1) Gemäß dem höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie kann nur von der Position der Einheit des Wissens ausgegangen werden. Diese Einheit ist „Mutter aller Differenz“, Einheit im Wechsel, „Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt“ (FICHTE, GRUNDLAGE, GA I, 2, 359). Es ist ein Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren (ebd., S 360) Die Einbildungskraft ist das Vermögen des Vereinens und Unterscheidens – und eigentlich sind die unvereinbaren Gegensätze vor dem Einsatz der Einbildungskraft nicht einmal als unvereinbare denkbar, denn Denken richtet sich bereits auf Vorgestelltes. Vorstellen und Vorgestelltes, Wollen und Gewolltes, Bild und Sein, Erscheinung und Absolutes, sind vor diesem Schweben nicht vorauszusetzen. „So wie sie durch das Denkvermögen vereinigt werden sollen, und nicht können, bekommen sie (erst) durch das Schweben des Gemüths, welches in dieser Funktion Einbildungskraft genennt wird, Realität (d. h. Geltung), weil sie dadurch anschaubar werden.“ (Ebd. S 368)
Genau das, was die Einbildungskraft denkend nicht vereinigen kann, wird als Anschauung exponiert. Die geltende, zutreffende Einbildungskraft erscheint als eine gegebene Einbildungskraft, und gerade diese ist anschaubar. „Anschauung ist also nichts anderes als eine unleugbar waltende, eine zutreffende Leistung der Einbildungskraft. Zutreffendes begegnet als „so ist es“, begegnet in der Gestalt des Gefundenen, ist gefunden.“ 1
Die Einheit des Wissens selbst verlangt natürlich für sich nochmals einer genetischen Erkenntnis und Evidenz – und ist von Fichte ab den WLn 1801/02 wiederholt dargestellt worden. In und durch die Geltungsform Ich wird der absolute Geltungsgrund expliziert, in Einheit wie Spaltung der apriorischen Wissensformen und apriorischen Anschauungsformen.
Deshalb kann nicht von einer „Evolution“ an sich die Rede sein, sondern durch das kritisch-theoretische wie selbstkritisch-praktische Wissen ist alles gesetzt.
In und aus der absoluten Einheit des Wissens ist eine Wechselbeziehung von Denken und Sein gesetzt – daraus leitet sich aller späterer Naturbegriff und Entwicklungsbegriff ab. Die Wechselbeziehung (Beziehung und Unterscheidung) ist für sich nicht absolut, wiewohl sie die höchste Kategorie des Verstandes ist, sondern geht hervor aus einer intelligierten Einheit.
Dies würde für sich natürlich jetzt genauere Ableitungen verlangen, aber darauf kann ich nur verweisen – siehe bei bei R. LAUTH, Naturlehre, 1984, S 31 ff.
Das Produkt der ursprĂĽnglich produzierenden Einbildungskraft wird durch reine Anschauungsformen (Vorformen der späteren Zeit- und Raumanschauungen) in die Anschauung (ebd. S 31- 33), ferner ins Denken durch die Verstandesformen von Qualität, Quantität, Relation und Modalität (ebd. S 34 – 47) aufgenommen, und schlieĂźlich nochmals durch Schematisierung praktisch bestimmt (ebd. S 47- 56). Â
Speziell fĂĽr den Bereich der Vorstellung einer objektiven AuĂźenwelt kommt es zur appositionellen Reihe der Zeitanschauung, (ebd. S 57 – 58) und der Verbreitung der Empfindung zu einer flächigen Anschauung mittels reflektierende Einbildungskraft (ebd. S 58 – 61) und schlieĂźlicher Raumanschauung (ebd. S 61 – 64).
Ist es einer sogenannten „Evolutionstheorie“ bewusst, sei es fĂĽr den anorganischen Bereich oder sei es fĂĽr den organischen und gesellschaftlichen Bereich, welche Denkleistungen in den wie selbstverständlichen Vorstellungen von sogenannten „Entwicklungen“ stecken? Welche „Darstellungskraft“ des Bewusstseins!2
Wenn im kleinsten Bereich des Mikrokosmus die Position eines Elektrons weder rational noch real positioniert werden kann, weil es durch den Akt des Bestimmens erst bestimmt wird, wie könnte die Zeit und der Raum ohne Reflexion auf den Akt des Bestimmens objektivistisch vorausgesetzt werden als gäbe es ein Werden und eine Evolution an sich? Eine „Evolution“ der anorganischen oder der organischen Welt des Lebens, der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie muss streng begrifflich unter AnfĂĽhrungszeichen stehen, denn sie erscheint nur so! Ich verweise hier auf zwei Aufsätze von A. MUES.3
Zeit und Raum sind hochkomplexe Gebilde der Einbildungskraft und des Denkens, sodass sie weder idealistisch an sich vorgestellt, oder realistisch an sich an Materie gebunden, einfachhin abgelesen werden könnten. Ein DEMOKRIT und LEUKIPP gingen von fixen Elementar- und Materieteilchen der Natur aus. Die Reduktion auf materialistische Verhältnisse oder materielle Disponibilitäten in der Natur sind in einem transzendentalphilosophischen Erklärungsmodell aber ausgeschlossen, wie das Young 2-Spalt-Experiment zeigt. Es geht um die Unmessbarkeit der Lozierung von Elektronen. Erst im Akt des Bestimmens (im Schweben der Einbildungskraft) werden sie festgelegt – und folgedessen kann erst von einer Messbarkeit ausgegangen werden. KANT hat diese Antinomien schon benannt – und auf seine Weise (halbherzig) gelöst. Es gibt antinomisch entweder nur Einfaches oder es gibt nur Teilbares.
Wenn gemäß dem Artikel von A. MUES nur in einer transzendentalphilosophischen Besinnung auf den Akt des Bestimmens quantenphysikalische Rätsel sich lösen lassen, bräuchte es keine weltanschaulichen Grabenkämpfe zwischen Materialismus und einer wie immer gearteten idealistisch-rationalistischen Form des Naturverständnisses – und viel Ideologie könnte aus der paradigmatisch den Ton angebenden „Evolutionstheorie“ herausgenommen werden. Dass das Elementarteilchen a) wechselwirkend bestimmt ist und einen Raum real ausfĂĽllend gedacht wird, oder dass es b) quantitativ nicht bestimmbar ist, nicht räumlich und nicht begrenzt, ĂĽberall und nirgends ist? Diese Antinomie kann nur transzendental, d. h. im RĂĽckgang auf die Bedingungen der Wissbarkeit gelöst werden.
Der antinomisch erscheinende Charakter der Materie, wobei Raum und Zeit einmal objektivistisch vorausgesetzt, dann wieder total relativistisch angesetzt werden, liegt nicht an den Elementarteilchen selbst, sondern ist als solcher transzendental abgeleitet: Er ist Folge der Kategorie der Wechselwirkung. Die Wechselwirkung wird notwendig im Akt des Bestimmens durch das Schweben der Einbildungskraft begrifflich gesetzt. Die Einbildungskraft ĂĽberträgt notwendig auf den Stoff, d. h. auf die sinnlich empfundene Hemmung und auf ein objektives Sein – und dies impliziert in weiterer Folge die zeitliche und räumliche Anschauungsformen des Stoffes/der Empfindung/der Materie, und, wenn man so will, die bedingte Vorstellungsweise (Erscheinungsweise) eines Werdens auf Grundlage einer unwandelbaren Einheit. Â
Die Wirkungsweise eines Elementarteilchens ist durch die Entscheidung, wie wir es wechselwirkend setzen, realistisch oder idealistisch–rational vorbestimmt. Wenn ich z. B. die Modalität meines existentiellen Erkennens dahin bestimme, dass ich mittels (aposteriorischer) Erfahrung AuskĂĽnfte erhalten will, so erhalte ich eine realistische Auskunft; wenn ich mich im Akt des Bestimmens dahingehend bestimme, die apriorische Denkmöglichkeit jetzt zu fassen ohne elementare Anschauungsbasis, so erhalte ich eine rationalistische Antwort. Wenn es aber keine objektiv feststellbare Position eines Elementarteilchens gibt, wie kann ich dann von einer realistisch vorgestellten Zeit- und Raumanschauung der Materie sprechen oder umgekehrt: von einer rationalistisch gedachten „Materie“ mittels Anschauungsformen und Kategorien? Wie könnte der Urknall in einer Zeit gesetzt sein, wenn mangels Materie, die ja vor dem Urknall noch nicht gewesen sein soll, Zeit und Raum realistisch nicht existiert haben können, oder umgekehrt, wie könnte „Materie“ bloĂź aus rationalistisch gedachter Zeit und rationalistisch gedachtem Raum entstanden sein?Â
2) Der transzendentalphilosophische Akt des Bestimmens kann nicht selbst zeitlich oder räumlich sein, weil die Anschauungsformen Empfindungsformen sind, gleichzeitig mit den Objekten des Denkens (hier z. B. mit den Elementarteilchen) vorgestellt werden. Wäre der Akt selbst zeitlich und räumlich, per impossibile dictum, könnte das Denken selber nichts begrifflich und verstandlich erfassen, weil der jeweilige Akt des Bestimmens im nächsten Augenblick selber zeitlich überholt und räumlich gefasst werden müsste. Zeit und Raum können nicht als Behälter vor der Materie existieren. Sie müssen von ihr unterschieden, können aber auch nicht getrennt von ihr gedacht werden, sollte es zu einem finalen Akt des Bestimmens und zu empirischen Empfindungen und Begriffen kommen.
Eine „Evolution“ von Materie und Weltall im Sinne eines zeitlichen objektivierten Werdens und eines räumlich objektivierten Ausgedehntseins vergisst die transzendentalen Wissensbedingungen und den hochkomplexen Aufbau des Zusammenspiels von Zeit/Raumanschauung und Materie in der unwandelbaren Wandelbarkeit des Bewusstseins.
Es wird realistisch oder idealistisch entweder eine zeitliche und räumliche  Materie realistisch voraus-gedacht, so, als wĂĽsste man im vorhinein, was ist die Substanz, was sind die wechselnden Akzidenzien in diesem Raum-Zeit-Geschehen von Weltall und Kosmos, oder es wird Zeit und Raum idealistisch von der Materie abgehoben und letztere bloĂź rational gedacht, als sei mit dem „Urknall“ des absoluten Anfangs die Materie selbst ins Leben getreten. Der „Urknall“ von Zeit und Raum schafft noch keine Materie und umgekehrt, dem „Ur“ muss ein zeitliches und räumliches Vorher einer Materie vorausgegangen sein, damit der Anfang als uranfänglich gedacht werden kann – wie er physikalisch gedacht werden möchte. Was „Anfang“ im Bewusstsein heiĂźt, das muss transzendental auflösbar sein, d. h. genetisch bestimmt werden.
Das durch den Verstand und das Denken schlussendlich abgeschlossene Erfassen von Zeit- und Raumanschauung – und damit denknotwendig verbunden die Materie (ein „Noumen“- EIGNE MEDITATIONEN) – fĂĽhrt uns immer wieder zurĂĽck auf den Akt des Bestimmens selbst, der weder realistisch noch idealistisch vorgegeben ist, sondern den Gebrauch einer Regel darstellt, wie das Schweben der Einbildungskraft aus höheren GrĂĽnden der freien Selbstbestimmung das reale Gesetz in ihr und die Hemmung/den AnstoĂź weiterbestimmt. 4
© Franz Strasser, 18.12. 2015
1A. MUES, Die Position der Anschauung im Wissen oder die Position der Anschauung in der Welt. Der Unsinn der Subjektphilosophie. In: Fichte-Studien, Bd. 31, 2007, S 32.
2„Discursiv- Was ist denn eigentlich, die reine Einbildungskraft? Das Subjekt bestimmt sein eignes Seyn in einem Accidens seiner selbst. Nur ist die Frage was heiĂźt bestimmen? – Das Subjekt ist thätig; es ist selbstständig: es hat also Kraft. – Das Subjekt ist (fĂĽr sich) vermöge seines Seyns: es ist sich selbst Ursache, u. Wirkung seines Seyns: – Dies geschieht durch ein Thätig seyn, dieses Thätig seyn ist Ursache des Seyns, von welchen es doch auch Wirkung ist; dieses Handlung heiĂźt (Darstellen) sich selbst als selbst im Daseyn setzen; u. Die Kraft: Darstellungskraft.“ (EIGNE MEDITATIONEN, GA II, 89 – 1793).
3A. MUES, Der Grund der Dualität der Materie und des Indeterminismus in der physikalischen Natur. Die Lösung des quantenphysikalischen Rätsels. In: Fichte-Studien, Bd. 6, S 277 – 302, 1994. A. MUES, der Grund der Dualität der Materie. 2. Teil. Der Wellencharakter. In: Fichte-Studien Bd. 22, 107 – 120, 2003.
4 Wie Zeit und Raum mit dem Übergang zur Materie wirklich abgeleitet werden können – dazu verweise ich wieder im Detail auf R. LAUTH, Naturlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1984, S 57ff.