Erkenntnistheorie und praktische Philosophie

Bernward Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit.

Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes. In: Kant. Analysen- Probleme-Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel, 1988, 127-167.

Durch Zufall stieß ich auf die versierte Kantrezeption von Prof. Bernward Grünewald (Universität Köln). Es ist ihm m. E. hoch zu danken, dass er seine Aufsätze der Öffentlichkeit zugänglich macht, denn wie sollte man sonst fernab der Uni und der Stadt zur Literatur kommen? Er kennt nicht nur textphilologisch genauestens die Argumentation I. Kants , er arbeitet für mich in verständlicher und klarer Sprache die Highlights Kantischer Transzendentalphilosophie heraus. Rein zum Selbststudium und aus Interesse arbeitete ich einige Aufsätze von ihm durch. Siehe anbei ein Exzerpt zu obigem Artikel. Dieser Artikel deshalb, weil m. E. das fehlende Mittelglied der Ableitung einer interpersonalen Gemeinschaft und eines prädeliberativen, uns allen verbindenden gemeinsamen Willen, wie Fichte das später ableiten wird, sozusagen benevolent von B. Grünewald, in Kant hineingelegt wird.

Die Fichte-Darstellung von mir ist nur fragmentarisch, ohne weiterer Literatur und würde natürlich genauerer Begründungen verlangen. (Die Hintergedanken von Fichte verdanke ich natürlich den wenigen Vorlesungen von Dr. Franz Bader.)

(Zitate von Kant oder Fichte sind wieder rot hervorgehoben)

B. Grünewald (abk.=B. G.) arbeitet in einer Einleitung den Begriff und Programm der Transzendentalphilosophie nach der 2. Auflage der KrV heraus, um die schwierige Frage letztlich einer transzendentalphilosophischen Begründung von Recht und Moral in einem breiten Kontext zu stellen.

1) Begriff und modaltheoretisches Programm der (theoretischen) Transzendentalphilosophie

„Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist … in der Frage enthalten: Wie

sind synthetische Urtheile a priori möglich?“ (KrV, B 19). Aus dieser Frage ergibt sich „die Idee

einer besondern Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen kann“ (KrV, B 24) und welche „die Propädeutik zum System der reinen Vernunft“ oder zur „Transscendental-Philosophie“ (KrV B 25) darstellt.
Bedenken wir, dass in der Frage nach der Möglichkeit gewisser Urteile auch die Frage nach der Möglichkeit der darin enthaltenen Begriffe vorausgesetzt ist, so ist der Begriff des Transzendentalen (zumindest nach dem Text der 2. Auflage) letztlich durch die Ausgangsfrage der „Kritik der reinen Vernunft“ bestimmt.

Dies kommt in der bekannten Definition der „transzendentalen Erkenntnisart“ der 2. Auflage ebenfalls zum Ausdruck. (Inwiefern sich hier ein grundlegende Änderung zur 1. Auflage zeigt, wird von B. G. In einer Fußnote angedeutet; in der 1. Auflage der KrV spricht nämlich Kant noch von „Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt“ (KrV A 11), nicht von der „Erkenntnisart“ als solcher.

„Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (KrV B 25)

Wenn wir (d. h. nach B. G.) uns nach der 2. Auflage richten, so geht es um die Möglichkeit gültiger Urteile und die Möglichkeit gültiger, d. h. wahrhaft auf Gegenstände bezogener Begriffe.

Die Kategorien sind reine Verstandesbegriffe und die synthetischen Urteile a priori reine Verstandesgrundsätze. Sie definieren, eventuell zusammen mit den formallogischen Prinzipien, was der Verstand selbst ist.

Gibt es ein Prinzip der möglichen Erfahrung, das mehr leistet als der hier verwendete Begriff des Verstandes?

Kant gibt dafür das Prinzip an, das eine Art von transzendentaler Deduktion der synthetischen Urteile a priori enthält, indem er das Verhältnis zwischen jenem Prinzip und den synthetischen Urteilen a priori (einschließlich ihrer begrifflichen Elemente) angibt:

„Auf solche Weise sind synthetische Urtheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungserkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen | der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind

zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben

darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori.“ (KrV, B 197)

Im Hinblick darauf, dass ein Empirist diese Übereinstimmung von Begriffen bzw. Urteilen und Gegenständen bezweifelt – historisch hat zur Zeit Kants dies z. B. ein S. Maimon schon getan (dann kamen anderer Kritiker wie Rehberg, Schmid, Reinhold) – beschreibt B. Grünewald das (subjektive) Prinzip der möglichen Erfahrung als „Problemprinzip“, das auf das „Referenzprinzip“ der Gegenstände der Erfahrung bezogen ist. Dem könnte ein Empirist vielleicht noch zustimmen, da es ja um die Frage und das Problem geht, wie Erkenntnis möglich ist; letztlich wird aber die Erkenntnis von den Gegenständen der Erfahrung bestimmt werden – so wohl der Empirist.1

 

Wegen dieser behaupteten! Identität zwischen den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und den objektiven Gegenständen der Erfahrung können die synthetischen Urteile a priori Wahrheit und objektive Gültigkeit (apodiktische Gewissheit) beanspruchen. Es ist eine Art Programm formuliert, noch nicht die Durchführung geleistet, wie sich die synthetischen Urteile auf die Gegenstände der Erfahrung beziehen.

2) Exposition der modaltheoretischen Strukturen in Kants Grundlegung der praktischen Philosophie.

Im 2. Teil unterzieht Grünewald diesen theoretischen Ansatz des Programms einer Transzendentalphilosophie einer praktischen Ausweitung, inwiefern Kant in der „GRUNDLEGUNG DER METAPHYSIK DER SITTEN“ (abk.= GRUNDLEGUNG ) (1. Auflage 1785. 2. Auflage 1786) auch nach dem Möglichkeitsprinzip des kategorischen Imperativs fragt.

Ein kategorischer Imperativ ist ein „synthetisch- praktischer Satz a priori“ (z. B. ebd. Akademieausgabe IV, 420)

Der (nicht explizit genannte) Subjektsbegriff dieses synthetischen Satzes ist der Begriff des „Willens eines vernünftigen Wesens“ (ebd. u. IV, 440); der Prädikatsbegriff besteht in dem Gehalt des Imperativs, in der ersten Formulierung der GRUNDLEGUNG : „… handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (IV, A 421)

B. Grünewald arbeitet heraus, dass es ähnlich wie in der KrV um die transzendentale Erkenntnisart geht, wie dieser synthetischer Satz vom kategorischen Imperativ a priori möglich sei.

Die praktisch synthetischen Sätze a priori bedürfen ihrer Möglichkeit nach und zur Entscheidbarkeit ihrer Geltungsdifferenz eines Dritten, welche den Grund der Entscheidung und die Verknüpfung zwischen dem Willen eines vernünftigen Wesens (des Subjektes) mit dem Prädikat der „Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst das Gesetz zu sein.“ (ebd. A, IV 447) ermöglicht.

Zuerst heißt es, dass der positive Begriff der Freiheit dieses Dritte schaffe, aber dann sagt Kant, bedürfe es doch noch einiger Vorbereitung. Es muss eine notwendige Leistung des Subjekts sein, deren Möglichkeit als Problemprinzip der Möglichkeit synthetisch-apriorischer Sätze a priori zugrunde liege.

Kant setzt zuerst einmal den Subjektsbegriff mit seinem Handlungsbewusstsein in Beziehung. Ein vernünftiges Wesen, wenn es ein solches sein soll, könne nur unter der Idee der Freiheit handeln. Das impliziert, dass dieses Wesen auch das Gesetz dieser Freiheit für sich als gültig betrachten müsse.

„Ein jedes Wesen, das nicht anderes als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde.“(GRUNDLEGUNG , IV 448)

Das Handeln eines vernünftigen Wesens in irgendeiner Kausalität ist also eine der Vernunft selbst bewusste Kausalität. Durch die Idee der Freiheit nun – kann die Vernunft bei ihrem Tun und Lassen selbstbewusst Gebrauch machen.

Die Idee der Freiheit ist aber damit die Bedingung dieses gesuchten Dritten, wodurch ein vernünftiger Willens sich selbst das Gesetz der Autonomie gibt. Nur durch diese Idee der Freiheit kann die Vernunft bei ihrem Tun und Lassen selbstbewusst Gebrauch machen.

Das Dritte ermöglicht einen vernünftigen Willen oder die Möglichkeit des Wollens als vernünftiges Handlungsbewusstsein. Grünewald unterscheidet hier in heutiger Terminologie nochmals zwischen Zweckrationalität und Freiheit, die mit diesem vernünftigen Willen verbunden sein können. Wenn es wirklich eine praktisch sich selbst bestimmenden Vernunft sein soll, wird es über die theoretische Möglichkeit, immer nur die Funktion eines Zweckes zu erfüllen, hinausgehen müssen.

Ist der Begriff des Wollens (als vernünftiges Handlungsbewusstsein) selbst vermittelndes und begründendes Drittes für die Idee der Freiheit? Mit Kant gesprochen: Wir müssen den „Verdacht“ ausräumen, „daß wir … vielleicht die Idee des Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legen“ (GRUNDLEGUNG A IV, 453)

Wie kann diese Bedingung eingesehen werden? Die Idee der Freiheit ermöglicht die praktische handelnde Vernunft und umgekehrt – ist das vielleicht nur ein Zirkel und ein analytischer Satz?

Es muss das Prinzip der Möglichkeit des Wollens als vernünftiges Handlungsbewusstsein besser eingesehen werden, dessen Bedingung die Idee der Freiheit ist bzw., was als Wechselbegriff ebenfalls eingeführt wird: Es ist das Sittengesetz.

Nach Kants theoretischer Philosophie der KrV gibt es eine vermittelndes Drittes zwischen Verstand und Sinnlichkeit, die oben im 1. Teil vorausgesetzte Identität, aber eher nur als Programm aufgestellt wurde – und dies wird in der GRUNDLEGUNG ähnlich wiederholt, um einen Analogie zwischen der Deduktion der Kategorien und der Deduktion des Sittengesetzes aufzuzeigen: Die Erfahrung nach der KrV ist nur möglich, wenn „zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen“. (ebd. IV 454)

Im dritten Abschnitt der GRUNDLEGUNG wird jetzt ähnlich wie in der KrV, worin die theoretische Erkenntnis sich sowohl auf die Sinnlichkeit wie auf den Verstand bezieht, eine Art Problemprinzip formuliert:

„Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der

Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch,

wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens

jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt

anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden

afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt

gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher

die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält ...“.(ebd. IV 454)

Nach Kant gibt es also eine notwendige Verknüpfung zwischen der intelligiblen Welt der Freiheit, worin sich der Wille sich selbst das Gesetz gibt, und der sinnlichen Welt, worin aus der Selbstgesetzgebung des Willens aber ein kategorisches Sollen wird, weil der Wille auch unter sinnlichen Begierden steht und folgedessen nicht so frei ist wie in der gedachten, intelligiblen Welt.

Warum soll der reine, für sich selbst praktische Wille die oberste Bedingung meines durch sinnliche Begierden affizierten Willens nach der Vernunft enthalten und wie ist das möglich?

Ist das schon eine Deduktion des Sittengesetzes?

  1. Die Idee der Freiheit oder der Gedanke des intelligiblen Welt kann das „Dritte“ der gesuchten Deduktion sein.

  2. Der sinnlich affizierte Wille kann auch nicht die reine, praktische Vernunft selbst sein.

  3. Wie kann der reine Wille Bedingung des sinnlich affizierten Willens sein?

Was ist das Referenzprinzip zum Problemprinzip des sittlich freien Willens, der zugleich unter sinnlichen Bedingungen steht bzw. des Wollens als vernünftiges Handlungsbewusstseins?

Kant nimmt sozusagen den Anspruch der Deduktion des Sittengesetzes wieder zurück und stellt es als Faktum der Vernunft hin:

„Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer

intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er

sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.“ (ebd. IV, 455)

Es liegt ein Verpflichtungsmoment im moralischen Bewusstsein enthalten, ein Sollen als eines Wollens, wenn der Wille unter reinen moralischen Gesetzen stünde. Es ist sogar, wie das Zitat sagt, ein „notwendiges“ Wollen. Selbst ein böser Wille muss dieses Gesetz eines gesetzlichen Wollens anerkennen.

Der reine Wille, der offenbar das moralische Gesetz der Autonomie enthält, soll oberste Bedingung des unter Sinnengesetze stehenden Willen sein – das könnte noch im empiristischen Sinne fehlgedeutet werden, dass der Wille zweckrational sich Zwecke und Mittel setzt und sie untereinander zu einem System der Zwecke vereint, was ohnehin in jedem zweckrationalen Handeln vorliegt: das Streben nach Glückseligkeit. Diese umfassende Gegenstand all unseres Wollens ist das oberste Gut – im Gebrauch jetzt des Empiristen. Warum sollte noch ein reiner Wille einer gar intelligiblen Welt als Bedingung des vernünftigen Wollens und Handelns zurückgreifen? Die Bedingungen der sinnlichen Zwecke reichen – und können im gewissem metaphorischen Sinne Gebote und Verbote mit sich führen – um eine vernünftiges Wollen und Handeln zu erklären – könnte der Empirist durchaus bestätigen.

3) Transzendentale Einheit in der theoretischen Erkenntnis

Die Identität zwischen dem Problemprinzip der subjektiven Bedingungen aller Erfahrung und dem Referenzprinzip der Gegenstände der Erfahrung löst Kant, wie oben schon gesagt, durch das Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Sie ist die transzendentale Deduktion, warum und wie sich apriorische Begriffe auf die Gegenstände sinnlicher Erfahrung beziehen.

Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist oberster Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf den Verstand , „… daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der

urspünglich-synthetischen Einheit der Apperception stehe“. (KrV B 136)

Dieser sei ein ‚analytischer Satz‘, erkläre „aber doch eine Synthesis des in einer

Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als nothwendig“ (KrV B 135)

„… die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung

irgend einer synthetischen möglich.“ (KrV B 133)

Es folgen noch weitere Schritte in der Deduktion der Kategorien und der oben genannten „Deduktionsformel“: a) Die Synthesis ist nur in einem Begriff von „Objekt“ möglich ( (KrV B 137) und b) die Synthesis der Erkenntnis in einem Urteil geschehe, welche „nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen“ (KrV B 141)

Die ‚subjektive‘ Entscheidung, wodurch ich irgendeine Vorstellung unter dem Titel ‚Ich denke‘ mir zurechne, zu meiner Vorstellung mache, wird demnach ermöglicht durch den Objektbezug eines Urteils.(B. Grünewald, ebd. XI)

Dies führt zu einer ersten Rechtfertigung der Kategorien: Diese sind

„nichts andres, als eben diese Functionen zu urtheilen, so fern das Mannigfaltige

einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist … Also

steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung nothwendig unter

Kategorien.“ (KrV B 143)

B. Grünewald betont, dass auch die analytische Einheit der Apperzeption im Selbstbewusstsein schon eine synthetische Einheit der Gegenstandsbestimmung besagt und ist.

Die Bedingungen des (subjektiven) Problemprinzips

sind ihrerseits nicht (schlicht) subjektive Bedingungen, sondern gültige begriffliche

Bestimmungen der Objekte und insofern identisch mit den (notwendiger

Weise) zu denkenden Bestimmtheiten der Gegenstände.

Die analytische Einheit des Selbstbewusstseins bedarf somit als solche bereits einer synthetischen Einheit der Gegenstandsbestimmungen in diesem Selbstbewusstsein, welche nur durch reine den Urteilsfunktionen entstammenden Begriffen von Gegenständen möglich ist.

Es ist dies die traditionelle Lehre von den Transzendentalien, omne ens et unum convertuntur et omne ens et verum convertuntur, aber differenzierter gedacht und unterschieden in analytische und synthetische Einheit, bezogen auf die Wahrheit dieser Urteile.

Die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins ist eine objektive Einheit des Selbstbewusstseins und der darauf beruhenden Notwendigkeit von Urteilsfunktionen und Kategorien in einer jeden Erfahrung.

Die reinen Verstandesgrundsätze sind somit auch Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung.

„… ein jeder Gegenstand steht unter den nothwendigen Bedingungen der

synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen

Erfahrung.“ (KrV, B 197)

Die auf die „formalen Bedingungen der Anschauung a priori“ zurückbezogene Synthesis der Einbildungskraft erhält umgekehrt durch die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) die „nothwendige Einheit“.

In diesen reinen Verstandesgrundsätzen als synthetische Urteile a priori wird den Gegenständen der Erfahrung etwas zugedacht (B. Grünewald, ebd. XII) und sind sie wahre Urteile.

„Wir können die gesamte transzendentale Deduktion der Kategorien zusammen

mit der Rechtfertigung der synthetischen Urteile a priori als eine Entfaltung

des Prinzips des Denkens überhaupt zu einer besonderen Funktion des

Denkens auffassen, insofern nämlich Denken eine Wahrheit produzierende

Leistung darstellt. Denken leistet demgemäß ein Doppeltes: Es stellt erstens die

(analytische und synthetische) Einheit des Subjekts her, so dass in jedem Akt

des Denkens wirklich ich es bin, welcher dieses oder jenes denkt, und sich alle

Gehalte des Denkens zusammenschließen unter dem Gedanken ‚Ich denke‘.

Dies erste aber ist, wenn das Denken speziell den Sinn ‚Ich behaupte, erkenne,

weiß wirklich dies (und habe nicht bloß einmal diesen und einmal jenen Einfall)‘

haben soll, nur möglich, wenn das Denken zweitens für uns die Einheit des

gedachten Gegenstandes herstellt, so dass uns nicht nur subjektive Zustandsfolgen,

sondern wahrhaft Gegenstände in der Erfahrung gegeben sein können.“ (B. Grünewald, XIII)

4) Transzendentale Einheit und praktische Geltung in Kants moralphilosophischem Denken

Ãœber die logische Einheit des Erkennens hinaus ist somit in Kants Transzendentalphilosophie der Bezug auf die objektive, gegenstandskonstitutive Funktion der Verstandesgrundsätze und synthetischen Urteile a priori notwendig; m. a. W. der Bezug auf die Wahrheit des Urteilens. Gibt es eine solchen Bezug einer transzendentalen Einheit des Erkennens auch im praktischen Bereich des Wollens und Handelns? Was ist der Gehalt des Wollens? Es hieß oben: „… die analytische Einheit der Apperception ist nur unter der Voraussetzung

irgend einer synthetischen möglich.“ (KrV B 133)

Gibt es eine objektive Einheit der Apperzeption auch im praktischen Bereich?

Bei Kant gibt es kaum eine Bezugnahme auf das Problem der Einheit der Apperzeption. Deshalb ist nach B. Grünewald eine systematische Weiterführung Kants notwendig. Die Einheit des Bewusstsein im praktischen Bereich bedarf eines moralischen Gesetzes.

Eine transzendentale Deduktion des Dritten der Erkenntnis in einem Wollen und Handeln suchen wir nach B. G. vergeblich. (Kant bestätigt auch in der KpV (1788), dass es ein solche Deduktion nicht geben kann; in der GRUNDLEGUNG (1785, 1. Auflage) allerdings behauptet er noch, dies geleistet zu haben.

Die Unbedingheit eines moralischen Gesetzes wie des Sittengesetzes ist eine Faktum der Vernunft und kann in seiner Unbedingheit nicht eingesehen werden. Man kommt zu verschiedenen Handlungsmotiven, die aber alle nicht die Unbedingheit begründen können (z. B. Glückseligkeit)

B. Grünewald referiert dann Stellen aus dem posthumen Werk Kants , z. B. Reflexion 7253. Kant begründet dort die transzendental abgeleitete, objektive Einheit einer Sittlichkeit durch das Gesetz der Allgemeingültigkeit.

„Die Einschränkung des besonderen Willens durch die Bedingungen der Allgemeingültigkeit ist ein Princip der Vernunft des Practischen. Weil sonst unter

Handlungen keine unbedingte Einheit seyn würde.“ (XIX, 177)

Kant kommt auf den Gedanken, dass die Regeln eines bedingten Gebrauchs der Kräfte der Vernunft schon einer unbedingten Einheit des Wollens entspringen könnten – durch einen unbedingten Gebrauch der Freiheit.

Gibt es einen Einheitsgrund des Wollens, wodurch eine Präkognition aller weiteren Handlungen einsehbar wird?

Kant reflektierte in der KpV die Dialektik zwischen Unbedingtheit der Selbstbestimmung der Vernunft und Glückseligkeit, um die Antinomie der praktischen Vernunft zu lösen.

„daß … das oberste Gut (als die erste Bedingung des höchsten Guts) Sittlichkeit,

Glückseligkeit dagegen zwar das zweite Element desselben ausmache,

doch so, daß diese nur die moralisch bedingte, aber doch nothwendige Folge

der ersteren sei.“ (KpV, V 113). Die transzendentale Deduktion des Begriffs des höchsten Gutes liegt im Prinzip der Sittlichkeit, die Glückseligkeit ist nur zweckrational und zweitrangig.

Die Argumentationen in der KpV und in der Reflexion 7204 decken sich in vielem.

B. Grünewald weist auf die ausdrückliche Bezugnahme Kants auf die Transzendentalienlehre der Alten hin, wodurch das Wollen und Handeln auf Einheit, Wahrheit und das Gute bezogen sein muss, um als synthetische Erkenntnis gelten zu können.

Wie in der theoretischen Philosophie eine objektive Einheit des Selbstbewusstseins als Bedingung der Möglichkeit der analytischen Einheit nachgewiesen wurde, so muss es auch im praktischen Bereich eine solche Einheit geben, wobei ein „Objekt“ als Bestimmungsgrund der Vernunft aber aus Gründen der Selbstbestimmung fehlen muss und die Vernunft selbst das Objekt erst hervorbringen soll.

Die Vernunft müsste selbst Grund der Existenz dieses Objekts sein.

Wie Kant in der theoretischen Deduktion der Kategorien die synthetische Einheit der Apperzeption nachgewiesen hat und Bezug genommen hat auf die Wahrheitsrelation, so nimmt Kant Bezug im praktischen Bereich Bezug auf eine praktische Geltung, mit den Alten gesprochen, auf das Gute. Was ist die geltungsrelevante Intentionalität und Referenz des praktischen Bewusstseins?

5) Synthetische Einheit der Praxis, Problemprinzip und Referenzprinzip synthetisch-praktischer Sätze

Im fünften Teil von B. Grünewald finden sich jetzt m. E. eine Überfülle an Voraussetzungen, die ich mit Fichteschen Argumenten (blau geschrieben) etwas genauer betrachten will.

Ich unterteile diesen Abschnitt in Teile.

Gefragt ist: Gibt es eine Intentionalität oder Referenz oder Geltungsprinzip der reinen Vernunft bzw. des Willens? Es ist formal zuerst der kategorische Imperativ.

a) Der kategorische Imperativ heißt in der GRUNDLEGUNG „… handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,

daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (IV 421).

Darin liegt schon eine synthetische Erkenntnis, insofern ja von einem gesetzgebenden Wollen gesprochen wird. Grünewald formuliert analog zur Begründung der objektiven Gültigkeit der apriorischen Begriffe in der theoretischen Philosophie: ’Die Bedingungen der Möglichkeit eines allgemein gesetzgebenden Wollens sind zugleich die Bedingungen der praktischen Möglichkeit (d.i. Erlaubtheit) eines jeden handlungsbestimmenden Wollens.‘ (ebd., XVIII)

Das Prinzip der Rechtfertigung und Bewährung der Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung der Vernunft wäre eine modaltheoretische Regel „zur Auffindung konkreterer kategorischer Imperative“, eine Regel, welche die notwendige Gesetzgebung der Vernunft zu einer möglichen Gesetzgebung in Beziehung zu setzte.

6) Nach dem Schematismuskapitel der KrV muss die Regel als Schema des Verstandes gesehen werden, welches Schema wiederum zuerst transzendental-apperzeptiv von der Synthesis der Einbildungskraft intellektuell angeschaut werden muss. Woher kommt nach B. Grünewald und Kant die Regel des Verstandes und der Anwendung, dass notwendig diese Bedingung der Wirklichkeit eines freien Willens vorausgehen muss? Die notwendige Bedingung eines allgemeinen Gesetzes zur Möglichkeit seiner Einsicht hängt ab von der empirischen Anleihe, dass es mehrere Personen schon gibt. Woher habe ich die Kenntnis fremder Personen?

Dass die Regel nach B. Grünewald brauchbar ist „zur Rechtfertigung konkreter Pflichten“, zur Auffindung von Verbotsgesetzen und Gebotsgesetzen usw. ist sicherlich richtig; aber warum schematisiere ich gerade diese notwendige Bedingung eines allgemeinen Gesetzes, damit die Freiheit meines Wollens und meiner Selbstbestimmung möglich ist? Auch ein „Bösewicht“, wie Kant später exemplarisch ausführt, wird sich an das allgemeine Gesetz halten, wenn er etwas will. Ja, wenn es ihm um die Anerkennung seiner selbst in seinen Zwecksetzungen zu tun ist. Naturgemäß geht es einem „Bösewicht“ aber nicht um die Widerspruchsfreiheit seines Handelns, sondern um einen individuellen, eigensinnigen Zweck. Es gibt für ihn keine ontologische Wahrheit, auf die er sich bezieht; das bisschen Widersprüchlichkeit in der nicht möglichen Universalisierung seiner Eigeninteressen schmerzt ihn wohl nicht. Die „notwendige“ Bedingung eines allgemeinen Gesetzes ist eine modaltheoretische Bestimmung unter der Vorgabe, dass die Möglichkeit freien Handelns und die Möglichkeit der Selbstbestimmung interpersonal eingesehen werden kann.
Woher weiß die Vernunft, dass die faktische Un
iversalisierbarkeit eines Gebotes oder Verbotes – durch das allgemeine Gesetz – wahrhaft Freiheit ist und eine Freiheit zu selbst gesetzten Bedingungen und Einschränkungen? Könnte das unbedingte Prinzip der Freiheit der Form nach nicht durch die Regelhaftigkeit des Verstandes selbst und durch die Voraussetzung der Mehrheit von Subjekten irregeleitet sein, wenn es auch faktisch in der Ordnung der Vernunft auftaucht, sobald die Idee der Freiheit logisch nach dem zeitlichen Widerspruchsgesetz gedacht wird, das aber einen Bösewicht momentan vielleicht nicht berührt? Quid juris führe ich die Idee der Freiheit und das allgemeine Gesetz ein? Muss ich das nicht theoretisch erkennen können, nicht nur praktisch nach logischen Gesetzen postulieren? Könnte das allgemeine Gesetz und die daran hängende Idee der Freiheit mich nicht auch täuschen?

Kant gibt nach B. Grünewald selber zu, dass das Sittengesetz nicht deduziert werden kann, nur faktisch auffindbar ist. Wer gibt die Erlaubnis oder das Programm, diese faktische Zufälligkeit des Sittengesetzes zum Aufbau einer praktischen Transzendentalphilosophie zu machen, in der gerade diese notwendige Bedingung des Wollens und des Handelns aufgestellt wird? Weil es sonst einen Widerspruch ergäbe für jedes eigene und fremde Wollen? Dass die Vereinbarkeit von eigener und fremder Freiheit, von eigenem und fremden Willen, nur durch ein allgemeines Gesetz als notwendige Bedingung der Möglichkeit möglich einsehbar ist, mag logisch richtig sein, aber könnte dieses allgemeine Gesetz zwecks Vereinbarkeit von Freiheit nicht ein einziger Selbstbetrug sein, eine Täuschung meinerseits und Täuschung mehrerer Subjekte? Ist das eine nachträgliche Rationalisierung eines gegenseitigen Kampfes um Würde und Anerkennung? Womöglich selbst eine sehr ideologiegeleitete, über-ichhafte, empirische Bestimmung? (Bei Nietzsche soll es irgendwo das böse Wort geben, der „Kategorische Imperativ“ ist eine gefährliche Drohung?)

Die Antwort einer einsehbaren Freiheit bei Fichte – das würde jetzt eine längere Antwort sein: Siehe dazu den Blog zum „prädeliberativen Willen“. Die Anschauung und Einschauung von anderer Freiheit ist möglich, da die Interpersonalität und der göttliche Aufruf bereits konstitutionell und transzendental im Selbstbewusstsein vorausgesetzt wird.

7) Wieder zurück zu B. Grünewald:

Durch ein handlungsbestimmtes Wollen wird ein Referenzrahmen eröffnet, wodurch das gesetzgebende Wollen durch ein Gesetz das Wollen unter gewissen Bedingungen einschränkt und bestimmt.

Dies ist natürlich ein synthetischer Satz, denn das gesetzgebende Wollen richtet sich hier in seinem Handlungsbewusstsein auf eine projektiv vorgestellte Subjektgemeinschaft. Dadurch wird der sich selbst bestimmenden Wille zugleich ein dem Gesetz unterworfener Wille.

„Welchen Grund aber sollte es in einem vernünftigen Wollen selbst geben, sich als einem fremden Wollen verpflichtet zu fühlen?“ (B. G., XX)

Dieser Grund, in einem anderen Wollen zugleich das eigene Wollen wahrhaft zu erkennen und zu wissen ist nach B. G. ein allgemeines Gesetz, wodurch das eine Wollen zugleich und umgekehrt das andere Wollen ist.

Mit eigenen Worten: Mit welchem Recht wird das Wollen gesetzgebend? Durch die replikative Selbstverpflichtung des Wollens? Es ist keine andere Anerkennung meines Anspruchs auf einen anderen denkbar als die, dass ich zugleich umgekehrt den Anspruch zur Selbstverpflichtung an mein Wollen selber stelle. Der Rechtsanspruch an den anderen ist damit keine bloße Erwartung, kein bloßes Wünschen, sondern eine modaltheoretisch gefundene, allgemeingültige Regel. Wenn der Möglichkeit nach eingesehen werden soll, dass eine Selbstverpflichtung im Wollen des einen wie zugleich im anderen bestehen soll, so besteht notwendig eine Bedingung, dass durch ein allgemeines Gesetz diese gegenseitige Anerkennung in der Wirklichkeit stattfindet. Falls ich – im Konditional formuliert – das eigene freie Entschiedensein der Möglichkeit nach einsehen will, muss ich die notwendige Bedingung des allgemeinen Gesetzes für jedes Individuum faktisch und wirklich voraussetzen.

Das gegenseitige Sich-Verpflichten und Obligieren besteht demnach im Geltungsgrund eines allgemeinen Gesetzes (oder Sittengesetz), welches nach Kant zwar nicht als deduziert erscheinen kann, aber faktisch vorausgesetzt werden muss, damit wechselseitige Anerkennung überhaupt möglich gedacht werden kann.

Eine Kantische Nachlassreflexion wird von B. Grünewald zitiert: „Es kann niemand den andern obligiren, als durch eine nothwendige … einstimung | des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freyheit. Also kan er niemals den andern obligiren, als vermittelst desselben eignen Willen.“ (Ref. 6954, XIX, 212)

 

8) Nach Fichte, wie ich ihn verstehe, ist das Sittengesetz nicht bloß faktischer Ermöglichungsgrund eines moralischen Handelns und eines gegenseitigen Rechtsanspruchs, sondern unhintergehbare, transzendental-reflexiv eingesehene Erkenntnisbedingung selbst, um die synthetisch, qualitative Einheit aller Erkenntnis behaupten zu können. Das Sittengesetz ist gnoseologische Erkenntnis und ontologische Einheit allen Seins und gilt universal und total in seinem Sinnanspruch und in seiner Forderung. Das Sittengesetz richtet sich bei Fichte ähnlich wie bei Kant sowohl an das Individuum wie an eine interpersonale Adressatengemeinschaft, ist aber mehr als bloß eine einschränkende Bedingung des sich selbst bestimmenden Willens. Es ist absolute Vernunfttendenz, bleibende Vernunfttendenz, Aufruf, Aufforderung zu einem freien Handeln, sittlich-praktisches Bestimmungsprinzip, das einen sittlich-materialen Gehalt verwirklichen will. Dieser Gehalt ist nicht im nachhinein durch die Prüfung der Maximen zu einer allgemeingültigen Gesetzesform erst festgesetzt, sondern objektiv vorgegeben. Den höchsten Zweck geben wir uns nicht selber, er wird uns gegeben, wie Fichte genial sagt:

„Der erste Begrif ist meine Aufforderung zum handeln. Der Zweck wird uns gegeben, und mit dem Begrif der Auffoderung ist Handeln nothwendig verknüpft (….) den ersten Zweckbegrif machen wir nicht selbst, wir bekommen ihn doch nicht so daß uns der Zweck als etwas bestimmtes gegeben werden, sonder er wird uns nur überhaupt der Form nach gegeben als etwas woraus wir auslesen sollen. Dies ist die Auffoderung zu einer freyen Handlung. Diese Satz ist sehr wichtig wegen der Folgerungen, die in der Rechtslehre davon abgeleitet werden.“ (Fichte, Wlnm, GA IV, 2, ebd. S 177.178)

Nach Kant würde ein objektiver Zweckbegriff einer Selbstgesetzgebung der Vernunft widersprechen; das wäre Heteronomie. Nach Fichte ist aber gerade die Freiheit des Willens und der freie Vollzug desselben die (objektiv-subjektive) Bejahung eines Wertes. Ich anerkenne nicht im nachhinein das Sittengesetz oder den anderen, sondern durch die Vernunfttendenz selbst bin ich schon geleitet (durch den prädeliberativen Willen), mit Freiheit einen objektiven Gehalt zu bejahen, ohne dass meine Freiheit die Möglichkeit zu dieser Entscheidung verliert.

Fichte diskutiert den viel weiteren Möglichkeitsbegriff vor allem ab den WL 1801/02 ausdrücklich. Es gibt bereits eine Aktualität der – durch göttlichen Aufruf ermöglichten – personal gedachten Vernunftstruktur, die auf einen Wert hingerichtet ist, mithin auf einen alle spezifischen Werte übersteigenden höchsten Wert des Guten, welche Aktualität sich schematisiert und verobjektiviert wiederfindet in der Interpersonalgemeinschaft und weiterer Abstufungen des intelligiblen und sinnlichen Bereichs.

9) Kant beschreibt die Möglichkeit des gegenseitigen Sich-Verpflichtens und Obligierens in der Reflexion 7204 auch als Prinzip der Wahrheit, das wir öffentlich benennen sollen und allen Beteiligten in ihren Ansprüchen des Wollens zu Grunde liegt. Nach B. Grünewald ist diese der erste Schritt einer Rechtfertigung des Sittengesetzes und begründet eine rechtliche Gesetzgebung.

Grünewald möchte aber nicht nur einen rechtlichen Anspruch gegenüber anderen ableiten, sondern im Selbstverhältnis des Willens muss bereits ein allgemeines Gesetz der Selbstverpflichtung liegen – unabhängig von den intersubjektiven Beziehungen.

Dies führt zur Betrachtung, dass das Wollen in seinem Geltungsgrund auch über die zeitliche Erstreckung hin gleich bleibt und sich als allgemeines Gesetz zeigt. Das Wollen verpflichtet sich trotz einem Früher und Später zur Selbstverpflichtung in sich wie im anderen.

Die Selbstverpflichtung kann nach Kant (in der Interpretation von B. G.) auch als „Präcognition aller Handlungen“ beschrieben werden.

Nach Grünewald kann hier durch das allgemeine Sittengesetz auch die vollkommene Form der Freiheit gefunden werden, die ja oberste Bedingung bei allem zweckhaften Wollen sein soll; denn durch Freiheit wird die Vereinbarkeit von Fremd- und Selbstverpflichtung gewollt. (Mit Verlaub gesagt, das geht bereits in Richtung „System der Freiheit“ bei Fichte. Der Bestimmungsgrund des Wollens wird durch einen prädeliberativen Willen, der durch sich selbst bestimmt ist, reflexiv eingeholt.)

B. Grünewald spricht hier wieder von der synthetischen Einheit in der auf die Verpflichtung eines anderen Wollens gerichtete Einheit. Sie macht die analytische Einheit erst möglich. (ebd. XXI) Es gäbe ohne dieser Verpflichtung anderen Wollens (und seiner Freiheit) keine entschiedene Selbstverpflichtung und Selbstbestimmung, weil ja die Selbstbestimmung des Willens die Möglichkeit dazu gar nicht einsehen könnte. Es gäbe kein praktisches Bewusstsein, sondern nur die Mannigfaltigkeit der Begehrungen. Es ist durch ein allgemeines Gesetz praktisch einsehbar und apperzepierbar, dass ein anderes Wollen verpflichtet werden kann; ergo gibt es ein praktisches Bewusstsein gegenüber einer bloß faktischen Mannigfaltigkeit eigener und fremder Begehrungen.

Diese synthetische Einheit einer erkennbaren Selbst- wie Fremdverpflichtung ist das Problem, mit dem die praktische Philosophie beginnt – und mit dem die bloß theoretische Erklärung des Wollens und Handelns aufhört. (B. G., XXII) Es ist ein praktisches Prinzip, aber noch nicht ein moralisches Prinzip, weil es noch nicht die Antwort auf die praktische Problemstellung enthält.

Die Möglichkeit des dadurch verpflichtenden Wollens, als welches sich jedes handlungsbestimmenden Wollen erweist, ist das zugehörige Referenzprinzip.

„Insofern das praktische Problemprinzip durch das Sittengesetz mit seinem Referenzprinzip wahrhaft vermittelt ist, können wir von dem berechtigten Verpflichtungsanspruch jedes durch dieses Gesetz bestimmten Wollens sprechen, d. h. für uns: von der menschlichen Würde.“ (Siehe Kant, GRUNDLEGUNG, IV, 434;)

B. Grünewald setzt sehr viel in dieses praktische Prinzip als letzten Maßstab unserer Kultur – wie er in der Fußnote hinweist (ebd. XXII)

Grünewald spricht hier von einem Begründungsprogramm für die praktische Philosophie – wie er ähnlich schon von der ganzen Transzendentalphilosophie Kants eher von einem aufgestellten Programm spricht als einer vollendeten Durchführung. Es kann modaltheoretisch ausgedrückt werden: Es gibt eine transzendentale Einheit der Apperzeption, wodurch alle synthetischen Urteile im Theoretischen schon gerechtfertigt sind, auch in der praktischen Philosophie, d. h., ein jedes handlungsbestimmte Wollen vernünftige Wesen steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Begehrungen in einem möglichen verpflichtenden Wollen. (B. G., XXIII)

Die Formel Kants aus der KrV, worin er von der Einheit und Identität der apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis mit den wirklichen Gegenständen der Erfahrung ausgeht (vgl. KrV, B 197), kann analog von der praktischen Philosophie behauptet werden: Die Bedingungen der Möglichkeit verpflichtendenen Wollens überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit des handlungsbestimmenden Wollens und haben darum praktische Gültigkeit in einem synthetischen Satz a priori. (ebd.).

© 8. 12. 2009 Franz Strasser

1 B. Grünewald hat dabei in einem Buch und in diversen Artikeln den modaltheoretischen Standpunkt der Reflexion, von dem aus Kant (oft unreflektiert) spricht, sehr genau analysiert: Vom Standpunkt der Gegenstandskonstitution her mag Kants modaltheoretische Sicht, dass die subjektiven Erkenntnisbedingungen die der Gegenstände selbst sind, berechtigt sein, weil sonst negativ gesehen, eine Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung nicht möglich wäre. Doch von welch übergeordneten praktischen Perspektive spricht hier Kant? Worin ist wiederum sein Reflektieren reflektiert? Seine gegenstandskonstitutiven Urteile synthetischer Art a priori beanspruchen apodiktische Gewissheit. Was den Reflexionsstandpunkt Kants selbst betrifft – diesen zu kritisieren, da muss man wohl notwendig zu Fichte weitergehen.

Print Friendly, PDF & Email

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser