Die Zusammenhänge eines Beobachters, worauf N. L. stets rekurriert, können vorstellungsmäßig ins Unendliche teilbar gesetzt werden. Ja, aber was ist der Grund dieser angeblichen Unendlichkeit? Dies kann doch nicht empirisch abgelesen werden!
Luhmann und Derrida sind mir hier sehr einseitig: Das Unterscheiden und Gegensetzen, das in einem geistigen Akt auf ein verborgenes Mit-Setzen von etwas anderem verweist, das ist doch, sobald überhaupt gesetzt wird, (Spencer Brown, laws of form, „Triff eine Unterscheidung“), ein mehrere, gemeinschaftliche Korrelate setzendes Unterscheiden (=Gegensetzen).
S. Maimon hat in seinem „Versuch zur Transzendentalphilosophie“ im Anschluss an Kant hervorgehoben „Die Setzung des einen ist nicht bloß die Hebung des anderen, sondern ein von derselben verschiedene Setzung“ (Versuch, 115). Eine Unterscheidung und Gegensetzung ist zugleich eine Neu-Setzung eines erkannten Zusammenhangs.
Der Möglichkeit von Unterscheidung und Entgegensetzen muss deshalb ein höheres Bedingungsverhältnis vorausgehen, das die Dialektik einer wechselseitigen Bestimmungen erst ermöglicht.
Die Negation in der Entgegensetzung, eine ewige Negationsdialektik, wie sie m. E. Luhmann oder Derrida stets gebrauchen, ist von der offenen Ausschließung in thetischen Urteilen zu unterscheiden. Diese offene Ausschließung kann nur als Aufgabe oder „problema“ einer durch Freiheit zu vollendeten Aufforderung verstanden werden – und führt in ein ganz anderes Gebiet als die theoretische Vereinigung der Gegensätze in der Vorstellung, nämlich in das Gebiet des Praktischen, wodurch der Grund des Herausgehens zur Vorstellung in einem herausgehenden Willen und einem sein sollenden Interpersonalverhältnis liegt, in einem rückbezüglichen Wissen einer sich selbst bejahenden Vernunft.
Gibt es bei Luhmann oder Derrida diese thetischen Urteile, die auf eine potentielle und praktische Unendlichkeit einer Aufgabe oder einer Aufforderung zu einem freien Handeln verweisen? Der Systembegriff und die Sinnkonstitution bei N. L, oder die „Spur“, die „Brisur“, die „différance“ bei Derrida, sie scheinen mir nicht über das Wechselverhältnis eines beobachtenden Erkennens und einer davon zu unterscheidenden Welt/Umwelt bzw. Zeichenwelt hinauszugehen. System/Sinn/différance sind Wechselglieder eines faktischen und zeitlichen Unterscheidungs- und Beziehungsgrundes, verdanken sich aber nicht eine höher stehenden Differenzrelation, die transzendental als Disjunktionseinheit in und aus der ERSCHEINUNG des Absoluten verstanden werden kann.
Die Identität in der Sinnkonstitution zwischen Wissen und Welt/Umwelt – analog bei DERRIDA etwas anders zu formulieren – kann nur eine scheinbare, übertragene Identität sein, aber nicht eine explizit in und aus der Selbstbezüglichkeit des Wissens abgeleitete Disjunktionseinheit und Identität. Wenn nur begrifflich per negationem Wissen und Welt (System und Umwelt) vermittelt werden sollen, so kann sich a) logisch nie eine Vermittlung ergeben, denn die Logik verhandelt zweistellig oder dreistellig eine Relation, aber nicht den Akt der Relation. Operativ wird eine Idee gesetzt zwischen Wissen und Welt, zweistellig wird dann beobachtet, was diese Relation bedeutet. In der Beobachtung benutzt man aber den verborgenen Denkakt, der die Logik der Unterscheidung herbeiführte, d. h. aber, wenn er verborgen ist und bleibt als zureichender Grund in und aus der ausschließenden Negation, wie kann man plötzlich in der Beobachtung wissen, was die Unterscheidung (die differánce) und der verborgene Denkakt der Unterscheidung bedeutet? b) Vom Inhalt her kann auf diesem Weg der Unterscheidung und Beobachtung gar nichts geschehen, wenn es nicht ein im übergehenden Willen innewohnendes Licht gibt, das in Bild-Wirklichkeit die Wahrheit repräsentiert und bildet.
Es wird halt bei N. L. (und analog bei Derrida) irgendwie eine Wechselwirkung supponiert und eine Synthese des Funktionierens in kybernetischen und biologischen und eigens geschaffenen Begriffen (bei Derrida) behauptet – und das ergibt den „Sinn“?!
Es fehlt dieser Negationsdialektik nicht nur die oberste Einheit und der lichthafte Zusammenhang in allem Begreifen, es fehlt auch zur logischen Implikation hinzukommend die Apposition des Werdens der intuierten und intelligierten Sinnidee, aufbauend auf einen positiven Begriff einer Wahrheit, die bekanntlich „judex sui“ ist.
Es fällt mir Anselm oder Bonaventura oder Descartes ein: Bei Anselm heißt es in „De Veritate“: „veritas est rectitudo mente sola perceptibilis“ (DV 11 u. 13), d. h. als die allein mit dem Geiste erkennbare Richtigkeit.“ – nicht per empirisch beobachteter Wirklichkeit wird die Richtigkeit erkannt.
Das ist die eigentliche Domäne der platonischen und spezifisch fichteschen Transzendentalphilosophie, dass sie mittels Schweben der Einbildungskraft die Einheit von begrifflichem Denken und sinnlicher und intelligibler Anschauung entfalten kann. Nur Denken in Begriffen alleine – wie bei N. L. oder Derrida – vermag keine Erkenntnis der Wirklichkeit zu geben. Die Kategorien des Differenzierens, des Von-weg und Zu-hin, das Vorher und Nachher, wie immer man das Darlegen will, verlangt zwei Setzungsarten: Implikation und Apposition und eine Geltungsform des Sich-Wissens, das auf einen absoluten Geltungsgrund verweist.
Die historischen Anleihen in der Biologie, in der Kybernetik oder bei Begriffen der Logik, sie können historisch bei N. L erhoben werden, er deklariert dies überall klar und deutlich, aber deshalb sind diese „Quellen“ per se gerade nicht als Bild-Wahrheit legitimiert. Die beobachteten „Systeme“ Natur, Recht, Wirtschaft, Geschlecht, Religion, Kunst etc. diese „Systeme“ sind als soziologische Menge definiert und die Zuordnung wird durch einen Regelkreislauf, der autopoietisch oder selbstreferentiell abläuft, geregelt und gesteuert – aber wo bleibt das actuale Bilden dieses Regelkreislaufes und die in und durch Wahrheit begründete Übereinstimmung mit der „Realität“ (transzendental gesagt, Wirklichkeit) und die Begründung der Autopoesis und Selbstreferenz?
Der kybernetische Regelkreislauf mag form-intern verstanden werden, alles d‘accord, und ist in einem zweifachen Sinn unterscheidbar a) als eine interne maschinelle Repräsentation und b) als ein form- internen Informationsaustausch unter biologischen Systemen, aber generell wird in einer Mengenlehre oder in der formalen Anschauung der Mathematik ein sehr eingeschränkter Formbegriff verwendet, der auf die konkrete Wirklichkeit nur selten passt. (Eben z. B nur. für mathematische „problema“ oder technische Funktionslösungen. Aber sind damit praktische „problema“ beantwortet?)
Die Wirklichkeit wird reduziert auf einen a) Begriff von losen Elementen und „Systemen“ und b) auf einen Zuordnungsbegriff der Beobachtung und Kommunikation: Beobachtung von Wahrnehmung, Beobachtung der Rede dieser Wahrnehmung, und Beobachtung der Beobachtung dieser Rede. Dies ergibt eine immer höhere Zirkularität, aber keine transzendental-reflexive Zirkularität des Sich-Wissens, die sich aus sich begründen muss können.
Die Zirkularität zwischen wahrnehmbarer Systeme (der Menge der beobachteten Systeme) und die Zuordnung der Kommunikation zu diesen Systemen, die nochmals höherstellige Kommunikation zwischen den Systemen, das ist eine klassische petitio principii, die Erschleichung eines Begründungsprinzips. Empirie wird durch Empirie erklärt. Systemintern wird auf ein (anderes) System referiert, und systemextern gehört die ganze Wirklichkeit zu dieser beobachteten, blind vorausgesetzten Eigenschaft des Begriffes. Aber der Begriff selbst zu diesem System von Systemen, worin ist er begründet und gerechtfertigt? Was ist die Bedingung der Wissbarkeit dieses Begriffes? Dieser Formbegriff scheint mir nicht gerechtfertigt. Es ist ein seltsamer, leerer Form- oder Wesensbegriff der bloßen Möglichkeit, worin natürlich alles hineingepackt werden kann. Aus den losen Elementen der beschreibbaren Wirklichkeit (einer Menge von Systemen) entspringt aber gerade nicht die klassische, geistige Form, wie die Antike den Formbegriff verstanden hat.
Die Form des Denkens nach N. L. über die vielfältigen Bereiche der Wirklichkeit setzt im Grunde das Wesen der zu erkennenden Begriffe und Bereiche in interpersonaler Wirklichkeit schon voraus, sonst könnte N. L. ja gar nicht rational davon reden, deutet sie aber nach persönlichem Dafürhalten und reduziert sie zu einem funktionierenden, autopoietischen System unter möglichen anderen Systemen. Die Sinn-Bestimmung dieser Systeme und ihre inneren und äußeren Wechselwirkungen – wer und was bestimmt den „Sinn“ dahinter oder in diesen Systemen?
© Franz Strasser, 22. 2. 2017