1) „Im Anfang“ – das ist äußerst schwierig zu bestimmen, weil das im Grunde die höchste Metaphysik verlangt, wie überhaupt der Übergang von der Einheit des Absoluten zur Objektivation einer Erscheinung und eines Ganzen der Schöpfung im Denken und in Begriffen gefasst werden kann.
Wenn es dann wie paukenartig beginnt „Im Anfang“, so baut das bereits auf eine gewisse Vorstellung von Sich-Bilden der Vernunft und dessen Voraussetzungszusammenhang auf – wie es eben dem „Bild Gottes“, als „Mann und Frau“ (Gen 1, 26.27) entspricht.
Diese Voraussetzungszusammenhang eines möglichen Sich-Bildens nimmt hier, wenn ich es transzendental zu verstehen versuche, a) Bezug auf den Begriff der „Wahrheit“, die im wesenhaften Sich-Bilden von Selbstbewusstsein objektivierend vorausgesetzt wird und b) den Begriff der „Liebe“.
J. Widmann hat in der Analyse der transzendentalen Wissensstrukturen anhand der „WL 1804/2“ von Fichte das genauestens dargestellt:
„Der Begriff der Wahrheit ist die erste unmittelbare Darstellung der Wahrheit, und der Begriff der Liebe ist als erste Erfahrung lebendiger Liebe der Anfang aller Erfahrung und aller Erkenntnis von Liebe. Ist aber der Begriff der Wahrheit Bild des Wahrheitsgrundes, so ist er als Anfang von bewusster Wahrheitssetzung zugleich Bewusstwerdung des Uranfangs überhaupt. Das gleiche gilt für den Begriff der Liebe: Ist er Ausdruck für das Leben der ursprünglichen Wahrheitsbildung, so bildet sich im ersten Bewusstwerden der Liebe der Ursprung ihres Lebens ab. Wie Wesen und Sein, so sind Wahrheit und Liebe zwei verschiedene Erscheinungsweisen des selben Urgrundes: sie stellen in ihrem unmittelbaren Zusammenhang den selben Ursprung dar. Gemeinsam ist beiden Begriffsformen das Anfängliche: der Begriff der Wahrheit ist Anfang bewusster objektivierter Wahrheitssetzung und der Begriff der Liebe ist erste Objektivation der Idee von reiner Liebe in der bewusst gewordenen Erfahrung dieser Liebe. Abstrahieren wir von der Besonderheit am Anfänglichen in diesen beiden Bildern der Wahrheit des Urgrundes, so bleibt uns der reine Begriff des Anfangs übrig.“ 1
Es ist also eine Frage des Gesamtzusammenhangs des Schöpfungsberichtes Gen 1, 1 wie das „Im Anfang“ bestimmt werden kann, ausgehend von der zentralen Mitte, dass das Vernunftwesen „Bild“ die Objektivation der Erscheinung der Schöpfung a) überhaupt denken, und b) im konkreten dann in seiner Sinnbestimmung (der Genesis) nachkonstruieren und nachbilden kann.
Es sind diese drei Begriffe der Nachkonstruktion: Wahrheit, Liebe und Anfang. Diese drei Begriffe sind nicht metaphysisch einfach hingesetzt und beziehungslos und willkürlich gesetzt, sondern vermöge des Sich-Bildens des Vernunftwesens sind sie als nachkonstruierbar gesetzt. Nachkonstruierbar müssen diese Begriffe deshalb sein, weil sie nicht vom Absoluten her einfach behauptet sein sollen, sondern von der Freiheit der kontingenten und endlichen Iche.
Das „Im Anfang“ nimmt dabei eine unersetzliche und unbedingte Stellung im transzendentalen Denken der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung ein:
„Die Disjunktionseinheit von Wahrheit und Liebe ist die des absoluten Anfangs der Genesis und projiziert sich in ihrer absoluten Reinheit von allem Bedingten im Bild des reinen und bloßen Begriffs vom Anfang. Für die Erscheinung von Wahrheit und Liebe, die derart anfänglich verbunden sind, können wir darum auch sagen: Wahrheit ist der Anfang von Liebe und Liebe ist der wahre Anfang.“ 2
2) Die Autoren von Gen 1 wollen für ihr Vorhaben der Darstellung einer Wahrheits- und Liebesbeziehung zwischen Gott und Vernunftwesen – in den zahlreichen Schöpfungswerken einzeln dargestellt – eine Evidenz, die einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Sich-Bilden des Vernunftwesens und der Erfahrung der Liebe. Diese Objektivation von Wahrheit, Liebe, Anfang ist die Objektivation eines absoluten Wertes in der Genesis überhaupt bzw. eines konkreten und relativen Wertes im individuellen Nachvollziehen des Sinns der absolute Genesis. Der Wertbegriff vermittelt das Sich-Bilden des Vernunftwesen mit der Evidenz der Liebe.
Dies ergibt aber nochmals eine differenziertes Wert-Verhältnis zwischen absoluter Genesis und zeitlichen Genesen in der Faktizität eines konkreten Ichs. Soll ein faktisches Zeitverhältnis mit Wert- und Sinnbestimmung geschaffen (vorgestellt) werden, so kann das nur durch Nachkonstruktion und Teilhabe an der absoluten Genesis, als schematische Regel der Bestimmung der Anschauung nach dem Begriff der Wahrheit und der Liebe und des Anfangs geschehen. Die zeitliche Teilhabe ist aber damit nicht getrennt von der absoluten Genesis.
Dazu wieder J. Widmann: „Dieser absolute Anfang faktischer Zeit kann vor sich keine faktische Zeit haben, sonst wäre er nicht ihr Anfang. Ebenso wenig kann er selbst vor – im Sinne von außerhalb – der Zeitreihe liegen, sonst wäre er nicht Moment der Zeitreihe. Als Anfang der Zeitreihe ist er nicht nur erstes Zeitmoment der Faktizität, sondern ineins erstes Moment zeitlichen Geschehens. Er muss in seiner anfänglichen Faktizität durchdrungen sein von dem kontinuitätsstiftenden Movens der Zeit – anders würde er nicht zum Kontinuum des Zeitgeschehens gehören. Als Anfang faktischer Zeitgenesis ist er allerdings nicht schon Resultat aus dieser faktischen Genesis; in ihm beginnt erst das Erzeugen von Faktizität überhaupt. So ist er selbst noch nichts fertig Geschaffenes, nicht vollständige Faktizitätsgenesis, sondern nur erstes Teilmoment (Zeit 1) sich verwirklichender Faktizitätsgenesis. (…)“ 3
Das kontinuitätsstiftende Movens ist die Sinnbestimmung der Schöpfung, der unbedingte Wert der Wahrheit und der Liebe, der genetisch in sie hineingelegt – und zugleich frei nachzubilden und zu realisieren im Werden des Sich-Bildens gesetzt ist. Die Genesis ist zeitlos, zeitloser Anfang der absoluten Genesis der gesetzten Wahrheit und der Liebe, und so zugleich durch Erkennen des sich kontinuierenden reinen, heiligen Willens anschlussfähig für die zeitliche Realisierung durch die Freiheit des kontingenten und endlichen Ichs (mit seinem Wollen).
Die transzendental später abzuleitende, interpersonale Faktizitätsgenesis gegenseitiger Ich- und Du-Bildung verbirgt aus Gründen der Diskursivität und Reflexivität diese ursprüngliche, absolute Genesis eines prinzipiellen Anfangs, ist aber Nachkonstruktion des genetischen Anfangs der Schöpfung, anfängliches, faktisches Werden eines Zusammenhangs von Wahrheit und Liebe als Wert.
Gäbe es kein absolutes „Im Anfang“, gäbe es kein zeitliches Anfangen. Gäbe es keine geschlossene Genesis von Liebe und Wert, wäre das anfängliche Sich-Bilden immer ein wertloser Begriff.
3) In das Wort Gen 1, 1 „Im Anfang“ wird oft eine zeitliche Prozessualität hineingelegt, sodass einerseits Gott selbst verendlicht wird und in einer Art Emanation sich mitteilt, oder umgekehrt, die Schöpfung als von Gott ganz losgelöst, ab-solut immanent und a-theistisch (naturalistisch) gesehen wird.
Um die Zeitlosigkeit des „Im Anfang“ – und doch die zeitliche Verbundenheit eines Zusammenhangs von Liebe und Wert in der Schöpfung zu bewahren, wurden verschiedene Sprachbeobachtungen angestellt:
So fand ich zufällig: „Beginn ist nicht Anfang“, wie im Aufsatz von H. Lüssy beschrieben: Mit dem Wort „Anfang“ ist nicht ein zeitlicher Beginn gemeint, sondern ein transzendent-immanentes, zeitloses Verhältnis – siehe online Quelle: „ Gehört nun der Anfang selber auch zur geschaffenen Zweiheit, muss er nicht vielmehr als das Prinzip von allem, was existiert, eines sein? Einer solchen vorsokratisch griechischen Deutung der Schöpfung wehrt die Exegese der Tora, indem sie ernst nimmt, dass der erste Buchstabe darin Bet, eine Zwei ist, nicht Alef, die Eins. – בראשית ברא אלהים את השמים ואת הארץ :Genesis 1, 1 lautet auf hebräisch „bereschit bara elohim et haschamaijim weet haarez“. Die Reihenfolge der ersten Buchstaben der ersten vier Wörter ist demnach: Bet Bet Alef Alef, oder nach dem Zahlenwert: 2 2 1 1. ראשית – reschit, Anfang, ist ein feminines Abstraktum zum Substantiv ראש – rosch, was ›Kopf‹ heißt. Diese Ableitung von einem Substantiv nach Analogie der Adjektivabstrakta ist selten. Als Zeitangabe erscheint das Wort mit vorgestellter Präposition und ohne Artikel: b-, wörtlich demnach: In–Anfang. Solche präpositionalen Zeitbestimmungen stehen in der Regel vor dem Prädikat. Die Wortstellung im biblischen Satz entspricht also der syntaktischen Regel. Soweit zur Wortbildung und Grammatik. Im Talmud wird die Fügung bereschit als ein eigenes Substantiv genommen, das ›Schöpfung‹, ›Urzeit‹ heißt, ferner ›Erstling‹, ›Bestes‹. Jeder dieser Begriffe setzt, ebenso wie der Kopf den Rumpf, eine von ihm abhängige Folge bereits voraus. Der letzte Buchstabe des Worts ת – taw ist der letzte Buchstabe des Alefbets und deutet hier an, dass dem Beginn bereits das Ende innewohnt. Im Beginn steckt, wenn wir die Etymologie von bereschit mithören, demnach der Kopf des Wesens, das nachfolgt, und es wäre untunlich, den Kopf vom Rumpf zu trennen, wie denn – wie Friedrich Weinreb in diesem Zusammenhang pointiert – das Enthaupten eine »sehr prinzipielle Angelegenheit« ist. Dass der ganze Text Genesis 1 hinsichtlich der Reihenfolge feinsinnig verfährt, beweist der Refrain zum ersten Schöpfungstag. Es heißt: Und es ward Abend und ward Morgen: ein Tag (אחד יום – iom echad), nicht »der erste Tag« (das wäre ראשון יום – iom rischon; in rischon steckt rosch, ›Kopf‹), denn die Ordnungszahl würde eine bestehende Reihe bereits voraussetzen.“ Der hebräische Buchstabe „Bet“ als Zwei offenbart sehr schön die transzendentale Differenz zwischen Gott und der Schöpfung, dass das Prinzip der Schöpfung nochmals über der Schöpfung ist, Grund einer Folge, aber nicht verdoppelte Zwei, unendliche Zwei.
Aber damit ist das Problem rational nicht erklärt, wie eine zeitliche Sicht zusammen mit einem zeitlosen Schöpfungsakt bestehen kann.
In transzendental-begrifflicher Beschreibung lässt sich die „Zwei“ des Buchstabens „Bet“ besser fassen: Sobald ich bildlich einen „Punkt“ vorstelle, hier den absoluten Anfang punktuell fassen möchte, geht die Einbildungskraft zu einer Vereinigung der Gegensätze von Punkt und Linie über, sie schwebt im Hin und Her der unterschiedenen, aber nicht wohlunterschiedenen Gegensätze, und vereint sie zu einer appositionellen Synthesis. Die Selbstbezüglichkeit des Wissens wird aber damit im übergehenden Willen zu einer erscheinungsmäßigen, verobjektivierten Reflexion, mithin entsteht eine Verzeitung und Verräumlichung des Punktes.
Der Text Gen 1 wahrt unübertrefflich die Unableitbarkeit des „Punktes“, die Genetisierung der unableitbaren Erscheinung (Schöpfung) aus dem Absoluten – und kennt doch den „procreierenden“ (Wlnm), reinen, prädeliberativen Willen dahinter, der sich in seinem Übergehen öffnet zu einer Verzeitlichung und Versinnlichung und Verobjektivierung – im Bilden der Freiheit auf Basis der Evidenz von Wahrheit und Liebe.
Die stets implikativ zu denkende Grund-Folge-Ordnung der Erscheinung des Absoluten und die appositionelle und initiatorische Aufforderungs- und Aufruf-Ordnung im Sich-Bilden und Werden des Vernunftwesens – die beide aber nicht voneinander zu trennen sind – sie gehen zusammen und ergeben die zeitliche und räumliche Schematisierung dieser Erscheinung, genetisiert aus der Ur-Erscheinung des Absoluten. Der absolute Anfang der Zeit disjungiert sich in die Spontaneität des einmaligen, absolut faktischen Anfangs und in das ursprüngliche Anfangen der Zeitfaktizität und ihrer Folgen.
© Franz Strasser, 15. 10. 2015.
1J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens, 1977, S 208.
2J. Widmann, ebd., S. 208.
3Hervorhebung von mir. Zitat aus J. Widmann, ebd., S. 280.