Vortrag v. März 2007, Torino, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XL (2008), 9- 22.
In der Philosophie kann es wohl keine andere Autorität geben als die der Vernunft. Deshalb wird man auch einem international bekannten Professor D. HENRICH widersprechen dürfen. Obiger Artikel im Wiener Jahrbuch für Philosophie enthält m. E. ein paar grobe philosophiehistorische wie systematische Fehler, die wohl nicht unkommentiert stehen gelassen werden sollten. Oder interessieren solche Themen sowieso niemand mehr, weil diese Spekulationen völlig belanglos und sinnlos sind?
HENRICH begeht einige grobe historische und systematische Fehler:
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HENRICH geht von der Disjunktion Selbstbewusstsein und Gottesgedanke (Begriff von Gott) aus und wie sie einander zugeordnet sein sollen. Allein schon diese Disjunktion und dieser Dualismus ist durch nichts gerechtfertigt und bezeugt nur einen platten Idealismus/Realismus. Dazwischen versucht HENRICH aus einer deduktiven Ordnung des Gottesbegriffes das Subjekt bzw. Selbstbewusstsein zu begründen, aber sachlich ohne einsichtige Begründung, nur dogmatisch behauptend. Ist es nicht dem Ernst der Fragestellung völlig unangemessen zu sagen, dass der Gottesbegriff,, „in seinem Kern leicht zu definieren ist“ (ebd. 10)? Ja, bitte, darum ginge es gerade, wie das Absolute in Einheit mit dem Wissen zu formulieren sei ohne in einen kategorialen oder emanatistischen Begriff vom Absoluten oder in einen bloßen Spinozismus zu verfallen, dass Gott das Ein und Alles sei, „deus sive natura“etc.
Man versteht den Artikel kaum, denn HENRICH kommt ohne interpersonale Beziehung zu Gott aus, ohne Gesetztsein der Erscheinung des Absoluten in einer Offenbarung! Es ist nach ihm so leicht wie nur möglich zu denken, dass das Selbstbewusstsein begrifflich-gründend in Gott besteht. Was das heißt und wie das zu denken ist, das ist für ihn keine Frage. -
200 Jahre nach dem Scheitern des Idealismus von Schelling und Hegel und SPINOZA (seit gut 300 Jahren) gibt es noch immer eine begriffliche Vermittlung zwischen Selbstbewusstsein und Gott? So haben ANSELM oder DESCARTES oder FICHTE das Absolute, bzw. das vollkommene Sein, gerade nicht gedacht! Für HENRICH ist das kein Problem. Man denkt sich das Selbstbewusstsein, d. h. setzt es voraus, man denkt sich den Grund dazu, d. h. setzt ihn voraus, und schon ist die Beziehung gestiftet und die Begründung geschehen. Das Absolute bei Hegel und allen seinen Nachfolgern ist nichts als eine bloße Reflexion, eine leere Abstraktion, dass zu Bedingungen des Reflexionsaktes ermöglicht ist. Der wirkliche Vollzug des Selbstbewusstseins in einer intelligierenden Einsicht, die die anschauliche und begriffliche Erkenntnis erst aus sich disjungierend entlässt, kommt nicht einmal andeutungsweise vor. Es haben sich die Platoniker und Kirchenväter und ein DESCARTES und FICHTE wohl unnötige Mühen gemacht mit ihrer bewussten Begriffsabhaltung – es geht ja viel leichter! Wenn HENRICH auf diesen wenigen Seiten nicht alles niederschreiben kann, was ihm zugestanden sei, so wäre doch eine entschiedene Kritik der bloß begrifflichen Vermittlung zwischen „Selbstbewusstsein“ (ich setzte es unter Anführungszeichen, denn es ist klar unterbestimmt) und „Gott“ dringend angebracht gewesen. In der Transzendentalphilosophie gilt, dass jede Prädikation durch ein anderes und nicht durch das, was prädiziert wird, ausgesagt wird. Wird das Absolute zu prädizieren versucht, wie bei HENRICH, so bleibt bloß eine Negation des absoluten Seins, die durch keinen Begriff zu überwinden ist. (HENRICH meint sogar weiter gehen zu müssen als FICHTE – ebd., 17).
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Ich kann im Rahmen dieses kurzen Kommentars nicht darauf eingehen, wie die Frage zu lösen sei, dass und wie im Selbstbewusstsein der Gottesgedanke zu formulieren sei: a) Durch freie Reflexion darauf in einer implikativen und appositionellen Ordnung und b) durch ein aufrufendes, sich-ergreifen-lassendes Wert-Ergreifen eines höchsten Sinns. Das intelligierende, wertergreifende Einsehen, das göttliche Licht, wie es der Platonismus oder Neuplatonismus beschrieben haben, übersteigt natürlich das rein begriffliche Vermitteln von Selbstbewusstsein und Gottesgedanken.
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Der systematisch auf das Grund-Sein und die Begründung des Selbstbewusstseins aus dem „Gottesgedanken“ abzielende Argumentationsgang – man könnte sagen, der alte Unsinn einer Subjektphilosophie! – bringt ziemlich überhebliche Äußerungen hervor: Da wird ein Wort des JOHANNES-EVANGELIUMS von der Liebe „später in die Form einer philosophischen Theorie überführt“ (ebd. 10), so als könnte dieses Wort erst dank der Reflexions-Philosophen endgültig verstanden werden. Oder noch stärker: Die neuere Philosophie, gemeint ist wohl eine Abart des deutschen Idealismus, hat das Absolute zu ihrem Gegenstand gemacht, zur Grundlage und Grundfrage (ebd. 21), und das Johannes-Evangelium, das in einem frei zitierten Satz von HENRICH eingespielt wird mit dem Wort „Niemand hat den überweltlichen Gott je gesehen“ der Philosophie untergeordnet „Aber in Wahrheit hat schon der Evangelist Johannes einen solchen Gedanken, ohne ihn selbst zu fassen zu können, in Anspruch genommen“ (ebd. 21). Da ist jemand gescheiter als der Evangelist! Erstens geht es im Evangelium gerade an dieser Stelle um die Erscheinungsweise des Absoluten in seinem SOHN, zweitens ist die begriffliche Erkenntnis des Absoluten gerade nicht das „bewusste Leben“ (ebd. 21), von dem ein Hegel oder HENRICH phantasiert haben, drittens wäre es gerade die höchste Aussage des JOHANNES, dass das Absolute interpersonal und in concreto erschienen ist, als Liebe – und das Philosophieren soll über die Liebe hinausgehen können?
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Sobald HENRICH den Begriff Gottes als Grund-Sein des Selbstbewusstseins in Anspruch nimmt, nennt er ihn einen „Grenzbegriff“ (ebd. 12). Dies spielt wohl auf die alte Rede vom „Ding an sich“ und „phänomena“ und „noumena“ bei KANT an, aber in Wirklichkeit nimmt er das intelligible Substrat hinter der Erscheinung der Welt und des Selbstbewusstsein nicht wirklich wörtlich, sondern versteht es aus einem nicht gesagten Grund als mögliche, unverbindliche „Alternative“. Das „noumena“ und das Absolute ist als bloß möglich vorgestellt?
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Philosophiegeschichtlich schmerzlich ist die falsche Darstellung DESCARTES´. Bekanntlich sind bei DESCARTES – ich beziehe mich auf die MEDITATONES III und V und PRINCIPIA I – Selbstbewusstsein und Gottesbegriff untrennbar miteinander verbunden. Es beginnt bei HENRICH bereits mit einer falschen Aufbereitung des Gedankengangs DESCARTES´. Warum greift er überhaupt auf DESCARTES zurück, wenn er ihn sowieso nicht wörtlich nimmt? Missbraucht er den DESCARTES zur Begründung der Subjekttheorie des Bewusstseins? Das Selbstbewusstsein hat nach HENRICH in der Interpretation DESCARTES einen „Vorrang“ (ebd.13). Im Kontext von HENRICH wird diese „Vorrang“ aber völlig anders interpretiert als bei DESCARTES. Die Selbstgewissheit des „ich denke, daher bin ich“ kann erst durch die Gewissheit und Wahrhaftigkeit Gottes gesichert werden (bei DESCARTES), und nicht umgekehrt sichert der Denkakt schon die Gewissheit Gottes. Die Methode des Zweifels ist ein bloßes positives Mittel zur sicheren Erkenntnisgewinnung, eine Analysis, eine Methode der Reduktion, die aber nicht durchgeführt werden könnte, wenn nicht deduktiv die sichere Erkenntnis der Wahrheit und Wahrhaftigkeit („veracitas“) Gottes schon vorausgesetzt würde, aus der genetisch die Gewissheit des cogito und alle andere Erkenntnisse abgeleitet werden. Man lese hier besonders den ersten Hauptteil der PRINCIPIA, worin die Hauptgedanken der MEDITATIONES nochmals ausgeführt sind. Aus der ontologischen Voraussetzung und der gnoseologischen Erkenntnis Gottes kann das weitere Fundament der Erkenntnis abgeleitet werden u. a. auch die Existenz des eigenen Ichs. Darf man das „Vorrang“ des „Ichs“ nennen, wenn alles Selbstbewusstsein und Ich erst aus der „veracitas Dei“ kommt? Der methodische Zweifel, gesteigert bis zum metaphysischen Zweifel, zwingt uns ständig, vom Nichtwissen zum Wissen fortzugehen, um das bloß Vorgestellte, aber sich nicht als wahr Bewährende, auszuscheiden und zur Wahrheit Gottes fortzuschreiten. HENRICH hingegen, kurz gesagt, gibt der Wahrheit Gottes in der realistischen Postulierung eines Selbstbewusstseins, schlicht und einfach keine Ehre. Das widerspricht total DESCARTES und widerspricht der Evidenz und dem Willen zur Wahrheit, der natürlich notwendig ist, wie ANSELM sagen täte: valet cogitare esse.
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HENRICH bastelt ein eigenständiges Selbstbewusstsein. Es tut sich sogar „eine Konkurrenz um den Platz des allerersten (sc. Gott oder das Selbstbewusstsein)“ (ebd. 9) auf. Das ergibt folgenden Alternativen: Die Auflösung des eigenen Selbstseins (wie im Buddhismus) oder Atheismus aus selbstbewusster Freiheit – oder doch eine „Koordination von Selbstbewusstsein und Gottesgedanken“ (ebd. 14.)? Warum sich HENRICH für das letztere entscheidet, bleibt eigentlich unbegründet. Weil der Gedanke des Absoluten „vielmehr alle rationalen Konzepte miteinander vereinigt“ (ebd. 21)? Welche Rationalität ist das – bei dieser vorausgesetzten Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung des Selbstbewusstseins? Diese „Konkurrenz“ – das ist doch kindisch!
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Ich könnte jetzt noch mehr Ungereimtheiten der Interpretation des DESCARTES durch HENRICH anführen. „Für Descartes hat also der Gottesbeweis mit dem Selbstbewusstsein des Menschen so wenig zu tun wie irgendeine andere beliebige mathematische Demonstration – (….)“ (ebd. 14) Das ist glatter Widerspruch! Oder möchte HENRICH sagen, dass DESCARTES den Gottesbeweis wie einen mathematischen Beweis führen wollte und das Selbstbewusstsein dann leider nicht als Quelle der Gotteserkenntnis entdeckt habe wie die Subjektphilosophen des deutschen Idealismus? Abgesehen davon, dass der Mathematiker DESCARTES von den mathematischen Beweisen in Sachen der Metaphysik selber nicht viel gehalten hat (siehe z. B. PRINCIPIA I, Abschnitt 5) – außer das analytische Vorgehen der Mathematik, das er schätzte -, vermag natürlich das denkende Sein, die cogitatio, von sich den Gottesbegriff gerade nicht zu fassen, wenn er nicht schon angeboren wäre (MEDITATION III). Das Denken allein vermag sich nicht zu rechtfertigen; es steht sich als Bilden und Behaupten selbst immer im Wege – und hält einem cartesianischen (metaphysischen) Zweifel nicht stand. Deshalb geht DESCARTES ja bewusst vom denkenden Sein als kontingentem Sein zum absoluten Sein über. Angefangen in den REGULAE 1628, über den DISCOURS 1637, und in reifster Form in den MEDITATONES 1641 und wiederholt in den PRINCIPIAE. Gott ist reiner Akt, vollkommenes Selbstgründen (causa sui) jenseits der Differenz von Sein und Erkennen und ist die klarste Erkenntnis von allem, nicht nur vom Selbstbewusstsein.
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Dass HENRICH meint über FICHTE hinausgehen zu müssen, habe ich schon gesagt (ebd. 17), dabei wäre er gerade z. B. durch die WL 1801/02 gut beraten, wie die Faktizität der Denkgesetze und deren Notwendigkeit nochmals überstiegen und genetisiert werden müssen. Sie könnten uns alle täuschen! Von den Stufen des Aufstiegs zum Absoluten über die intellektuelle Anschauung hinaus zur intelligierenden Einsicht in eine unwandelbare Einheit des Absoluten, wie sie in der WL 1804/2 dargestellt sind – das hat es anscheinend in der Philosophiegeschichte gar nicht gegeben?
HENRICH dämmert schließlich, wie möchte ich sagen, idealistischer Selbstzweifel, „dass es keine Rekonstruktion des Selbstbewusstseins im und aus dem Denken geben kann“ (ebd. 18). Was aber jetzt folgen müsste, wäre ein klares Bekenntnis zum absoluten und unwandelbaren Sein Gottes, aus dem alles Wissen erst genetisiert werden kann. -
Es bleibt ein unverbindliches Wechselspiel zwischen Selbstbewusstsein einerseits und Gottesidee (Gottesbegriff) andererseits. Keine Begründung und Rechtfertigung des Geltungsanspruchs des eigenen Denkens, keine Genetisierung des Wissens aus dem Absoluten, keine deduktive Fassung des Grundes wird geleistet, es wird nur so getan! Wenn die Form des Selbstbewusstseins ein „durch keine Analyse weiter aufzulösendes Faktum“ (ebd. 18) ist, ist also alle Philosophie hier vergeblich?!
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Nachdem er es aber doch unternommen hat, das Grundsein des faktischen Seins des Selbstbewusstseins denken zu wollen, wird schließlich nach einem höheren, synthetischen Prinzip der Einheit von Gott und Selbstbewusstsein gesucht. Es gibt hier eine „Orientierung auf Einheit in drei Weisen“ (ebd. 18)
a) Die Einheit ist der „Grenzgedanke von Gott“ (ebd. 19) und geschieht zuerst im Ausgang von der Welt. Ich weiß dabei nicht genau, befinde ich mich in intentio recta der Weltwahrnehmung und in Gesellschaft der Empiristen, so als gäbe es ein Sein außerhalb des Bewusstseins? Oder reden wir jetzt doch von einer intentio obliqua, einer selbstkritischen Reflexion auf das apriorische Erkenntnisvermögen?
b) Weiters ist die Einheit von Gott und Selbstbewusstein in einem überzeitlichen, begründenden Grundsein zu suchen, dass als „Gründungskraft“ (ebd. 20) ständig die Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein ermöglicht. Ist dieser zureichenden Grund jetzt interpersonal zu denken oder evolutionär oder wie immer?
c) Schließlich hat man eine „rationale Fundierung“ (ebd. 20) erreicht, die auch die Mystik kennt, die Vermittlung zwischen Gott und Selbstsein. Spricht die Mystik wirklich von rationaler Vermittlung?
Für mich sind alle diese Gedankengänge nicht zielführend. Sie werden behauptend eingeführt und geltend gemacht, aber nicht transzendentalkritisch hinterfragt auf die Bedingungen der Wissbarkeit hin.
Oder anders gesagt: Die Unbeschreiblichkeit und Unbegreiflichkeit des Absoluten wird nicht gewahrt; ebenso nicht die Freiheit und das personale Sein auf Seiten des Menschen. -
HENRICH meint mit seinem Ausgang von der Welt und dem so gedachten Grundsein des Selbstbewusstsein und einer irgendwie hineinzunehmenden mystischen Erfahrung den ontologischen Gottesbeweis wieder erreicht zu haben, „auf einer ganz anderen Bahn als seinerzeit Descartes“ (ebd. 21). DESCARTES habe das nicht verstanden, dass die Vergewisserung der Erkenntnis Gottes „nur im Vollzug dieses Lebens selbst gewonnen werden kann“ (ebd. 21). (Den Hl. JOHANNES habe ich schon zitiert – siehe oben, ebd. S 21, er habe, nach HENRICH, das „bewusste Leben“ auch nicht vollzogen oder nicht begriffen!)
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Was soll ein Satz wie dieser bedeuten: „Wir können nicht beweisen, das Gott das Absolute ist“ (ebd. 21)? Entweder ist das völliger Unsinn, oder meint er, dass vom Selbstbewusstsein aus das Absolute nicht erreicht werden kann? Das letztere wäre natürlich richtig, aber gerade das ignoriert Henrich zu Beginn seiner eingeführten Disjunktion Selbstbewusstsein/Gottesbegriff und einer doch bestehenden begrifflichen Relationalität zwischen Gott und Selbstbewusstsein. Oder meint er, nur die praktische Tätigkeit im Gegensatz zum theoretischen Philosophieren und Vorstellen kann „Gott“ erreichen? Warum sagt er das nicht deutlich?
11. 6. 2013 Franz Strasser, Altheim.