Lebens in einer sinnlichen Welt, noch die Einheit der intelligiblen Welt im Bereich des Rechts, der Moral und der Religion, möglich wären. Der Zweckbegriff ist überall konstitutive Anwendungsform der Geltungsform „Ich“, sei es für den sinnlichen Bereich, oder für das Begreifen einer Intention und Intelligenz.
KANT kennt nicht die implizit enthaltene praktische Zweckhaftigkeit in der anschauungsgebenden Funktion der Einbildungskraft und bleibt bei einer nur theoretischen Konstitution einer äußeren Welt (in und aus Begriffen), die seltsamerweise sehr zweckhaft gebaut ist.
2) Natürlich kennt Kant in der praktischen Philosophie eine starke „Zwecklehre“ – in der GMS und KpV ausgeführt (und späteren Werken). Dort wird das Vernunftwesen „Mensch“ als „Zweck an sich selbst“ beschrieben. Kant deduziert das aus der Anwendung des „Kategorischen Imperativs“ (abk.=KI) (Wie er allerdings zu dem KI kommt, lässt er unentdeckt.)
a) Die erste Formel des KI lautet: „… handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS, Akad. Ausgabe., IV 421),
b) Weil aber die Form der Materie des Sittengesetzes, d. h. dessen, was wir tun sollen, die Vernunftsubjekte selber sind, sind sie „Zwecke an sich selbst“. Die Freiheit des anderen ist unantastbar, wenn es darum geht, eine plurale Freiheit miteinander zu vereinbaren.
c) Es gäbe dann noch ein dritte Erläuterung des KI – die Lehre von der Autonomie.
Kant stellt fest, dass „vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d.i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist). (Und er begründet weiter:) (…) weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden. (GMS, Akad. A. IV, S 428) 2
3) Die transzendentale Konzeption einer Wirklichkeitserkenntnis ist bei Fichte tiefer begründet und abgeleitet. Die Modalität der Möglichkeit des Sich-Wissens einer Geltungseinheit von subjektiven Erkenntnisbedingungen und objektiver Wirklichkeit bezieht sich nicht zwei-geteilt einmal auf den theoretischen Bereich der möglichen sinnlichen Erfahrung der Natur (KrV), dann auf den zu deduzierenden Erkenntnisbereich objektiver Werte und Anschauungen im Rechts- und Moralbereich (GMS, KpV, MdS), sondern ist ganzheitlicher Ausdruck eines, subjektiv-objektiv handelnden, sittlich-praktischen Vorstellens und Wollens in actu.
Wie das ineinander verflochtene und zusammenspielende theoretische Vorstellen und praktische Wollen und Handeln analysieren und methodisch darstellen?
Ein wesentliches Mittel der Darstellung ist der Zweckbegriff.
In den Argumentationsformen der GWL von 1794/95 verläuft die Begründung und Rechtfertigung des Sich-Wissens dialektisch-abstrakt. Die höchste (analytische) Einheit wird als Einheit wie als disjunktive Unterschiedenheit im Aufzeigen einer implikativen und appositionellen Synthesis der Zeit- und Raumordnung dargestellt. Die Freiheit manifestiert und „repräsentiert“ sich im Übergehen-Können von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit in den Empfindungs- und Anschauungsbedingungen. Freiheit ist ein Sich-Bezug bereits in der theoretischen Vorstellungseinheit von Anschauung und Begriff (§ 4 der GWL) – und dann natürlich unendlich in der praktischen Realisation (§ 5ff);
Die Argumentationsform der WLnm von 1796-1799 verläuft phänomenologisch. Die analytisch-synthetische Einheit des Sich-Wissens wird durch ein aufforderndes Soll (von Ewigkeit her, zeitlos) dargestellt, vermittelt als intelligible Struktur eines „reinen Willens“, der sich verzeitend ausschematisiert in den Selbstbewusstseins-Setzungen der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche wie Natur, Sittenlehre, Rechtslehre und Religionslehre und Geschichte und der Reflexivität des Ichs. Das Verfahren der Analyse und Synthese der höchsten Wissenseinheit ist ein Anwendungsverfahren. Wie und worauf ich die Schematismen in der Geltungsform des Ich zweckhaft anwende, so ergeben sich die Begriffe der Natur (Trieb, Gefühl), des Rechts (andere Freiheit), der Moral (unbedinger und bedingter Pflichten) und der Religion (objektive Bestimmbarkeit). 3
4) In der KrV Kants ist das vorausgesetzte transzendentale Kriterium der Wahrheit und der Einheit die Geltungseinheit gefällter Urteile. Durch die Urteile wird gemäß den vier Kategorien etwas als wahr ausgesagt. Es wird nicht etwas bloß behauptet, sondern nachvollziehbar werden die Erkenntnisbedingungen auf die Gegenstände sinnlicher Erfahrung übertragen in den Schematismen und in den Urteilen. Die Erkenntnisbedingungen sind transzendental wahr einzusehen.4
Fichte, durch mancherlei Skepsis anderer Philosophen (Kant gegenüber) aufgeweckt, sieht die Geltungseinheit der gefällten Urteile nicht für obsolet an, aber erst durch ein praktisches Interesse (durch das „Streben“) ist die modale Wirklichkeit eines existentiellen Werdens und Wollens der ganzen Vernunft vollständig und vollgültig beschrieben, was ist möglich, notwendig, wirklich, zufälllig. Das Transzendentale der Wahrheit ist höher gesetzt – und intentional, zweckhaft vermittelt.
Anders ausgedrückt: Das bei Kant nur im sittlichen Bereiche anzutreffende notwendige Zweckdenken bezogen auf andere Personen, der andere ist notwendig „Zweck an sich“, ist transzendentallogisch ausgeweitet zu einem Zweckdenken der Erkenntnis der Prinzipien der ganzen Wirklichkeit. Die Vorstellungsgesetze der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft sind von sich her zweckhaft gerichtet, sichtbar werdend durch die reflektierende Urteilskraft in theoretischer wie praktischer Funktion.
Bei Kant kommt der Wertbegriff explizit vor im Zusammenhang der „Zwecke an sich“ der anderen Personen (vgl. ebd. Ausgabe Weischedl, GMS, Bd. VII, S 60.61); bei Fichte ist der Wert begründet in der Geltungseinheit einer stets auf einen absoluten Geltungsgrund bezugnehmenden Reflexion. Kein Wunder sozusagen, dass der Zweckbegriff damit eine umfassende Bedeutung in der ganzen Erkenntnistheorie bekommt, nicht nur den Sinn eines regulativ, teleologischen Denkens in der Natur.
Die sittlich-praktische Konstitutionsbedingungen der Erkenntnis sind modal notwendig involviert. Zur genaueren Ausführung – siehe Literatur.5
Eingeschränkt auf den Zweckbegriff in der Naturerfahrung heißt das zum Beispiel, wenn ich R. LAUTH zitiere: „Diese ganze funktionale Teleologie der Naturbetrachtung, die ihre absolute Grenze an der Beschaffenheit der Hemmungen hat, macht die Natur zu einer konkreten Einheit, zu einem zweckmäßig funktionierenden Moment der sich realisierenden Freiheit.“ 6
Nur innerhalb eines absoluten ersten Prinzips – dann ab 1801/02 als Erscheinung des Absoluten begrifflich genauer beschrieben, vorher als „absolutes Ich“ gedacht – kann das Selbst-Bewusstsein sich in seinem Sich-Wissen genetisch begreifen und individuell absetzen und durch die ursprünglich produzierende Einbildungskraft und die Kategorien und Reflexionsideen eine ideale wie reale Reihe des Selbstbewusstseins aufbauen, d. h. eine konstituierte Außen- und Innenwelt, geordnet nach einem zeitlichen Werden (Begriff von Substantialität und Akzidentialität in einem zweckhaften Werden betrachtet), geordnet nach Wirksamkeit (Begriff von Ursache und Wirkung ebenfalls durch den Zweckbegriff gesetzt) und geordnet nach Wechselwirkung von Substantialität und Kausalität (Begriff der Organizität und des Lebens, ebenfalls zweckhaft gedacht.)
Hier in der WLnm ist bewusst die Ableitung des empirischen Bewusstseins angestrebt: Das führt natürlich zu einer gewissen, selbstgewählten Einseitigkeit, d. h. die soziale-interpersonale Welt wird nicht direkt ausgeklammert, aber nicht mehr weiter thematisiert. Indirekt kommt sie vor: Es heißt sinngemäß in § 12 der Wlnm – nach Vorlesungen v. F. Bader: Das reine Wollen, das seinen Rechtsgrund in sich hat, wird zuerst gedacht als ichliche Einheit, als Gedanke meiner selbst, und so werde ich personal individuiert. Der Individuation liegt aber die ursprüngliche Bestimmtheit eines Reiches vernünftiger anderer Wesen zugrunde. Im existentiellen Vollzug meiner selbst werde ich mir a) einer Identität einer sowohl apriorischen Bestimmtheit durch ein Reich vernünftiger Wesen, wie b) einer apriorischen Spezifikation meiner Individualität durch den substantiellen Denk- und Selbstbestimmungsakt der Freiheit bewusst. Im realen Vollzug des Denkens setze ich notwendig, zweckhaft, andere vernünftiger Wesen außer mir an und muss notwendig (zweckhaft) mich selbst aus der allgemeinen Bestimmtheit zu einer individuellen Bestimmbarkeit und Bestimmtheit spezifizieren, will ich mich frei selbst bestimmen.
(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015
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1FICHTE grenzt sich in der Einleitung von beiden einseitigen Sichtweise des Realismus und Idealismus ab [GA IV, 2, 17 – 27] und betont in der „vorläufigen Anmerkung“ [GA IV, 2, 28 – 32] eine transzendental-kritische Einheit des Denkens. Es bleibt aber bei einer realistischen Einseitigkeit – aus Gründen, wie er selbst sagt, weil es ihm um die „Ableitung des empirischen Bewusstseins“ [GA IV, 2, 32 – 266] geht.
2 Siehe dazu sehr gut: Bernward Grünewald, Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und Solipsismus- Vorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs zu seinen Erläuterungsformeln, Würzburg 2004, 183-201.
3Giovanni Cogliandro, Die Dynamik der Fünffachheit in der Wissenschaftslehre nova methodo, in: in: Der transzendentalphilosophische Zugang zur Wirklichkeit. Beitrage aus der aktuellen Fichte-Forschung. (Hrsg von E. Fuchs, M. Ivaldo, G. Moretto). Frommann-Holzboog 2001, pp. 167-198. Dankenswerterweise auch ins Internet gestellt – abgerufen am 11. 12. 2015. – siehe pdf-download: https://www.academia.edu/8239773/Die_Dynamik_der_Fünffachheit_in_der_Wissenschaftslehre_nova_methodo
4Sehr klar dargestellt bei B. Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und Transzendentale Einheit, Würzburg 1988, S 127-167.
5 Siehe dazu z. B. Marco Ivaldo, Sittlicher »Begriff« als wirklichkeitsbildendes Prinzip in der späten Sittenlehre. Fichte-Studien Bd. 32, 2009, 189-201.
6Zur Naturlehre FICHTES siehe das Werk von R. LAUTH, Naturlehre, 1984, oder ebenfalls sehr grundlegend: A. MUES, Die Einheit unserer Sinnenwelt, 1979. Das Zitat ist aus: R. Lauth, ebd., S 160.161.