1) Was ist Recht und Unrecht? So begann J. S. Mill seine Abhandlungen. (Reclam-Ausgabe, ebd., S. 7) (Siehe Blog 1. Teil)
Wir sind an der Stelle angelangt, die Begründung von Recht und Unrecht so weit wie möglich abzuschließen und zu begründen. Hängt die Konzeption einer Rechts- und Moralbegründung von der Konzeption der Gerechtigkeit ab? Dies ist stark zu vermuten, weil die finale Endursache ja das Glück/Glückseligkeit von allen für alle zu jeder Zeit sein soll, ergo muss der Begriff der Vermittlung (der finalen Endursache) eine Einsicht in die Idee der Gerechtigkeit sein.1
Bedauert man die verfeindeten ideologischen oder religiösen Lager der partikularen Rechts- und Moralbegründungen, so könnte vielleicht MILLS „Utilitarismus“ eine universelle Basis von Gerechtigkeit sein, eine Basis säkularer Weltsicht, die aber von allen für alle zu jeder Zeit mitgetragen werden kann, insofern sich ja alle reell und triebhaft bereits das Streben teilen!? Es wäre doch sehr viel gewonnen, wen wir uns wenigstens auf den Endzweck Glück/Glückseligkeit in Selbst-Verpflichtung einigen könnten – der ja alles andere als hedonistisch oder autoritär, diktatorisch von J. MILL verstanden werden will!?
Alle Bereiche der gesetzgebenden und ausübenden und ausführenden Gewalt hängen mit der idealen Gerechtigkeitskonzeption zusammen – unterschieden noch in legislative, judikative und exekutive Ausführung, wenn man will, keineswegs fürstlich-monarchisch, diktatorisch – und blickt man etwas in die Legion der Gerechtigkeitsbegründungen und des sozialen Verhaltens, so ist doch zu bedauern, dass diese Vision einer „Moral des Glücks“ mit einer entsprechenden Messbarkeit und Evaluierungsintention durch die Funktion des Nutzens von allen für alle zu jeder Zeit nicht durchsetzungsfähiger ist!? 2
2) Der Rechtsanspruch aus der Idee der Gerechtigkeit
J. S. MILL will wiederum in der bisherigen Weise des analytisch-synthetischen Vorgehens den begrifflichen Zusammenhang zwischen (ideeller) Glückseligkeit und realer Eigenschaft der Gefühle im reellen Streben aufzeigen.
Eine besondere „Offenbarung“ wird es nicht brauchen, denn Gerechtigkeit ist selbst eine Eigenschaft eines substantiellen Strebens nach Glück/Glückseligkeit, ein „Zweig allgemeiner Nützlichkeit“ (Kapitel 5, ebd. S 127).
„Aber obgleich es eine Sache ist, die Existenz eines natürlichen Gerechtigkeitsgefühls anzunehmen, und eine andere, es als ein letztes Kriterium richtigen Handelns anzuerkennen, so sind diese beiden Auffassungen in der Realität doch sehr eng miteinander verknüpft. Die Menschen neigen zu dem Glauben, dass ein subjektives Gefühl, das sie sich anders nicht erklären können, die Offenbarung einer objektiven Realität ist. Unsere Aufgabe besteht deshalb zunächst darin, festzustellen, ob der Sachverhalt, dem das Gerechtigkeitsgefühl entspricht, einer solchen spezifischen Offenbarung bedarf, ob die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit einer Handlung etwas letzthin Spezifisches und von allen anderen Eigenschaften Verschiedenes ist oder ob sie nur in einer Kombination einiger jener Eigenschaften, unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet,“ (Hervorhebung von mir, Kapitel 5, ebd. S 127)
MILL beschreitet (wiederum) den Weg einer ausschließenden Negation, um die Idee der Gerechtigkeit näher bestimmen zu können, d. h. er grenzt alles Gegenteil davon ab. Es ist klassisches, dialektisches Denken.
Wenn ich auf FICHTE hier verweisen darf: Dieser hat diese Denkform der Dialektik aus dem Totalitätsbegriff gewonnen. Mill wird das nicht so klar gewesen sein, aber intuitiv spricht er von der Gerechtigkeit als „Eigenschaft“ eines substantiellen Strebens, ergo kann die Gerechtigkeit aus einem substantiellen Totalitätsbegriff näher bestimmt werden. Rein begriffslogisch nach Fichte formuliert: Die Einteilung nach Denkformen besagt, dass alle Sätze, die aus dem ersten und zweiten Grundsatz, dem absoluten Ich und dem teilabsoluten Nicht-Ich, gewonnen werden, die Sphäre der Erkenntnis disjunktiv ausschließend teilen. Sie bilden eine Totalität, die eingeschränkt und bestimmt werden kann.„Dasjenige, welches ein anderes von der Totalität ausschließt, ist, insofern es ausschließt, die Totalität“ (GWL, GA I, 2, 344) Das Ganze der Totalität ist immer ein aus Spontaneität handelndes Ich, das aber deshalb auch das Vermögen besitzt, dieses Totalität ins Unendliche zu begrenzen (vgl. ebd. S 473).
Mill setzt auf anderem Niveau – auf sinnlichem Niveau, das natürlich ein perennierender Zirkel und ein dauerndes Manko bleibt – die Totalität der Gerechtigkeit an und bestimmt sie durch das reelle Streben als differenzierte Glückseligkeit.3
Die begriffliche Durchdringung der Gerechtigkeit leidet, wie so oft, bei J. S. MILL, an der naturalen Begründung. Sie gewinnt allerdings an Kraft, wenn auf die Anwendungsbedingungen der Idee geschaut wird, die m. E. eine interpersonale Anerkennungstheorie ist.
Im weiteren wird diese Anerkennungstheorie in ihren logisch-praktischen Konsequenzen durch eine quantitative Messung zu evaluieren versucht, durch ein Form der Nützlichkeit von allen für alle zu jeder Zeit. Der Nutzen ist nicht Zweck, die Gerechtigkeit ist der Zweck von allen für alle zu jeder Zeit – in bestmöglicher, größter Form und Umsetzung.
Zuerst wird anhand der Abweichung und der Veränderungen die Idee der Gerechtigkeit bestimmt; sie gehört zu einer „Gruppe von Eigenschaften“, die einem sinnlichen Begehren entstammen.
„[…] denn wie viele andere Moralbegriffe lässt sich Gerechtigkeit am besten durch ihr Gegenteil definieren) und das sie von Verhaltensweisen unterscheidet, die missbilligt werden, ohne dass sie mit genau diesem Attribut der Missbilligung belegt werden. Sollte sich in allem, was gewöhnlich als gerecht oder als ungerecht bezeichnet wird, eine gemeinsame Eigenschaft oder Gruppe von Eigenschaften finden, so liegt es an uns festzustellen, ob diese besondere Eigenschaft oder Gruppe von Eigenschaften den allgemeinen Gesetzen unseres Gefühlslebens nach in der Lage ist, ein Gefühl dieser Eigenart und Intensität hervorzurufen, oder ob dieses Gefühl unerklärlich ist und als eine besondere Vorkehrung der Natur betrachtet werden muss.“ (ebd. S 129)
In der ausschließenden Negation von dem, was nicht Totalität der Gerechtigkeit ist, folgen viele Beispiele und Beschreibungen von „Eigenschaften“ der Ungerechtigkeit, d. h. in dem Sinne von erkennbaren Eigenschaften in den „Verhaltensweisen“.
Wiederum wird wechselseitig zwischen reellem Streben und Glück/Glückseligkeit etwas beschrieben, das als synthetische Begrifflichkeit bestimmt werden kann: die Begriffe der Vereinigung der Gegensätze ergeben die Gefühle von Zorn und Widerstand.
Die Gefühle sind – m. E. bemerkenswert! – sofort in interpersonalen Beziehungen situiert und gedacht – keineswegs bloß empirisch-reduktiv aus Neurologie oder Psychologie gewonnen. Aus der Wechselseitigkeit des reellen Strebens und der causa finalis des Glücks/der Glückseligkeit wird gefühlhaft das interpersonale Verhältnis dargestellt und begriffen nach dem Maßstab gerecht/ungerecht. Die Gefühle leiten über zu transzendental gewonnenen Begriffen, „[…] in der diese einen eindeutig bestimmten Sinn haben, nämlich den, dass es gerecht ist, die gesetzlich verbürgten Rechte einer Person zu achten, und ungerecht, sie zu missachten.“ (ebd. S 131, Hervorhebung)
Ein Verstoß gegen ein Ur-Recht („der verbürgten Rechte“) wird gefühlt.
Man erkennt in diesem Unrechts-Gefühl eine erscheinungsmäßige Veränderung des postulierten Rechtes und aus diesem Gegensatz des ausschließenden Unrechts ein „moralisches Recht“ (ebd. S 133)
MILL zählt dann fünf Beispiele des moralischen Rechts auf, vgl. ebd. S 131 – 137, bis zur „Unparteilichkeit“, die gewahrt bleiben müsse; ebenso gehört die „Gleichheit“ (ebd. S 137 – 139) dazu.
3) Gerechtigkeit aus einer moralischen und gesamtgesellschaftlichen Konzeption heraus
MILL will zu einer näheren und konkreteren Idee der Gerechtigkeit. Er beginnt mit einer Begriffs-Etymologie. Was kann rein sprachlich aus dem Wort „Gerechtigkeit“ abgelesen werden? (ebd. S 139ff). Wie wurde in der Geschichte und bei verschiedenen Völkern die Gerechtigkeit begründet?
Es war und ist offensichtlich die Gerechtigkeit mit Gesetz und Recht verbunden.
Das französische „idee mère“ ist das „Grundelement bei der Entstehung des Gerechtigkeitsbegriffes, die Übereinstimmung mit dem Gesetz (…). Bei den Juden machte diese bis zur Geburtsstunde des Christentums den gesamten Gehalt der Gerechtigkeitsvorstellung wie es bei einem Volk zu erwarten war, dessen Gesetze alle Bereiche zu durchdringen suchten, in denen irgendwelche Vorschriften nötig waren, und das in jenen Gesetzen einen unmittelbaren Ausfluss des höchsten Wesens erblickte. Andere Völker dagegen – insbesondere die Griechen und Römer, die wussten, dass ihre Gesetze ursprünglich von Menschen gemacht worden waren und immer noch gemacht wurden (…)“ (Hervorhebungen von mir; ebd. S 141 u. 143)
Ein Gesetz oder eine Norm findet sich bei allen Völkern und Kulturen. Sie können im einzelnen verschieden sein, mehr oder minder befolgt oder nicht befolgt werden, entscheidend ist, dass ein übergeordnetes Sollen von Gerechtigkeit sich überall findet:
„Daher heftete sich das Gefühl der Ungerechtigkeit nicht an alle Verstöße gegen das Gesetz, sondern nur an Verstöße gegen solche Gesetze, die gelten sollten (Hervorhebung durch MILL) (darin eingeschlossen die, die gelten sollten, es tatsächlich aber nicht tun), sowie auch an die Gesetze selbst, die dem, was Gesetz sein sollte, zuwider waren. Insofern spielt der Gedanke des Gesetzes und gesetzlicher Vorschriften weiterhin eine beherrschende Rolle im Begriff der Gerechtigkeit, auch wenn die de facto geltenden Gesetze nicht mehr als Norm der Gerechtigkeit akzeptiert werden. Freilich lassen die Menschen den Begriff der Gerechtigkeit und die aus ihm abgeleiteten Pflichten darüber hinaus für viele Dinge gelten, für die es keine gesetzliche Regelung gibt (….)“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 143)
Wenn Gerechtigkeit sein soll, so steht alle Rechtssprechung und Rechtsausführung unter einem gerechten Gesetz und führt logisch-praktisch zu einer gewissen „Vorstellung eines gesetzlichen Zwangs“ (ebd. S 145).
Die Gerechtigkeit erfährt Wandlungen, „[…] ehe sich der Begriff zur der Gestalt, die er in einem fortgeschrittenen Gesellschaftszustand annimmt, vervollständigt hat.“ (ebd. S 145)
Der Rechtsbegriff enthält in seiner praktischen Folgen und Anwendung eine „Pflicht zur Gerechtigkeit“ (ebd.).
MILL möchte in seiner Analyse und Synthese der Idee der Gerechtigkeit jetzt über einen Rechtsbegriff hinaus zu einer moralischen Begründung derselben kommen.
Es soll ein moralisch Allgemeines, eine (moralische) Pflicht im Unterschied zum Rechtsbegriff differenziert werden, die uns die Idee der Gerechtigkeit erschließt. Es kommen jetzt m. E. sehr interessante Analysen!
a) Zuerst zum Rechtsbegriff: „Es ist allen Formen der Pflicht eigentümlich, dass eine Person zu ihrer Erfüllung rechtmäßig gezwungen werden kann. Pflicht ist etwas, das von jemandem erzwungen werden kann, so, wie man die Bezahlung einer Schuld erzwingt.“ (ebd. S 145.147)
Es gibt Verpflichtungen, die geahndet werden, andere, die nur straflos bleiben;
„Vorerst jedenfalls dürfte es unzweifelhaft sein, dass diese Unterscheidung (sc. Vorstellungen von Strafwürdigkeit und Straflosigkeit) für die Begriffe von Recht und Unrecht grundlegend ist und wir in dem Maße von Unrecht sprechen oder irgendeinen anderen missbilligenden Ausdruck gebrauchen, in dem wir glauben, dass der Handelnde dafür bestraft werden sollte oder nicht, und dass, ob wir sagen, eine Handlungsweise sei richtig, oder nur, sie sei wünschenswert oder lobenswert, davon abhängt, ob wir den Handelnden gezwungen oder aber nur oder ermuntert sehen möchten, in dieser Weise zu handeln.“ (ebd. S 147)
b) Wird jetzt unterschieden zwischen sanktionierten Verhaltensweisen mit strafwürdigen Folgebegriffen – und nicht strafwürdigen, straflos bleibenden Verhaltensweisen, so ergibt sich über den Rechtsbegriff hinausgehend eine spezifiziert begründete Gerechtigkeit, die zur nochmals unterschiedenen Moralbegründung hinführt,: „[…] von den übrigen Bereichen der Nützlichkeit und der Würdigkeit, so bleibt nun noch das Merkmal anzugeben, das die Gerechtigkeit von den anderen Bereichen der Moral unterscheidet.“ (ebd. S 147)
MILL kommt zu sprechen auf unbedingte und bedingte Pflichten. Durch unbedingte Pflichten erlangen wir ein Recht; durch bedingte Pflichten wird ein „persönliches Recht“ (ebd. S 149) empfunden, ein „Anspruch seitens eines oder mehrerer Individuen, (…)“ (ebd.)
Ist diese Anspruch jetzt auf einen anderen gerichtet und interpersonal konkretisiert, so wird die moralische Pflicht gegenüber dem Recht dieser bestimmten Person offenbar als spezifische Differenz empfunden, als spezifische Gerechtigkeit.
Es kommt zu einer durch Differenziation gewonnenen, näheren Bestimmung von Gerechtigkeit – wie bei einem ausschließenden Negationsverfahren: „Gerechtigkeit bedeutet nicht nur, zu tun, was recht wäre, und nicht zu tun, was unrecht wäre, sondern zu tun, was jemand uns gegenüber als sein moralisches Recht geltend machen kann. […]“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 149.151)
Dem anderen etwas schulden wie z. B. Großmut und Wohltätigkeit, können Formen der Gegenleistung sein, aber im engeren Sinn wäre diese großherzige Gerechtigkeit von den Formen der rechtlichen Gegenleistung unterschieden, d. h. von den Formen einer rechtlichen Gerechtigkeit, die moralisch gefühlt wird.
„[…] Wo ein Rechtsanspruch besteht, haben wir es mit einem Fall von Gerechtigkeit, nicht von Wohltätigkeit zu tun, und wer die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Moral insgesamt nicht da zieht, wo wir sie soeben gezogen haben, wird feststellen, dass er gar keinen Unterschied zwischen ihnen macht, sondern die Moral ganz in der Gerechtigkeit aufgehen lässt.„ (Hervorhebung von mir, ebd.)
MILL differenziert also nochmals zwischen einer rechtlichen Gerechtigkeit, die universell für alle gelten muss, von allen, für alle, zu aller Zeit, ein gefühlter Rechtsanspruch – während Moral eine gegenüber einer einzelnen, bestimmten Person naheliegende, aufgetragene Pflicht im eingeschränkten Sinne ist. Eine bemerkenswerte Unterscheidung: Gerechtigkeit ist universal, begründet im gemeinsamen, reellen Streben und in einer gefühlten universalen Rechtlichkeit; Moralität ist individuell gefühlt.
Kann diese differenzierte und spezifizierte und rechtliche Gerechtigkeit, begründet in einem gemeinsamen Streben und einem allen zukommenden, gemeinsamen Fühlen, noch näher bestimmt und gemessen werden? Es sind keine leichten Fragen: Ist das Gerechtigkeitsgefühl (diese universale, rechtliche Gefühl) jetzt a) natural bedingt oder b) gesellschaftlich irgendwie erworben oder c) quantitierend-nützlich feststellbar? In gewissem Sinne treffen alle drei Antworten als richtig zu.
„Nach diesem Versuch, die Wesensmerkmale des Gerechtigkeitsbegriffs zu bestimmen, wollen wir uns nun der Frage zuwenden, ob das Gefühl, das diesen Begriff begleitet, die Verknüpfung mit ihm durch eine besondere Vorkehrung der Natur erhalten hat oder ob es sich – soweit wir das sagen können – selbsttätig aus dieser Vorstellung heraus entwickelt haben kann und insbesondere, ob es seinen Ursprung in Überlegungen der allgemeinen Nützlichkeit haben kann.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 151. 153.)
Die Idee der Gerechtigkeit ist interpersonal situiert und interpersonal gefühlt:
a) dass ich ein Anspruchsrecht des anderen erkenne, sofern es zur Verletzung dieses Rechts gekommen ist; das äußert sich dann als „Wunsch nach Bestrafung“ der Verursachung des Übels. Generell zeigt sich die Gerechtigkeit
b) im Gefühl der Sympathie „mit allen Menschen und sogar allen fühlenden Wesen“.
Die Idee der Gerechtigkeit enthält eine natural bedingte, gefühlte Denkform, und eine moralisch-imperative, weil interpersonal vermittelte Denkform:
Ad a) „Wie wir gesehen haben, hat das Gerechtigkeitsgefühl zwei wesentliche Bestandteile: den Wunsch nach Bestrafung desjenigen, der ein Unrecht getan hat, und das Wissen oder den Glauben, dass es ein bestimmtes Individuum oder bestimmte Individuen gibt, denen das Unrecht angetan worden ist.“ (ebd. S 153)
Durch die interpersonale Verflochtenheit zeigt sich die Idee der Gerechtigkeit beim Eintreten von Unrecht – als „[…] Empörung, Zorn und der Wunsch nach Vergeltung. Der Ursprung dieses Gefühls braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Ob es ein Instinkt ist oder auf Einsicht beruht – wir wissen jedenfalls, dass es eine Eigenschaft der gesamten tierischen Natur ist. Jedes Tier versucht, dem, der es oder seine Jungen verwundet hat oder zu verwunden droht, ebenfalls eine Wunde beizubringen.“ (ebd. S 153)
Ad b) Die naturale Seite des Gefühls für (rechtliche) Gerechtigkeit wäre aber nicht verstehbar, käme nicht eine universelle und gesellschaftliche Empathie hinzu:
„Die Menschen unterscheiden sich von den Tieren in dieser Hinsicht nur in zweierlei: einmal darin, dass sie zur Sympathie nicht nur mit ihren Nachkommen, oder, wie einige der edleren Tiere, mit einem höheren und ihnen gut gesinnten Lebewesen fähig sind, sondern mit allen Menschen und sogar allen fühlenden Wesen; und weiterhin darin, dass ihr Verstand höher ausgebildet ist und allen ihren Gefühlen (den egoistischen wie den altruistischen) einen breiteren Wirkungskreis eröffnet.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 153.155)
Aus einem rechtlichen Anspruch des anderen, gefühlt als „Empörung, Zorn….“, sowie aus einem universellen Gefühl der „Sympathie“, zeigt sich ein Sicherheitsbedürfnis allgemeiner Art, denn bei Bedrohung der eigenen Sicherheit ist genauso die des anderen gefährdet. (vgl. ebd. S 155) (Wiederum ein interessantes analytisches Ergebnis eines Begriffes „Sicherheit“.)
Es ist das „Gerechtigkeitsgefühl“ mit anderen Worten ein „Wunsch nach Bestrafung, dasselbe, wie das natürliche Bedürfnis nach Vergeltung und Rache“ (ebd. S 155)
„Für sich genommen hat dieses Bedürfnis (sc. das Zorn- und Rachegefühl) keinen moralischen Gehalt. Das einzig Moralische an ihm ist, dass es ausschließlich den Gemeinschaftsgefühlen untergeordnet ist und nur durch diese geweckt wird. Das bloß natürliche Gefühl würde uns unterschiedslos gegen jegliches Verhalten zornig werden lassen, das uns unangenehm ist; aber geläutert durch das Gemeinschaftsgefühl wird es nur in der Richtung wirksam, in der es dem allgemeinen Wohl dient. Wenn der Gerechte in Zorn gerät, dann gegen den Schaden, der der Gesellschaft zugefügt wird, nicht gegen den (und sei er noch so schmerzlich), der ihn selber trifft, es sei denn, er und die Gesellschaft hätten ein gemeinsames Interesse daran, ihn zu verhindern.„ (Hervorhebung von mir, ebd. S 155)
Mit diesem Gemeinschaftsgefühl ist verbunden, dass eine Regel der (rechtlichen) Gleichheit (eine austeilende, distributiver Gerechtigkeit) damit einher geht. Die Vielen haben zwar verschiedene Glückserwartungen, aber die Idee des Glücks/der Glückseligkeit ist eine deduktive Wahrheit, eine causa finalis, an der jedes Vernunftwesen zu gleichen Rechten Anteil haben muss können.
MILL interpretiert hier wieder den „Kategorischen Imperativ“ KANTS, den er im 1. Kapitel schon kurz erwähnte und als bloße formale, leere Regel gesehen hat (ebd. S 15). Der Kategorische Imperativ kann nur den Sinn haben, den anderen wenigstens in den Blick zu nehmen, die „Gesamtinteressen der Menschheit oder zumindest die Interessen jedes einzelnen Menschen…..“. (M. E. trifft er hier genau den Sinn der Absicht Kants: Der kategorische Imperativ ist genau die Ausweitung des Rechtsprinzips vom allgemeinen Willen auf unsere gesamte Praxis. Bei Mill verläuft die Begründung des Kategorischen Imperativ umgekehrt, dass er erst ein suchendes, pragmatisches Prinzip ist und wird aus dem Gefühl von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit.)
„Wenn Kant (wie schon bemerkt) das Prinzip »Handle so, dass die Regel deines Handelns von allen vernünftigen Wesen als Gesetz angenommen werden kann« zum Grundprinzip der Moral erklärt, gesteht er damit unausdrücklich zu, dass derjenige, der gewissenhaft entscheiden will, ob sein Handeln moralisch richtig ist, die Gesamtinteressen der Menschheit oder zumindest die Interessen jedes einzelnen Menschen im gleichen Maße berücksichtigen muss. Anderenfalls wären die Worte, die er gebraucht, ohne Sinn.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 157)
4) Gerechtigkeit und Nützlichkeitsdenken
Die obigen drei Fragen nach der Bedingtheit der gefühlten, rechtlichen Gerechtigkeit sind noch nicht vollständig beantwortet. Der quantitierend-nützliche Teil fehlt noch:
Ad c) J. S. MILL fasst die Gerechtigkeit hier so zusammen in dem obigen Sinn eines rechtlichen Anspruchs und einem Gefühl des gerechten Ausgleichs (Sanktion, Bestrafung): „Der Begriff der Gerechtigkeit setzt zweierlei voraus: eine Verhaltensregel und ein Gefühl als Sanktion der Regel. (…)“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 159), und in einer gesellschaftlichen-politischen Dimension. „Ein Recht zu haben bedeutet demnach, etwas zu haben, das mir die Gesellschaft schützen sollte, während ich es besitze.“ (ebd. S 161)
Es sollen die Anwendungsbedingungen dieser Gerechtigkeitsvorstellung jetzt in den Blick genommen werden: Ein einzelnes Streben nach Glück oder ein gemeinsames Wollen des Glücks/der Glückseligkeit kann logisch-quantitiert angeschaut und bemessen werden: Was ist der Begriff dafür? Der deduzierte Begriff des „Nutzens“.
Die oben in der Differenziation der Gefühle und in Unterscheidung zur Moral gewonnen Idee der Gerechtigkeit zeigt sich in ihrer quantitierten Erscheinung als Nützlichkeit für alle von allen zu jeder Zeit. Wiederum eine bemerkenswerte Analyse eines Begriffes, woher er eigentlich kommt. „Nutzen“ – nicht aus dem ökonomischen oder monetären Bereich gewonnen, nicht als Endzweck verdreht, sondern aus der Sphäre eines sittlich-interpersonalen, gerechten Zusammenlebens stammend.
„Wenn nun jemand fragt, warum sie das tun sollte (sc. dass die Gesellschaft das Recht schützen müsse, dass alle und der einzelne geschützt sein müsse), kann ich ihm keinen anderen Grund nennen als die allgemeine Nützlichkeit.“ (Hervorhebung von mir, ebd.)
Das Gerechtigkeitsgefühl ist ein sehr starkes Gefühl, nicht nur als Idee von Rechtsanspruch und Gleichheit beschreibbar, als Selbstverteidigung und als Sympathie erlebbar, sondern es liegt ein „triebhaftes Element“ (ebd.) in diesem Gefühl, sich äußernd als „Vergeltungstrieb“. (ebd.)
Es kommt zu einer weiteren Charakteristik in der durch interpersonale Anwendung und Nützlichkeit konkretisierten Gerechtigkeit: Es ist der Begriff der „Sicherheit“.
Es ist ein komprimierter Text: „Moralisches Recht“ und „Nützlichkeit“ werden verbunden im Interesse der „Sicherheit“:
„Dieser Trieb (sc. der Vergeltungstrieb im Gerechtigkeitsgefühl) erhält seine Intensität – wie auch sein moralisches Recht aus der außerordentlich bedeutsamen und eindrucksvollen Art von Nützlichkeit, die auf dem Spiel steht. Das Interesse, um das es geht, ist das Interesse an Sicherheit, in jedermanns Augen das wesentlichste unter allen Interessen. Von nahezu allen anderen irdischen Gütern lässt sich sagen, dass der eine sie braucht, der andere nicht. (…) Aber auf Sicherheit kann ein Mensch unmöglich verzichten.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 161. 163)
Die Idee der Gerechtigkeit wird aus dem im Hintergrund mitlaufenden Gesetz des reellen Strebens nach Glück/Glückseligkeit spezifiziert: der konkret Andere (oder die Menschheit in „jedermanns Augen“) soll um seiner selbst willen geschützt und geachtet werden. Sicherheit muss ihm unbedingt zukommen.
Die sonst verpönte Seite des sinnlichen Utilitarismus erreicht hier die gleiche moralische Höhe wie das Zweckdenken bei Kant!? Der andere bzw. die Menschheit ist Zweck an sich selbst, bei Mill begründet in und aus einem Gefühl. 4
Es liegt ein Denken von Unbedingtheit in dieser zu konkretisierenden Idee von Gerechtigkeit, anders gesagt, ein Sollen eines unbedingten Zweckes, „nimmt jene Unbedingheit (an) (…)“:
MILL spricht diese Idee als „Unterschied der Art“ an.
„Der Anspruch an unsere Mitmenschen, an der Sicherung dieser absoluten Grundlage unserer Existenz mitzuwirken, spricht Gefühle an, die so viel stärker sind als die, die sich an die gewöhnlichen Fälle von Nützlichkeit heften, dass der Unterschied des Grades (wie so oft in der Psychologie) zu einem Unterschied der Art wird. Der Anspruch nimmt jene Unbedingtheit, jene scheinbare Unendlichkeit und Unvergleichbarkeit mit allen anderen Erwägungen an, auf die der Unterschied zwischen dem Gefühl von Recht und Unrecht und dem Gefühl bloßer Zuträglichkeit und Unzuträglichkeit zurückgeht.“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 163.)
Der verpönte Begriff „Nutzen“ im Utilitarismus ist nicht Endzweck – wie schon öfter gesagt -, sondern die andere Person, bzw. die Menschheit in jeder Person ist in seinem/ihrem Sicherheitsbedürfnis und Glücksstreben Endzweck. Durch den Begriff des Nutzens wird diese Einheit der Vorstellung von Sicherheit und Endzweck auf die Ebene einer reellen Wahlfreiheit gestellt, wird tatsächlich erst a) die vielbeschworene Freiheit der Wahl ermöglicht und b) anschaulich entscheidbar und bestimmbar, was Sicherheit und Endzweck wirklich heißen!
Das was von Nutzen ist für die Sicherheit jedes Menschen ist das oberste, höchste, unbedingte Gebot oder Gesetz. Die Freiheit des moralischen Handelns führt zu diesem konkreten Nützlichkeitsdenken von allen für alle zu jeder Zeit. Der Begriff des Nutzens gewährt eine Operationalisierung der Idee der Gerechtigkeit, ist Tätigkeit einer Anwendung, ist reelle Einsicht in die Freiheit moralischen Handelns.
5) Moral des Glücks und soziale Nützlichkeit
MILL geht in seinen Schlusspassagen nochmals auf die Verteidigung des Nützlichkeitsprinzips ein und wehrt sich sehr eloquent gegen ungerechte Vorwürfe. (vgl. ebd. S 163 – 167) bzw. versteht er es, andere Entwürfe entsprechend zu hinterfragen und kritisch zu prüfen.
Er bespricht Rechtstheorien, die Recht und Gesetz auf einen Gesellschaftsvertrag zurückführen (vgl. ebd. S 169) – aber das ist nur „Fiktion“ (ebd. S 169) gegenüber der viel stärkeren naturalen Theorie des Strebens nach Glück/Glückseligkeit und deren Durchsetzung als Recht und Gesetz nach der Idee der Gerechtigkeit und Sicherheit.
Er bespricht die Schwächen einer angemessen Rechtsprechung, wenn sie nur auf positivistisch gesetztes Recht verweisen kann (vgl. ebd. S 171). Es ist dieses Recht ohne der „sozialen Nützlichkeit“ (ebd. S 173) keine rechte und richtige Entscheidung.
Das Prinzip der Nützlichkeit kann nicht abgewertet werden gegenüber anderen Erklärung des Moralischen; als sei „die Gerechtigkeit etwas Erhabeneres als die Klugheit“ (ebd. S 177).
Seine Ansicht des Utilitarismus fasst er so zusammen:
„[…] Während ich jeder Theorie entgegentrete, die ein Prinzip der Gerechtigkeit aufstellt, das nicht auf Nützlichkeit gegründet ist, bin ich andererseits der Meinung, dass die Gerechtigkeit, die auf Nützlichkeit gegründet ist, den Hauptteil und den unvergleichlich bedeutsamsten und verbindlichsten Teil aller Moral ausmacht. Gerechtigkeit ist der Name für eine Reihe moralischer Regeln, die für das menschliches Wohlergehen unmittelbar bestimmend und deshalb unbedingter verpflichtend sind als alle anderen Regeln des praktischen Handelns: In dem Begriff, in dem wir das Wesen der Gerechtigkeitsvorstellung gefunden haben, dem eines Rechtsanspruchs eines Individuums gegenüber anderen, ist diese höhere Verbindlichkeit ausgesprochen.“ (Hervorhebungen von mir, ebd. S 177)
Gerechtigkeit ist die Idee des Handelns, Selbstzweck/Endzweck ist der einzelne Mensch oder die Menschheit in jeder Person – das könnte in dieser oder jener apriorischen Ethik stehen – aber konkret und anwendungsbedingt und wahlfrei muss zur naturalen und gesellschaftlichen Form der Bedingtheit von Gerechtigkeit die Form der Nützlichkeit hinzukommen (das obige c in den drei Fragen): „(…)Gerechtigkeit, die auf Nützlichkeit gegründet ist, den Hauptteil und den unvergleichlich bedeutsamsten und verbindlichsten Teil aller Moral ausmacht.“
Eine bloße Gesinnungsmoral, die sich auf Maximen beruft, um so im Einzelfall das Handeln und die Werte zu bestimmen, bedeutet weniger als eine Moral der „Nützlichkeit“, weil diese Moral die Praxis der Anwendung der Folgen ihres Handelns und ihrer Wertsetzung nicht mitbedenkt bzw. nicht bemessen kann, was z. B. Schaden zufügt. (vgl. ebd. S 177. 179)
MILL beschreibt nochmals seine Ethik: Keinen Schaden zuzufügen, die Wohltätigkeit zu pflegen (ebd. S 179. 181), den Trieb zur Selbstverteidigung erkennen und das Vergeltungsprinzip (vgl. ebd. S 181) erkennen, das Gute mit Gutem vergelten (vgl. ebd.), „Das Prinzip, jedem das zu geben, was er verdient, […]“ (ebd. S 183).
Vieles ist aus der Geschichte schon bekannt, wie er sagt.
Auch die Rechtssprechung der Gerichte, die sich oft nicht veranlasst fühlt, über ihre Grundsätze nachzudenken (vgl. ebd. S 183), ist einem altruistischen Prinzip oder einem Nützlichkeitsprinzip verpflichtet.
Zur Rechtssprechung gehört natürlich auch als „oberste richterliche Tugend“ (ebd. S 185) die „Unparteilichkeit“ (ebd.) und die Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz, d. h. „dass die Gesellschaft jeden gleich gut behandeln sollte, der sich um sie verdient gemacht hat, […]“ (ebd. S 185). „Dies ist das oberste allgemeine Prinzip der sozialen und austeilenden Gerechtigkeit, auf das hin alle gesellschaftlichen Institutionen und die Bemühungen aller aufrechten Bürger im höchstmöglichen Maße ausgerichtet werden sollten.“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 185)
Sozusagen nochmals klarer und deutlicher soll die Abgrenzung zu allen anderen Ethiken erfolgen: Die Form der Anschauung von Recht, Moral, Gerechtigkeit, Sicherheit, Selbstzweck des einzelnen (der Menschheit in jeder Person) verwandelt sich in die Anschauung der Form (des Glücks/der Glückseligkeit) in jedem einzelnen und in der Anerkennung des anderen mittels Schematisierung von Nützlichkeit von allen für alle zu jeder Zeit.
Das Prinzip der Nützlichkeit hat hier jeden Egoismus oder sinnlichen Hedonismus abgestreift, weil es gerade um die rechtliche und moralische und ideelle Praxis und reine praktische Vernunft geht, dem einzelnen soviel Glück/Glückseligkeit wie möglich zukommen zu lassen, sozusagen seine Menschenrechte und Grundrechte und Bürgerrechte – und zugleich in Anerkennung des anderen von allen, für alle zu jeder Zeit.
„Aber diese große moralische Pflicht hat eine noch tiefere Grundlage; sie ist kein bloßer Folgesatz aus sekundären oder abgeleiteten Prinzipien, sondern ergibt sich unmittelbar aus dem obersten Prinzip der Moral: Sie ist ein Teil der Bedeutung des Nützlichkeitsprinzips oder des Prinzips des größten Glücks.“(Hervorhebung von mir, ebd. S 185)
MILL spricht von der Moral des Glücks: „Dass in den Augen des Ethikers wie des Gesetzgebers jeder den gleichen Anspruch auf Glück hat, bedeutet, dass er den gleichen Anspruch auf die Mittel zum Glück hat, […] (vgl. ebd. S 187.189).
Er diskutiert andere Literatur und beschreibt die Ungerechtigkeiten dieser Welt.
Der moralische Anspruch ergibt sich aus der Idee der Gerechtigkeit – und gemessen werden kann die Gerechtigkeit an der „Skala der sozialen Nützlichkeit“.
„Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Gerechtigkeit der Name für bestimmte moralische Forderungen ist, die, als Ganze betrachtet, auf der Skala der sozialen Nützlichkeit einen höheren Platz einnehmen und deshalb in höherem Maße verpflichtend sind als alle anderen, […]“ (Hervorhebung von mir; ebd. S 190.191)
MILL unterscheidet nochmals zwischen dem „Gefühl“ für Gerechtigkeit – und der gewonnen Operationalisierbarkeit und Entscheidbarkeit dessen, was „Nutzen“ meint, die gewonnene Wahlfreiheit zur Gerechtigkeit und Solidarität, zur Verbundenheit im Zorn wie in der Sympathie.
Den Ursprung des Gefühls leitet er von einer naturalen Quelle ab – sein englischer Empirismus! – es braucht dafür keinen „besonderen Ursprung“. Da sie aber auf die Menschheit als Ganze wie auf den einzelnen gerichtet ist diese Ethik auch gut als „soziale Nützlichkeit“ zu beschreiben.
„Es ist im Grunde immer schon evident gewesen, dass alle Fälle von Gerechtigkeit auch Fälle von Nützlichkeit sind. Der Unterschied liegt lediglich in dem eigentümlichen Gefühl, das sich an die Gerechtigkeit, nicht aber an die Nützlichkeit knüpft. Wenn dieses charakteristische Gefühl hinreichend erklärt worden ist; wenn es sich erübrigt, einen besonderen Ursprung dieses Gefühls anzunehmen (sc. einen von der naturalen Basis unabhängigen Ursprung) ; wenn es nichts anderes ist als das natürliche Gefühl von Zorn und Empörung, das, indem es auf die Erfordernisse des Gemeinwohls lenkt wird, mit einem moralischen Gehalt versehen wird; und wenn sich dieses Gefühl in den Fällen, auf die der Begriff der Gerechtigkeit anwendbar ist, nicht nur tatsächlich findet, sondern auch finden sollte: dann ist dieser Begriff für die utilitaristische Ethik kein Stein des Anstoßes mehr. Gerechtigkeit bleibt weiterhin die geeignete Bezeichnung für einen Bereich sozialer Nützlichkeit, [….]“ (Hervorhebung von mir, ebd. S 191.193).
Gerechtigkeit, ein starkes Gefühl, stärker als jeder sinnliche Hedonismus der Lust und des Angenehmen, das „(…) nicht nur dem Grad, sondern auch der Art nach“ verschieden ist. (ebd.)
© Franz Strasser, 8. 10. 2023
1„Man kann also wohl sagen, dass der Utilitarismus in Kontinentaleuropa nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die er verdient, in seiner Heimat aber die Kritik gefunden hat, die er verdient.“ In: Kurt Seelmann/Daniela Demko, Rechtsphilosophie, München 2014.
Zum Weiterlesen aus dem Heft des Philosophie-Magazins, Nr. 4/2019. John Rawls, „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, übers. v. Hermann Vetter (Suhrkamp, 1979).
Rima Hawi, „John Rawls. Itinéraire d’un libéral américain vers l’égalité sociale“ (Garnier, 2016).
Robert Nozick, „Anarchie, Staat, Utopia“, übers. v. Hermann Vetter (Olzog, 1988).
Gerald Allan Cohen, „Gleichheit ohne Gleichgültigkeit. Politische Philosophie und individuelles Verhalten“, übers. v. Michael Haupt (Rotbuch, 2001).
Amartya Sen, „Die Idee der Gerechtigkeit“, übers. v. Christa Krüger (C. H. Beck, 2010).
Michael Sandel, „Liberalism and the Limits of Justice“ (Cambridge University Press, 1982).
Michael Sandel, „Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun“, übers. v. Helmut Reuter (Ullstein, 2013).
2Als ein Nachfolger von J. S. MILL kann J. RAWL mit in seinem prozeduralen Begriff von Gerechtigkeit angesehen werden. RAWL würde sich zwar vom Utlitarismus distanzieren?, doch die Findung von Erkenntnisprinzipien, die eine „reflektierte Überlegung“ (u. a. Termini, die RAWL verwendet) anstellen, finde ich ganz ähnlich zu MILL.
Zur Kritik an Rawls siehe allerdings Hans Georg von Manz, Fairneß und Vernunftrecht. Rawls‘ Versuch der prozeduralen Begründung einer gerechten Gesellschaftsordnung im Gegensatz zu ihrer Vernunftbestimmung bei Fichte. Hildesheim: Olms-Verlag, 1992. Diese Kritik v. Manz träfe im weiterer Sinne dann auch auf J. S. MILL zu.
3Der Zirkel der Begründung bei Mill zwischen reellem Streben und Endzweck des Glücks/der Glückseligkeit ließe sich m. E. durch eine erneute transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Wissbarkeit dieses Zirkels lösen. Die Wechselseitigkeit reelles Streben/Glück verlangt einen Zweckbegriff, worin Glück/Glückseligkeit und Streben (in einem erfüllten Streben und Wollen) zusammenfallen. Bei Fichte ist das eine materiale intellektuelle Anschauung.
4„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“(GMS, BA 66.)