1) Das zeitliche Werden, das die Evolutionisten in der sinnlichen Natur und in der menschlichen Geschichte metaphysisch, d. h. durch Begriffe, erkennen zu können glauben, endet in einer Rede von Klassifikationen, Taxomierung, historischen Ereignissen, einer Hinterstellung von kausal-mechanischen Abläufen und Naturgesetzen, die aber nicht wirklich zu erkennen sind.
Man steigert sich in hinein in eine Wechselwirkung von energetischen Systemen und emergenten Entwicklungen, die zusammengefasst werden unter dem Abstraktum „Evolution“. Sobald auf diese interpretative Lese- und Redensart eingeschwenkt wird, ist aber m. E. der Boden der natur-kausalen und nachvollziehbaren Erklärungen verlassen und der Reflexionsakt vernebelt. 1
Die transzendentalen Begründungen des zeitlichen Werdens aus den Wissensbedingungen (einer übergreifenden Einheit des Bewusstseins) sind völlig im Dunkeln gelassen, die Reflexion über Zeit und Raum ist objektivistisch hingestellt als handelt es sich beide Male um zwei Behälter oder zwei seiende Anschauungsformen – eigentlich ein Wunder, dass es Zeit und Raum gibt und noch gibt!? Es müsste nach diesem Standpunkt des evolutionären Gewordensein eigentlich alles schon abgestorben oder zuende sein, weil ja keine Erzeugungsquelle, keine ursprünglich produzierende Einbildungskraft und kein substantieller Denk- und Selbstbestimmungsakt für das Denken von Zeit und Raum namhaft gemacht werden können.
Allaugenblicklich neu und spontan, nicht evolutionär gewirkt und angelernt, reagieren wir in unserem gehemmten Streben und erzeugen theoretisch und sittlich–praktisch die Zeit und das Zeitverstehen aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – und erzeugen den Raum und selbstverständlich den gesellschaftlichen und geschichtlichen Rahmen. Eine evolutionär-reale oder evolutionär-ideale Erklärung, die per se eine Zeit und einen Raum außerhalb des Bewusstseins und der Interpersonalität – für eine Erklärung eines Naturablaufes oder Geschichtsverlaufes – ansetzt, ist selbst keine Erklärung mehr, weil sie sich selbst nicht erkennt.
Mit der WLnm von FICHTE in der fünffachen Reflexionseinheit des erkennenden und tätig-wollenden Ichs gesprochen: Reale und ideale Reihe der Selbstbestimmung, d. h. zeitliche und erinnernde Selbstbestimmung bedingen sich gegenseitig im Schweben der Einbildungskraft – und sind synthetisch vereinigt durch eine apriorische Einheit des Wissens in einer apriorischen Sinnidee und einer sein sollenden Realisierung von Vernunft. Wird diese reflexive Vermittlung der Zeit in der reellen wie idealen Reihe vergessen, in verschiedenen Stufen der Reflexionsideen, vom Anorganischen bis zum Geistigen, kommt es zu naturalen Fehlschlüssen und gesellschaftlichen Zwangssituationen, als würde alles nach Naturgesetzen und Geschichtsgesetzen an sich ablaufen.
Ein einfaches Beispiel einer blinden Reflexionsvergessenheit darf ich bringen: Die angebliche Beherrschung der Atomkraft ist per se nicht ein apriorischer Fortschritt der Vernunft (in der Geschichte), denn welche Einschränkungen an freier Selbstbestimmung sind damit verbunden? Alle künstlerische oder technische Machbarkeit beruht auf sittlich-freien Gesetzen der Selbstbestimmung und verläuft nicht nach notwendigen Gesetzen der Natur oder der Vernunft. Ein Fortschritt im Sinne des Überlebens oder freien Lebens ist keinesfalls notwendig, wie umgekehrt, die Vernunft uns durch ihre Reflexionsmöglichkeit nicht in den Untergang treibt. (Rousseau hatte bekanntlich solche Anwandlungen.) Es liegt immer an unserer Freiheit, wie wir die Gesetze der Natur einordnen und die Gesetze der Gesellschaft und des Geistes regeln.
Die scheinbare Beherrschung der Atomkraft ist absolut geschichtslos, denn der reale Energiegewinn ist ideell gesehen eine schwere Hypothek! Mit welchem Recht entscheidet sich eine Generation für diese Technik mit Folgewirkungen auf Tausenden von Jahren für nachkommende Generationen? Wie soll das gerechtfertigt werden? Und was könnte eine Evolutionstheorie zu dieser praktisch-sittlichen Beurteilung von Atomkraft beitragen, wenn sie einen sittlichen Zweckbegriff und ein sittliches Streben gar nicht kennt, geschweige einen Zweckbegriff im anorganischen oder organischen Bereich?
Eine Evolutionstheorie vermag vielleicht noch an das Gefühl zu appellieren, das Leben zu schützen oder das Überleben zu sichern, doch welchen nachhaltigen Wert und welchen Sinn das hat, kann sie nicht mehr beantworten. Einem Diktator, der die Atombombe in Händen hält und eine momentane Zerstörungswut an sich hat, kümmern diese gefühlvollen Appelle nicht mehr. Das Soll eines apriorisches Maßes von Vernunftstreben und Sinnstreben und Freiheit von allen für alle zu jeder Zeit – das interessiert ihn in einem geistigen Schwächeanfall nicht mehr.
Das Verstehen zeitlicher Bedingungen hängt sowohl a) spontan vom naturgebenen Streben (bei jedem Lebewesen), als auch b) bewusst frei von einem Zweckbegriff, und darüber hinaus, von einem apriorischen Sinnbegriff ab, den die ursprünglich produzierenden Einbildungskraft immer notwendig zu einer realen und idealen Reihe einer zeitlichen Entwicklung aufbaut.
An sich wird nichts in der Natur und entwickelt sich nichts. Nur im zeitlichen Werden des Bewusstseins selbst wird festgesetzt, was Gegenwart, Vergangenheit und Erwartung einer Zukunft heißt – und dieses zeitliche Werden wird übertragen auf die anorganische und organische Natur und auf die gesellschaftliche und geistige Kultur. Weil ich mich durch den Leib notwendig dem biologischen Sein der Natur zugehörig fühle, erkläre ich mir die Natur ebenso geworden wie mich. Aber dass und wie diese wunderbare Symbiose mit der Natur durch meinen Leib geschieht, das deduziere ich aus Gesetzen und Idealformen, die nur in der Vernunft liegen und auf die Natur übertragen werden.
„Der Empiriker will durch die Beobachtung einer Menge Bäume lernen, was ein Baum sey. Ich aber möchte wissen, wie er beim allerersten Baume hätte wissen können, dass dies ein Baum sey, u. nicht – etwa seine Nase.“ (Thatsachen des Bewußtseins, 1813, SW S 433.)
Weil ich zusammen mit anderen und in Ansehung einer sinnlichen Natur und einer subjektiven und objektiven Bestimmtheit mich vorfinde, akzeptiere ich gerne eine ökologische und biologische Sichtweise, akzeptiere ich ein Gewordensein der anorganischen Natur, glaube Homologien in Fossilien und jetzt lebenden Tieren zu erkennen, aber deshalb, weil ich ipso facto einen intentionalen Wert damit verbinde. Dieses Gebirge, dieses Fossil, dieses Weltall, das hat bei aller Unerklärlichkeit und meiner geringen Kenntnis einen stufenartig aufgebauten Sinn. Ich lege durch Reflexionsideen immer schon einen Zweck und einen Sinn in die Natur und Gesellschaft hinein, damit ich sowohl Natur wie Gesellschaft und Geschichte verstehe.
Der Sinn und der Wert kommen aber nicht durch eine subjektive oder objektive Bestimmtheit, oder gar durch evolutionären Prozesse. Das astronomische und ökologische und biologische Sein eines Minerals, einer Pflanze, eines Tieres, oder des Menschen, ist Teil eines größeren Ganzen eines Vernunftzwecks. Ich Individuum, mit meiner kleinen Wahrnehmung und kleinem Wissen, baue eine zeitliche und geschichtliche Reihe des Erkennens auf, ich, ein kaum wahrnehmbarer Teil der Schöpfung, bin zur Vernunft fähig und verstehe mich als Teil eines Ganzes.
In einer „Evolution“ bin ich weder Teil, noch nehme ich eine originäre Schöpfungsstelle ein, denn es gibt weder ein vernünftiges Ganzes noch ein vernünftiges Teil. Die „Evolution“ kennt keine Größe und Schönheit, keine Teilrealisation, kein Bedauern über das Vergehen, keine Freude über das Werden.
2) Zeit und Geschichte, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sie beginnen mit einem elementaren Empfinden, das im Streben bzw. im naturgebundenen Trieb, gefühlt wird. Die ursprünglich produzierende Einbildungskraft tut ihr weiteres.2
K. HAMMACHER schreibt zu diesem Gefühl des Strebens, dass damit kein Irrationalismus in die Philosophie einzieht, sondern die rationale Durchdringung der Wirklichkeit bewährt sich und zeigt sich im Gefühl und als Gefühl. Wir erkennen aber dabei nur die Wirkung des Strebens, nicht die Ursache.
Erst der Wille stellt die Vorstellung jenes Strebens als Empfindung dar – und ist selbst reflektierte Erscheinung. (FICHTE, GA II, 3, 1, 184) Wir erkennen die Wirkung aus dem Zweck, den wir uns gesetzt haben. 3 „Damit spielt aber im Zweckbegriff jene innere Tätigkeit, die das Gefühl anzeigt, mit. Die Wirkung, Kausalität, ist beim Zweck in der Empfindung gegeben, aber nicht als eine tatsächliche Kausalität des Ich auf das Nicht-Ich, sondern als Erhöhung des Strebens. (GA II, 3, 189)
Mit dem Zweckbegriff nehmen wir die Zukunft in das zeitliche Werden auf, sofern wir im Zweck die Wirkung als Ursache vorwegnehmen, und zwar als Wirkung einer bestimmten Ursache. Verstandesbegriffe, Reflexionsbegriffe, schließlich die höchste Reflexionsidee zwischen dem, was ist und wie es sein soll, fließen unweigerlich in unser Erkennen und Denken ein. Evolutiv entstanden oder evolutionär ist hier gar nichts!
Deshalb meine siebte Anfrage: Welche bewusste oder unbewusste Leugnung eines Sinns und verborgene bis offene Gesamtkonzeption steckt hinter der Evolutionstheorie als Ganzes oder in jedem x-beliebigen „evolutionärem“ Beispiel?
Ist es tatsächlich nur theoretische Neugier, konsistente, verstandesgemäße Begriffe und Erklärungen zu finden? Oder steckt hinter der theoretischen Neugier, die prinzipiell nicht zu verwerfen ist, noch ein anderes Interesse oder eine bloß psychologisch zu verstehende Verdrängung? Geht es wirklich um naturale Verstehensprozesse, um paläontologische Deutungen, um geschichtliche Zusammenhänge?
Soll und kann durch eine evolutionäre Erklärung die Selbsttätigkeit der Vernunft und die ganze Freiheit des Menschen unbewusst-bewusst auf ein nur naturbezogenes Maß individueller oder gesellschaftlicher Geltungsansprüche heruntergedrückt werden? Bleiben wir bei der Natur und sonst nichts? Wird damit eine gesellschaftliche Non-Utopie verfolgt, die im Handumdrehen aber erst recht zu gesellschaftlichen Macht- und Geltungsansprüchen führt, angeblich begründet in der Selektion und Mutation der Natur? 4
Sowohl die Mitte der Einheit des Wissen für den sinnlichen Bereich des Verstehens von Natur, als auch das Wissen für den gesellschaftlichen Bereich der Selbstbestimmung innerhalb einer Personengemeinschaft, muss höher gefasst werden als eine realistische oder idealistische These je bieten können. In allem implikativen und apponierenden, d. h. zeitlichen Kausieren, im spontanen wie im freien Reagieren und Agieren, offenbart sich eine Sinn- und Realisierungsforderung, die in der unwandelbaren Geltung einer kategorischen Vernunftforderung und in einer zeitlich-geschichtlichen Sinn- und Wertrealisierung endet. Eine transzendentale Zeit- und Geschichtstheorie vermag dann sehr wohl einen Begriff von Zeit und Geschichte, von Entstehen und Vergehen und einen Begriff von Entwicklung im originären Sinne, zu entwickeln, aber konträr entgegengesetzt zu einer Evolutionstheorie. Sie kennt einen Sinn und einen schöpferischen Plan im Entstehen und Werden, im Gehen und Vergehen.
Eine von selbst ablaufende „Evolution“ naturaler oder gesellschaftlicher Prozesse ist von vornherein unschöpferisch, tot und deterministisch.
© Franz Strasser, 7. 5. 2017
1Die Frage, ob z. B. bloß von einem Wandel von Eigenschaften von Individuen über Generationen hinweg innerhalb einer biologischen Art gesprochen werden soll, von sog. „Kooptionen“, oder doch von neuartigen Entstehung von Organen, Strukturen, Bauplantypen, qualitativ neuen Genen etc., da sind sich Naturwissenschafter uneins. Siehe z. B. download . 05.12.12 Wieviel Evolution ist durch Kooption möglich?
2Vgl. R. LAUTH, Naturlehre 1984, 17 – 23; oder siehe dazu FICHTE, PRACTISCHE PHILOSOPHIE GA II, 3, 183
3Vgl. K. Hammacher, Kategorien der Existenz, a. a. O., S 103.
4Ich denke nur an die eugenischen und rassistischen Theorien des 19. Jhd.; oder derzeit versucht man aus neuronalen Erkenntnissen die freie Selbstbestimmung zu falsifizieren und den Menschen zu „beglücken“. Siehe z. B. Thomashoff, Hans-Otto: Ich suchte das Glück und fand die Zufriedenheit. Eine spannende Reise in die Welt von Gehirn und Psyche. Ariston Verlag 2014.