Von der Unsterblichkeit der Seele, Menon 85d – 86b

1) Es gibt eine schöne Szene im Buch MENON, worin Sokrates beweist, dass jeder Mensch kraft seiner Seele an den ewigen Ideen und an der Unsterblichkeit Anteil haben muss.

Ein Sklave, der einem Menon gehört und bei ihm geboren und aufgewachsen ist, der noch nie etwas von Geometrie oder Mathematik gehört hat, gibt von sich her die richtigen Antworten, wenn er von Sokrates geschickt durch kluges, wissenschaftliches Fragen, befragt wird.

Durch Wieder-Erinnerung d. h. durch ein analysierendes Verfahren, kann jeder Mensch (jede individuelle Vernunft) sich dieses apriorischen Vorwissens bewusst werden.

Wir haben zwar in uns ebenso ein zeitliches Wissen durch Sinneserfahrung und Wahrnehmung, aber das ist sozusagen das sekundäre Wissen. Das ursprüngliche, primäre Wissen ist dieses zeitlose Wissen, woran die Seele Anteil hat. Wenn wir Überzeitliches wissen – wie der Sklave des MENON durch seine Aussagen ja beweist – muss die Seele auch unter diesen überzeitlichen Bedingungen existieren, sonst hätten wir nicht dieses Wissen. Nicht faktisch nachweisbar, aber dem Denken nach notwendig, muss die Seele überzeitlich (und somit unsterblich) sein, weil sie ja Überzeitliches weiß.

Wir stehen zwar unter vielerlei Sinneseindrücken, aber das höhere Wissen ist das apriorische Wissen, das vor aller Zeit immer schon in der Seele ist. Es kann nie gänzlich verloren gehen. Jeder Mensch hat Anteil an diesem Vorwissen, und so kann jeder getrost sein, was du jetzt nicht weißt, das heißt aber, dessen du dich nicht erinnerst, trachten kannst, zu suchen und dir zurückzurufen.“ (Siehe Schluss der Passage.)

2) Das ist natürlich alles Transzendentalphilosophie – und ich gebe hier nur frei ein Seminar mit Dr. BADER wieder: Wir setzen im Wissen stets a) ein uns transzendierendes und b) ein in uns liegendes, immanentes Wissen voraus. Wir sind nicht nur verobjektiviertes Sein, zu klassifizierendes und zu bestimmendes Sein, sondern zugleich Seiendes in Verbindung mit Wissen und selbstbewusstem Wissen. Das apriorische und selbstbewusste Wissen muss dabei ständig in unserer Erkenntnis mitlaufend gedacht werden, wenn wir es auch nicht thematisieren, weil wir sonst überhaupt nichts wüssten und keine Erkenntnis hätten. Wir wüssten ja gar nichts im bestimmten Sinne, wenn wir es nicht von der Einheit des Wissens her und im Lichte der Wahrheit wüssten. Platons Ideen sind diese apriorische Wissensinhalte, die unser sekundäres Wissen und übrigen Wahrnehmungen ständig aktiv konstituieren und begleiten. Wir hätten nicht einmal die kleinsten Empfindungen, wären sie nicht vom Wissen begleitet und im Wissen  gefasst. In jedem alltäglichen Wissensakt ist das apriorische Wissen enthalten. Ich könnte weder ein Einzelnes noch eine Mannigfaltigkeit z. B. von Sinneseindrücken, wahrnehmen, hätte ich nicht den Begriff des Verschiedenen und darauf aufbauend den Begriff des Unterschiedenen und Gemeinsamen. Verschiedene und Unterschiedene treffen sich in einem Minimum der Gemeinsamkeit und einem Maximum der Verschiedenheit und Unterschiedenheit. Es ist stets die Funktion der Einbildungskraft, die uns die Gegensätze zur Anschauung verarbeitet und synthetisiert. Der Verstand tut dann sein Weiteres, um in theoretischer und praktischer Funktion der Einbildungskraft das alltägliche und weitere Wissen aufzubauen.

Das Einheitswissen, das ist die Idee in allem, das muss bezüglich der höchsten Prinzipien a priori sein, zeitlich „vorher“, überzeitlich – und wie in THEAITETOS besonders ausgeführt – auch über-räumlich. Eine punktuelle Wahrnehmung wird als solche nicht gewusst. Erst das übergreifende, überzeitliche und überräumliche Wissen bestimmt das einzelne Wissen. Dieses Wissen des Einzelnen, der Vielfalt, die Mannigfaltigkeit  ist gerade damit kein bloßer Schein, kein Nichts, aber es ist nur in der Einheit des Wissens wirklich. Selbst der Gegensatz, dass z. B. ein A ist nicht gleich Nicht-A, als Widerspruch gesehen wird, wird nur gewusst, weil auch das Gegenteil im Wissen gewusst und zugleich angeschaut wird. Das Nichtseiende ist nur kraft des Seienden (PARMENIDES).

Das apriorische Vorwissen weiß stets mehr als bloßes individuelles Wissen, es ist allgemeines Wissen, zeitübergreifend und überzeitlich, nicht räumlich, ferner dynamisch projektiv und intuierend. Es kann als zeitübergreifendes, nicht räumliches, dynamisch-lebendige Wissen  beschrieben werden, oder mit PLATON gesagt, als Seele, als Teilvollzug des Ganzen der Ideen. 

Diese überzeitliche und damit auch unsterbliche Seele widerspricht nicht einem christlichen Gedanken der Schöpfung. Sie ist überzeitlich, ewig, aber gerade deshalb geschaffen, denn nur kraft der unerschöpflichen Quelle des Lichtes und des Wissens ist sie überzeitlich und im ewigen Schöpfungsakt hat sie Anteil an den Ideen.

3) Die überzeitliche, unräumliche Seele ist  ohne Gottesbegriff nicht denkbar. Es verläuft hier die Argumentation ähnlich: Ohne vorlaufendes Wissen der Existenz Gottes, ohne methodischer Konsequenz einer spirituellen Rückbesinnung auf das Einheitsprinzip schlechthin wäre eine Einheit und Selbstbegründung des Wissens nicht möglich. Deshalb muss notwendig Gott sein, wie die Seele und das apriorische Vorwissen überzeitlich und überräumlich sind. Die Gottesidee ist transzendentaler Bezugspunkt allen Wissens, transzendente wie immanente Bezugsidee des Sich-Wissens.

Dieses apriorische Vorwissen von Gott kann a) in gewissem Sinne nur negativ durch Abstraktion von allem sinnlichen Wissen wissbar sein (Negative Theologie) oder b) in gewissem Sinne auch positiv wissbar sein, weil sich das Wissen ja selbst bestimmt! (Diese Dialektik von Negativer und Positiver Theologie hat vorallem DIONYSIOS AREOPAGITA beschrieben.)

Die Bestimmtheit und Konkretheit des Seins kommt der Einheit des Wissens notwendig und virtuell zu – siehe auch die Diskussionen im SOPHISTES – wodurch die Ideales und Reales stets verbunden sind. 

Durch bloße logische Schlussfolgerungen, wie THOMAS  das aber öfter ausgesprochen hat, kann Gott nicht erschlossen und erreicht werden. Umgekehrt aber muss es möglich sein, Gott zu denken, denn die Bedingungen der Endlichkeit, wenn sie denn als solche behauptet werden, können nur als Erscheinungen des Absoluten verstanden und begründet werden.  Für das Wissen der Endlichkeit brauche ich bereits einen Abschlussbegriff eines absoluten Wissens, damit es als solches bestimmt werden kann, d. h. überzeitliches und überräumliches Wissen, eine geistige Einheit, die sich in Abhängigkeit zur Erscheinung fassen kann. (Dazu wären jetzt freilich viel genauere Ausführungen notwendig als im Rahmen eines Blogs.)  

4) In der Hl. Schrift ist oft vom apriorischen Vorwissen Gottes die Rede, muss es auch sein, denn wie wollten wir sonst von Gott etwas wissen! Alles andere ist Positivismus, Fideismus, blinder Gesetzesgehorsam, Anthropomorphismus. Weil wir an Gott partizipieren, können wir Aussagen von ihm machen. Besonders in der Sprache des Neuen Testamentes, in Aussagen des Apostels PAULUS oder im JOHANNES-Evangelium, sind diese platonischen Ideen vielfältig rezipiert. Die Hagiographen hätten es nicht getan, wenn ihnen diese Philosophie als agnostisch oder gar atheistisch vorgekommen wäre. Die Offenbarung Gottes konnten sie als solche nur verstehen, weil ihnen das Begriffsinstrumentarium bereits in die Hände gelegt worden war.

Anbei der deutsche Text eines Auszuges aus MENON.

SOKRATES: Ohne daß ihn also jemand lehrt, sondern nur ausfragt, wird er wissen und wird die Erkenntnis nur aus sich selbst hervorgeholt haben.

MENON: Ja.

SOKRATES: Dieses nun, selbst aus sich eine Erkenntnis hervorholen, heißt das nicht sich erinnern?

MENON: Allerdings.

SOKRATES: Und hat etwa nicht dieser die Erkenntnis, die er jetzt hat, entweder einmal erlangt oder immer gehabt?

MENON: Ja.

SOKRATES: Hat er sie nun immer gehabt, so ist er auch immer wissend gewesen. Hat er sie einmal erlangt, so hat er sie wenigstens nicht in diesem Leben erlangt. Oder

S85e hat jemand diesen die Meßkunst gelehrt? Denn gewiß wird er mit der ganzen Meßkunst ebenso verfahren, und mit allen andern Wissenschaften auch. Hat nun jemand diesen dies alles gelehrt? Denn du mußt es ja wohl wissen, da er in deinem Hause geboren und erzogen ist?

MENON: Ich weiß sehr gut, daß niemand sie ihn jemals gelehrt hat.

SOKRATES: Er hat aber diese Vorstellungen; oder nicht?

MENON: Notwendig, wie man ja sieht.

SOKRATES: Wenn er sie aber in diesem Leben nicht erlangt hat und daher nicht wußte,

S86a so hat er sie ja offenbar in einer andern Zeit gehabt und gelernt.

MENON: Offenbar.

SOKRATES: Ist nun nicht dieses doch die Zeit, wo er kein Mensch war?

MENON: //III37// Offenbar.

SOKRATES: Wenn also in der ganzen Zeit, wo er Mensch ist oder auch, wo er es nicht ist, richtige Vorstellungen in ihm sein sollen, welche durch Fragen aufgeregt Erkenntnisse werden, muß dann nicht seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.

MENON: Das ist einleuchtend.

S86b SOKRATES: Wenn nun von jeher immer die Wahrheit von allem, was ist, der Seele einwohnt, so wäre ja die Seele unsterblich, so daß du getrost, was du jetzt nicht weißt, das heißt aber, dessen du dich nicht erinnerst, trachten kannst, zu suchen und dir zurückzurufen.

Es ist eine Form des ontologischen Gottesargumentes, wie es später ANSELM formulieren wird. Die Seele muss den Bedingungen gemäß existieren, was sie hier einsieht. Das ist eine intuitive Einsicht, keine diskursive, erst durch den Verstand in der Zeitform geschlussfolgerte Erkenntnis. Wenn die Seele überzeitliche Wahrheit einsieht, überzeitlich Gültiges, muss sie gemäß dieser Wissensweise existieren. Die Wissensweise hat Konsequenz für die Existenzweise.

Im unmittelbaren Argumentationsgang vorher hieß es:

SOKRATES: Wenn er sie aber in diesem Leben nicht erlangt hat und daher nicht wußte,

S86a so hat er sie ja offenbar in einer andern Zeit gehabt und gelernt.

MENON: Offenbar.

SOKRATES: Ist nun nicht dieses doch die Zeit, wo er kein Mensch war?

MENON: //III37// Offenbar.

SOKRATES: Wenn also in der ganzen Zeit, wo er Mensch ist oder auch, wo er es nicht ist, richtige Vorstellungen in ihm sein sollen, welche durch Fragen aufgeregt Erkenntnisse werden, muß dann nicht seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.

Der Sklave war implizit immer schon ein Wissender. Er hat das Wissen nicht erst in diesem Leben erworben. PLATON entdeckt hier im MENON großartig die Apriorität unseres Wissens. Nicht auf empirischem Weg erwerben wir dieses apriorische Wissen, sondern schon vor unserer Geburt haben wir es empfangen (von Gott).

Nochmals kurz vorher:

SOKRATES: Hat er sie nun immer gehabt, so ist er auch immer wissend gewesen. Hat er sie einmal erlangt, so hat er sie wenigstens nicht in diesem Leben erlangt. Oder

S85e hat jemand diesen die Meßkunst gelehrt? Denn gewiß wird er mit der ganzen Meßkunst ebenso verfahren, und mit allen andern Wissenschaften auch. Hat nun jemand diesen dies alles gelehrt? Denn du mußt es ja wohl wissen, da er in deinem Hause geboren und erzogen ist?

MENON: Ich weiß sehr gut, daß niemand sie ihn jemals gelehrt hat.

SOKRATES: Er hat aber diese Vorstellungen; oder nicht?

MENON: Notwendig, wie man ja sieht.

PLATON spricht hier die Messkunst an „und alle anderen Wissenschaften“ – gemeint sind Wissenschaften, in denen ausdrücklich apriorisches Wissen mitkonstitutiv angesetzt ist. Es gäbe kein empirisches Wissen, wenn es nicht auch apriorisches Wissen gäbe.

Im Schlusswort von „… trachten kannst, zu suchen und dir zurückzurufen“ kann verwiesen werden auf das Höhlengleichnis in der POLITEIA: Der Seele müssen nicht erst die Augen des Wissens eingesetzt werden, sie muss nur (durch „geschicktes Fragen“) umgewandt werden. Es wird ihr nicht Neues an sich verkündet, sie hat es schon! Sie besitzt bereits das apriorische Vor-Wissen, und in der Denkfigur der „anamnesis“, der Wieder-Erinnerung, wird es sich dieses Wissens bewusst.

Alles diskursive Wissenschaft ist Wiedererinnerung an den ursprünglichen Besitz. 

KANT hat das in dem genialen Gedanken des Schematismus ausgedrückt: mittels Schema (leider oft zu zeitlich verstanden!) wenden wir die intelligiblen Begriffe auf die sinnliche Erfahrung an. Deshalb die Einheit der Wissensbedingungen mit den Gegenstandsbedingungen.  Das Empirische erscheint im selben genus (derselben Gattung) der Erkenntnis wie das Geistige –  in der  platonische Apriorität des Wissens und der Anamnesislehre. Die apriorische Konstitution spielt in jede empirische Erkenntnis hinein, sonst gäbe es überhaupt keine Erkenntnis – und umgekehrt wäre keine freie Erkenntnis möglich, gäbe es nicht die notwendige (apriorisch abgeleitete) Mannigfaltigkeit der empirischen Erfahrung.

(c) Franz Strasser 8. 4. 2017 

Nach einer Vorlesung von Dr. Franz Bader

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser