SW VII, S 111ff
Zuerst wieder kurzer Rückblick auf den vorigen Vortrag.
Die Oberflächlichkeit sinnlicher Erfahrung und Begreiflichkeit (des dritten Zeitalters) führt von selbst zum Widerspruch und wirft tiefere Fragen auf:
„Nun haben wir schon viel früher in der Hauptübersicht dessen, was wir hier abzuhandeln hätten, erinnert, dass ein solches Zeitalter des blossen nackten Erfahrungsbegriffs und des leeren formalen Wissens schon durch sein Wesen zum Widerstreite gegen sich reize, und in sich selber den Grund einer Reaction seiner selbst gegen sich selbst trage.“(ebd. S . 112)
Die Oberflächlichkeit des Denkens treibt von selbst zur Erfahrung des „Unbegreiflichen“ (ebd. S 112, gesperrt von Fichte).
Um dieses Thema des „Unbegreiflichen“ soll es jetzt gehen. Das kann heißen: a) Ausflucht in die leere Spekulation und Schwärmerei, oder, was der philosophisch berechtigte und notwendige Begriff wäre b) das „Unbegreifliche“ als notwendiger Abschluss aller apriorischen Ideen. Das Unbegreifliche und Unbegriffene hat sogar eine höchst wichtige Funktion – siehe andere Schriften Fichtes.1
„Auch dieses Phänomen,(sc. das Unbegreifliche) sagte ich damals, obwohl es dem dritten Zeitalter geradezu entgegengesetzt zu seyn scheint, gehört dennoch unter die nothwendigen Phänomene dieses Zeitalters, und ist in einer vollständigen Charakteristik desselben nicht aus dem Auge zu lassen.“ (ebd. S. 112)
Die Maxime des dritten Zeitalters, alles begreifen zu wollen, führt von selbst in den Widerspruch, „zur Polemik gegen sich selbst“ (ebd. S. 113). Es ist festzustellen, dass nämlich a) die Anhänger dieser Maxime, das alles begriffen werden müsse, sehr inkonsequent Unbegreifliches offen lassen und b) das Unbegreifliche nicht zum Positiven wenden wollen, wie es dann die Vernunftwissenschaft tut, sprich die WL mit ihrer Funktion des unbegreiflich Absoluten.
Ein „absolut Unbegreifliches“ dürfe es (für dieses 3. Zeitalter) nicht geben (vgl. ebd. S 113), außerdem ist es noch immer eine offene Frage, wie mit dem aus dem Altertum geerbten Gottesbild umzugehen sei, eines noch immer zu fürchtenden, „willkürlich verfahrenden, nie zu errathenden“ Gottes (vgl. ebd.). Dieses Unbegreifliche wurde in der christlichen Kirche sogar als Wahrheit aufgestellt, „ (…) nicht darum, weil es unbegreiflich war, sondern, ohnerachtet es von ungefähr unbegreiflich ausgefallen war, deswegen, weil es in dem geschriebenen Worte, der Tradition und den Kirchensatzungen lag.“ (ebd. S. 113.114)
Wie jetzt umgehen mit dem „Unbegreiflichen“. Die Quelle des Aberglaubens ist versiegt, die Theologie hilft hier nicht weiter, jetzt sucht man durch „Räsonnement“ (ebd. S. 114), „(…) auf dem Wege des freien Denkens, welches aber hier ein Erdenken und Dichten wird,(…)“ eine Antwort auf das Unbegreifliche.
Es kommt jetzt der Hauptbegriff der Charakteristik – die Schwärmerei: „Das Hervorbringen eines Unbegriffenen und Unbegreiflichen durch freies Dichten ist von jeher Schwärmen genannt worden; wir werden daher dieses neue System in seiner Wurzel fassen, wenn wir bestimmt erklären, was Schwärmerei sey, und worin sie bestehe.“ (ebd. S. 114)
Die Schwärmerei wird abgegrenzt zur Vernunftwissenschaft. Was sie gemeinsam mit ihr hat, was sie aber grassierend unterscheidet. (vgl. ebd. S 114.115)
Die Abgrenzung wird weitergeführt: Die Schwärmerei behält viel Unbewiesenes, die Wissenschaft kann und soll die Grenze zum Unbegreiflichen genau bestimmen. Die Evidenz der Erkenntnis legt ja die Grenze der Erkenntnis fest, nicht umgekehrt.
Die Schwärmerei ist eine „blinde Kraft“, „Naturkraft“ (ebd. S. 116). Sie ist als solche abzugrenzen gegen das apriorische Suchen selbst, sowohl in der Naturwissenschaft, in der bei genauer Beobachtung die apriorischen Begriffe gelten, als auch gegenüber der Philosophie, die den Geist des wahren Wissens ja aufstellen soll.
„Diese Einfälle der Schwärmerei, habe ich gesagt, sind weder in sich klar, noch sind sie bewiesen, oder des theoretischen Beweises fähig, auf welchen ja auch durch das Geständniss der Unbegreiflichkeit Verzicht gethan wird; noch sind sie wahr, und darum durch den natürlichen Wahrheitssinn zu bewähren, gesetzt auch, sie fielen in dessen Gebiet.“ (ebd. S. 117)
Alle Schwärmerei, weil sie die apriorischen Regeln des Denkens nicht kennt, wird schlussendlich „Naturphilosophie“ (ebd. S 118).
Die Naturphilosophie sei dabei nicht in genere abgekanzelt: Man kann dort unterscheiden: a) die transzendentale Erkenntnis selbst in der sinnlichen Begier b) die Universalität der Sinnlichkeit bezogen auf die Gattung, nicht auf das Individuum, schließlich c) die apriorische Idee selbst, die wiederum sich zeigen kann d) im persönlichen Leben als „Künstler, Held, Wissenschaftler, oder Religoser“ (ebd. S 119) oder e) als „reiner Gedanke, (…) in seiner absoluten Einheit, (…) die wahre und ächte Speculation ist.“ (ebd.)
Die Schwärmerei begnügt sich aber mit einer bloßen Spielerei von Spekulation, wird „Naturspeculation“ (ebd. S. 120)
Schwärmerei und echte Vernunftwissenschaft lässt sich leicht unterscheiden anhand des Kriteriums: „ob das Vorgetragene auf das Handeln sich beziehe und davon rede, oder ob auf eine stehende und ruhende Beschaffenheit der Dinge. So bezieht sich die Hauptfrage, die ich Ihnen, E. V., vom Anfange dieser Reden an vorgelegt, und auf deren von mir vorausgesetzte Beantwortung die ganze Fortsetzung derselben, als auf ihren wahren Grundsatz baut, – die Frage: ob Sie selber sieh wohl entbrechen könnten, ein ganz an die Idee hingeopfertes Leben zu billigen, hochzuachten und zu bewundern, durchaus auf ein Handeln, und auf Ihr Urtheil über dieses Handeln; und darum wurden Sie zwar über alle sinnliche Erfahrungswelt hinaus erhoben, keinesweges aber wurde geschwärmt.“ (ebd. S. 120)
Wichtig ist Fichte wieder ein Hinweis auf die Religion, dass sie ebenfalls zum Handeln führe, während die schwärmerische Spekulation bloß vom „Mysticismus“ redet (ebd. S 120 u. 121). (…)„in welchem Vorgeben der eigentliche Mysticismus besteht: denn dieses Vorgeben verräth eine eigenliebige Betrachtung des eigenen Werthes und einen Hochmuth auf die sinnliche Individualität.“ (ebd. S 121.
(Fichte offenbart damit indirekt natürlich seine eigene Auffassung von christlicher Religion – womit er m. E. den rechten Begriff verfehlt (siehe andere Blogs von mir), umgekehrt aber berechtigte Dinge einer Religionskritik anspricht: „ Also – die Schwärmerei trägt ausser ihrem inneren, nur von der ächten Speculation gründlich aufzudeckenden Kriterium auch noch das äussere, dass sie niemals Moral- oder Religionsphilosophie ist, welche beide sie vielmehr in ihrer wahren Gestalt inniglich hasset (was sie Religion nennt, ist allemal eine Vergötterung der Natur):“ (ebd. S 121)).
Die Schwärmerei führt „Zauberkräfte“ (Naturkräfte) ein, errichtet ein „Religionssystem“, versucht Gott zu bestechen „(…) , ist ein solches schwärmerisches Zaubersystem, in welchem Gott nicht als der Heilige, von dem getrennt zu seyn schon allein und ohne weitere Folge das höchste Elend ist, sondern als eine furchtbare, mit verderblichen Wirkungen drohende Naturkraft betrachtet wird, in Beziehung auf welche man nun das Mittel gefunden, sie unschädlich zu machen. oder wohl gar, sie nach unseren Absichten zu lenken.“ (ebd. S. 121. 122)
„(…) selber dieses Religionssystem, sage ich, ist ein solches schwärmerisches Zaubersystem, in welchem Gott nicht als der Heilige, von dem getrennt zu seyn schon allein und ohne weitere Folge das höchste Elend ist, sondern als eine furchtbare, mit verderblichen Wirkungen drohende Naturkraft betrachtet wird, in Beziehung auf welche man nun das Mittel gefunden, sie unschädlich zu machen. oder wohl gar, sie nach unseren Absichten zu lenken.“ (ebd. S. 122)
Abschließend gesagt: Das dritte Zeitalter reagiert auf das eigene Ungenügen des oberflächlichen Wissens (von Erfahrung, von verstandlichem Wissen) mit der Schwämerei, sie ist damit nicht „blosse Natur, sondern grösstentheils Kunst.“ (ebd. S 122), was nicht zureicht, wird aber durch „physische Reizmittel“ (ebd. S. 123) zu kompensieren versucht, „(…) ein Mittel, durch welches die Klarheit, Besonnenheit und Freiheit der ächten Speculation, die den höchsten Grad der Nüchternheit erfordert, ohnfehlbar aufgehoben wird, (…)“ (ebd. S. 123).
Es kommen dann noch einige Abgrenzungen zur Schwärmerei, die „eine Art von Zauberei“ (ebd.) ist, und Herausarbeitung von echter Wissenschaft (vgl. S. 124 – 125), ferner eher allgemeine anthropologische Beschreibungen, wie das Vernunftwesen „Mensch“ zu denken und zu studieren beliebt (ebd. S 126-127). Der Abschlusston klingt pessimistisch: „In Summa: dies dürfte wohl der Geist seyn der bestimmten Periode unseres Zeitalters, in welcher wir leben: Das System der allein geltenden nüchternen Erfahrung (sc. das ja die Vernunftwissenschaft begrüßen würde) dürfte im Ersterben begriffen seyn, und dagegen das System einer Schwärmerei, die durch eine vermeinte Speculation die Erfahrung selbst aus dem Gebiete verdrängen wird, das ihr allein gehört, mit allen ihren Ordnung zerstörenden Folgen, seine Herrschaft beginnen, um das Geschlecht, welches das erste System sich gefallen liess, dafür grausam zu bestrafen. (…)“ (ebd. S. 127)
Es ist die gegenwärtige Zeit von Fichte sehr scharfsichtig beschrieben, eine Art „Psychoanalyse“ innerer Probleme. Was hätte er heute gesagt zu Esoterik, Verschwörungstheorien, Fake-News?
© Franz Strasser 22. 2. 2025
1 Auf den Begriff des „Unbegriffenen“ oder Absoluten wird nicht länger eingegangen – wie es aber Hauptfrage war in den vorhergehenden WLn. Zur differenzierten Ableitung Absolutes und Erscheinung – siehe meinen kurzen Kommentar zur 1. Vorlesung von „BdG-1811“.