Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters – fünfte Vorlesung.

GdgZ, Fünfte Vorlesung,  SW Bd. VII, S 64ff

Nach Feststellung des Zieles der Geschichte, alle Verhältnisse des Vernunftwesens nach der Freiheit einzurichten, wird die historische Situation und der historische Zustand des 3. Zeitalters nochmals näher beleuchtet.

1) Dieses 3. Zeitalter ist bedingt durch den „Vernunftinstinct“ der 1. Epoche, ferner durch das Erkennen einiger „einiger weniger Individuen“ (ebd. S. 64), sodass es zur 2. Epoche des Autoritätsglauben kommen musste, und schließlich durch Lossagung und Befreiung von dieser Autorität kam es zur 3. Epoche, zum gegenwärtigen Zeitalter des Erlebens. Diese 3. Epoche ist ebenfalls vorübergehend: „und überhaupt ist die gesammte Zeit zur Darstellung der Idee im klaren Bewustseyn dermalen noch gar nicht vorgerückt.“ (ebd. S 67)

Zuerst nochmals ein Überblick:

Wir bekamen zufolge dieses Grundsatzes fünf einzig und allein mögliche, und das ganze irdische Leben der menschlichen Gattung erschöpfende, Hauptepochen. 1) Diejenige, da die menschlichen Verhältnisse ohne Zwang und Mühe durch den blossen Vernunftinstinct geordnet werden. 2) Diejenige, da dieser Instinct, schwächer geworden, und nur noch in wenigen Auserwählten sich aussprechend, durch diese wenigen in eine zwingende äussere Autorität für Alle verwandelt wird. 3) Diejenige, da diese Autorität und mit ihr die Vernunft in der einzigen Gestalt, in der sie bis jetzt vorbanden, abgeworfen wird. 4) Diejenige, da die Vernunft in der Gestalt der Wissenschaft allgemein in die Gattung eintritt. 5) Diejenige, da zu dieser Wissenschaft sich die Kunst gesellt, um das Leben mit sicherer und fester Hand nach der Wissenschaft zu gestalten; und da durch diese Kunst die vernunftgemässe Einrichtung der menschlichen Verhältnisse frei vollendet und der Zweck des gesammten Erdenlebens erreicht wird, und unsere Gattung die höheren Sphären einer anderen Welt betrifft.“(ebd. S. 65)

2) Fichte kommt zu einer näheren Charakteristik und begrifflichen Analyse der 3. Epoche. Er will die Grundmaxime und ihre Form herausarbeiten – worauf es im Erkennen ja ankommt:

Als erklärter Gegner alles blinden Vernunftinstincts und aller Autorität stellte dieses dritte Zeitalter die Maxime auf: schlechthin nichts gellen zu lassen, als das, was es begreife, es versteht sich unmittelbar, mit dem schon vorhandenen und ohne alle seine Mühe und Arbeit ihm angeerbten gesunden Menschenverstande.“ (ebd. S. 65; Hervorhebung von mir)

Diese 3. Epoche ist gekennzeichnet durch den „Verstand“ (ebd. S. 66, Hervorhebung von mir), als „Maasstab alles eins Denkens und Meinens“ (ebd. S 66)

Die Evidenz der Vernunft hingegen ginge auf die Gattung der Menschheit aus.

Wird allerdings diese Evidenz aufgehoben, „bleibt nichts übrig, als das blosse individuelle Leben“ , der „nackte Egoismus“ (ebd. S 66)

Nochmals der Gegensatz zwischen oberflächlichem Denken und Vernunftdenken: „(…)die bleibende Grundeigenschaft und der Charakter eines solchen Zeitalters ist der, dass jedes ächte Product desselben alles, was es denkt und thut, nur für sich und seinen eigenen Nutzen thue: ebenso wie das entgegengesetzte Princip eines vernunftgemässen Lebens darin bestand, dass jeder sein persönliches Leben dem Leben der Gattung aufopfere; oder, da sich später, in fand, dass die Weise, wie das Leben der Gattung in das Bewusstseyn einträte und in dem Leben des Individuums Kraft und Trieb würde, Idee heisse, – (…)“ (ebd. S 66)

3) Es gibt dann gewisse Sprachverwirrungen und Sprachverdrehungen um die echte Bedeutung, was eine apriorische Idee ausmache (vgl. ebd. S. 68-69). Ebenso wird der Begriff der Individualität differenziert in eine sinnliche, individualistische Form und eine Form einer „idealen Individualität, oder, wie es richtiger heisst, die Originalität“ (ebd. S. 69), die sogar erwünscht und notwendig ist, wenn die wahre, apriorische Idee zum Durchbruch kommen soll.

Es folgt nochmals eine „erweiterte Schilderung“ (ebs. S 70) des 3. Zeitalters: Ihre Maxime ist der Begriff in einem verengten Sinne gesehen, im Sinne eines empiristischen Erfahrungsbegriffes:

(…) dieses Zeitalter ist demnach in seinem eigentlichen und abgesonderten Daseyn Begriff des Begriffes, und trägt die Form der Wissenschaft; freilich nur die leere Form derselben, da ihm dasjenige, wodurch allein die Wissenschaft einen Gehalt bekommt, die Idee, gänzlich abgehet. Wir müssen daher, um das Zeitalter in seiner Wurzel zu fassen, zuerst von dem wissenschaftlichen Systeme desselben reden. In der Beschreibung dieses Systemes werden sich dann auch seine Ansichten der Grundformen der Idee, als nothwendige Theile jenes Systemes, zugleich mit ergeben.“ (ebd. S 71)

Diese Form des Erkennens und Begreifens des 3. Zeitalters gibt sich wissenschaftlich, ist aber bloß ein oberflächliches Wissen und Begreifen, im Unterschied zum Wissen und Begreifen einer wahren und kraftvollen Idee:

Wir heben die Beschreibung des wissenschaftlichen Zustandes des dritten Zeitalters an mit der Schilderung seiner Form, d.h. der beständigen Grundeigenschaften, in welche alles sein Wesen gleichsam eingetaucht ist und in denselben sich bewegt, und leiten diese Grundeigenschaften also ab:

Die Idee, wo sie zum Leben durchdringt, giebt eine unermessliche Kraft und Stärke, und nur aus der Idee quillt Kraft; ein Zeitalter, das der Ideen entbehret, wird daher ein schwaches und kraftloses Zeitalter seyn, und alles, was es noch treibt, und worin es Lebenszeichen von sich giebt, nur matt und siechend, und ohne sichtbaren Kraftaufwand verrichten.“ (ebd. S 72)

Wenn es auch partiell notwendig zu dieser 3. Epoche kommen muss, so ist es nicht allgemein notwendig, wie „dergleichen Männer“ (ebd. S 73) der Antike zeigten, als sie die Mathematik entdeckten und entwickelten.

Wer wirklich eine Idee mitzuteilen hat, in dem „redet oder schreibt (die Idee) in ihm mit aller ihr beiwohnenden Kraft; und nur das ist ein guter Vortrag, wo nicht der Vortragende die Sache vortragen will, sondern sie Sache sich selber ausspricht und in Worte gestaltet durch das Organ des Vortragenden.“ (ebd. S. 74)

4) Ein Zeitalter, das der Idee entbehrt, flüchtet sich in die literarische Form und Aussage eines schlechten „Witzes“ (ebd. S. 74 als „Quelle des Lächerlichen“. (ebd. S 75).

Dies verläuft dann in folgender Weise:

Wie wird es denn also verfahren, – dieses dritte Zeitalter, um seine Art von witzigem Spotte und sein Maass des Lachens an sich zu bringen? Also: – es setzt voraus, seine Wahrheit sey die rechte Wahrheit, und was dieser zuwider sey, sey falsch; denn wenn man das Gegentheil annehmen wolle, so hätten sie ja unrecht, welches absurd ist; hierauf setzen sie in frappanten Beispielen auseinander, wie so ganz ungeheuer die entgegengesetzte Meinung von der ihrigen verschieden sey, und in gar keinem Stücke sich mit ihr vereinigen lasse, – wie wahr seyn mag; lachen darauf zuerst, und es kann nicht fehlen, dass mitgelacht werde, wenn sie sich nur an die rechten Personen gewendet haben. – Nach der beständigen Weise, in wissenschaftlicher Form einherzugehen, wird auch dieses Princip vom Zeitalter bald begriffen und dogmatisch aufgestellt werden, und es wird ein Lehrsatz auftreten, des Inhalts: das Lächerliche sey der Probirstein der Wahrheit; und dass etwas falsch sey, lasse sich, zu Ersparung anderweitiger Prüfung, gleich daran erkennen, wenn man nach der angeführten Methode ihm einen Spass anfügen könne. (ebd. S. 76)

Schlussendlich nimmt Fichte alle seine ZuhörerInnen von dieser Oberflächlichkeit und Seichtigkeit des Denkens aus, beschreibt sogar eine positive Seite und Möglichkeit des Witzes, als „göttlicher Funke, (der nie) herabsteigt zu der Thorheit.“ (ebd. S 77), „denn auch des Witzes ist nur derjenige fähig, welche der Ideen fähig ist.“ (ebd. S 74)

© Franz Strasser, 16. 2. 2025

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser